Taschlich

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Rosch haSchana erlegt uns viele Mizwot auf, die wir gerne tun: Wir feiern mit Freunden und Gemeinde bei gutem Essen, hören Schofar, essen Tapuach bidwasch, Apfel mit Honig. Andere Sachen sind weniger populär, zum Beispiel der Fischkopf. Sogar eine Bracha dazu, schenifre wenirbe kedagim, dass wir wie ein Fisch fruchtbar sind und uns vermehren, überzeugt meistens nicht. Zu den Minhagim von Rosch haSchana gehört noch etwas weniger Populäres, wenn auch zu unrecht…

Von Rabbiner Dr. Tom Kučera

Es ist Taschlich, nach einer Unterrichtsantwort: die Sache am Fluss, bei der man Sünden ins Wasser mithilfe von Krümeln wirft. So einfach ist es aber nicht. Diese Beschreibung finde ich unglücklich, weil damit die wirkliche Bedeutung von Taschlich verzerrt wird.

Wenn mich in der jüdischen Tradition etwas unbehaglich macht, ist es wahrscheinlich Birkat haLewana, die Segnung des Mondes, die nach Neumond nach Ende von Schabbat draußen gemacht werden kann. Der Mond hat eine besondere Anziehungskraft im Judentum. Nach dem Mond wird das ganze praktische Leben, wie die Tefillotzeiten und alle Chagim inklusive Rosch haSchana, organisiert. Bei Birkat haLewana geht man in den feierlichen Schabbatkleidern nach draußen, steht gerade, erhebt die Blicke zum Mond und wiederholt dreimal einige Verse, z. B., so wie ich vor dir tanze und dich nicht erreiche, so mögen mich keine meiner Feinde erreichen. Als wir dies einmal während meines Studiums in Jeruschalajim machten, fragte ich mich, wo der Götzendienst anfängt. Dennoch sind uns allen aus dieser merkwürdigen Zeremonie Verse geblieben, die wir mit Freude auch in Beth Shalom singen: David melech Jissrael, chaj wekajam, genauso wie Siman tow umasl tow jehe lanu. Also, nichts ist so schlimm, dass es nicht in anderem Kontext kultiviert werden kann.

Wenn ich trotzdem wagen sollte, etwas von den jüdischen Bräuchen als primitiv zu bezeichnen, wären es die Kapparot, wenn ein Tag vor Jom Kippur ein Huhn als Symbol der Sühne mehrfach über dem Kopf eines Menschen im Kreis geschleudert wird, während einige Texte rezitiert werden. In München werden wir es eher nicht sehen, in New York und Israel durchaus. Dass sich Tierschützer aufregen, überrascht uns nicht. Dabei ist beachtenswert, dass selbst Josef Caro, der Autor von Schulchan aruch, für die Abschaffung dieses Brauches plädierte, aber sein aschkenasischer Pendant, Mosche Isserles, behauptete, der Brauch sollte unbedingt beibehalten werden. Dabei ist paradox, dass sich gerade der aschkenasische Oberrabbiner Israels, Israel Meir Lau, davon distanzierte. Dieses kleine Beispiel zeigt in aller Deutlichkeit, was Halacha auch sein kann: eine beeinflussbare Fluktuation in der Praxis, weniger dann der Wille Gottes.

Aber ich weiß, es ist immer höchst subjektiv, wenn etwas primitiv empfunden wird. Für den einen mag es die Motorradkultur sein, für den anderen das Sammeln von Barbie-Puppen, wieder für einen anderen die Kapparot.

Doch Taschlich ist etwas ganz anderes. Er wird das erste Mal im 14. Jahrhundert im „Buch der Bräuche” von Maharil, Rabbi Jaakow Lewi Molin aus Mainz (1365-1427), erwähnt. Der Autor bezieht sich auf den Midrasch zu der Tora-Lesung an Rosch haSchana: Als Avraham mit Jizchak zur Akejda zusammen zum Berg gehen, versucht der Widersacher, die beiden mit einem wilden Fluss daran zu hindern. Awraham und Jizchak bleibt nichts anderes übrig, als den Fluss zu überqueren. Die Lage wird gefährlich und Awraham ruft: Errette mich, Gott, denn Wasser wurde lebensbedrohlich (Ps 69:2). Es hat geholfen, und so begeben wir uns an Rosch haSchana zum Wasser. Unabhängig vom mythologischen Hintergrund lehrt uns der Midrasch die psychologische Überzeugung, dass wir jedes Hindernis auf unserem Weg überwinden können. Dazu die unentbehrliche Hoffnung, dass sich eine Lösung vor uns unerwartet auftun wird, wenn der Strom des Lebens bedrohlich erscheint. Das ist eine mächtige Motivation am Anfang des neuen jüdischen Jahres.

Wir haben in Beth Shalom unseren Minhag entwickelt, mit dessen Beschreibung ich jetzt teilweise Werbung für Taschlich mache, wissend, dass Werbungen meistens nicht gut ankommen. Darum beziehe ich mich auf die Hirnforschung, die zeigte, dass wir dank unserer Spiegelneuronen und anderen Netzwerken bei einer aktiven Vorstellung einer Tätigkeit die gleichen Hirnareale aktivieren wie bei der wirklichen Durchführung. Auch die aktive Beobachtung einer Tätigkeit bewirkt hirnphysiologisch ihre Alsob-Durchführung. Es geht so weit, dass man auf diese Weise eigenen Hunger wesentlich lindern kann, wenn wir uns Essensbilder anschauen und aktiv vorstellen. In diesem Sinne spreche ich heute von Taschlich. Wir beginnen an der Isar mit dem Bild einer Zielscheibe. Wenn wir die Mitte der Zielscheibe nicht treffen, mit welchem Mittel auch immer, haben wir das Ziel verfehlt. Das Verb „verfehlen” ist auf Hebräisch lichto, mit der Wurzel Chet-Tet-Alef, die das Substantiv Chet-Chataim, Sünde-Sünden ergibt. Aber dieses Wort müsste als die Verfehlung des Zieles verstanden werden. Den sprachlichen Beweis liefert z.B. ein Vers aus den Sprüchen, Mischlej (8:36), in dem die Weisheit als eine Person zu uns spricht und sagt: Wechoti chomes nafscho. Nicht der Sünder, sondern: Derjenige, der mich verfehlt, sagt die Weisheit, tut Gewalt seinem Leben.

Mit dem Ausdruck Sünder verliert sich das schöne Anliegen: Wenn du das Ziel der Weisheit verfehlst, bringst du dich in Bedrängnis. Nach dieser Erinnerung der Bedeutung von Chataim als Verfehlen der Zielscheiben unseres Lebens lesen wir die letzten drei Verse vom Propheten Micha, die den Ausruf an Gott enthalten: “Ja, du wirst in die Tiefen des Wassers alle Verfehlungen werfen.” Was ist die Übersetzung des Ausdrucks „du wirst werfen”? Taschlich. Im Gegensatz zum Vers machen wir das Werfen jedoch selbst, vorher sagen wir einige Psalmworte, die darauf hinweisen, dass es keine Freude ohne die vorherigen oder folgenden Tränen gibt. Am schönsten beschreibt es Hilde Domin in diesem Gedicht:

Die Freude
dieses bescheidenste Tier
dies sanfte Einhorn
[…]
wenn es Durst hat
leckt es die Tränen
von den Träumen

Am Taschlich singen wir die Psalmworte min hamezar karati, aus meinem Mezar rief ich. Dieses Wort bedeutet nach dem Wörterbuch Bedrängnis, Angst, Distress und zeigt auf die Bedeutung vom Taschlich als einem wichtigen Ritual.

Das Ritual ist meiner Ansicht nach eines der stärksten Ausdrucksmittel der Religion, zusätzlich, und – ich wage zu behaupten – unabhängig vom Glauben. Die Psychologie bezeichnet das Ritual als den Leim, der gesellschaftliche Gruppen zusammenhält; das gilt sowohl im Militär als auch in der Synagoge. Darum behauptete Sigmund Freud: Erzählt ist eingeordnet, ritualisiert ist weggenommen. Damit deutete er an, dass mit einem guten Ritual, mit einer effektiven Inszenierung, viel gemacht werden kann, um die innere Erleichterung von Mezar zu erreichen. Ein gutes Beispiel sind die Kinderängste vor Gespenstern, die sich in der Nacht über die Fenster einschleichen. Dagegen hilft, dass die Kinder vor dem Einschlafen das „Ritual” des Fensterbankeinschmierens machen, mit der Erklärung, dass die Gespenster dann gar keine Chance haben, weil sie sicherlich ausrutschen und ihr Bein brechen. Logisch ist es nicht, aber es hilft: Die meisten Kinder schlafen sorglos ein.

Bei Taschlich kommt nach der Anerkennung vom persönlichen Mezar, von unseren persönlichen Gespenstern, ein anderes Psalmwort (130), Mimaamakim, aus der Tiefe, rufe ich dich, keraticha. Auch diese Worte schaffen den Übergang von Rosch haSchana zu Jom Kippur. Das Geschehen ist aber paradox: Aus den Tiefen rufen wir, um die Tiefen zu verlassen und nach oben zu gelangen, gleichzeitig aber werfen wir etwas in die Tiefen des Wassers. Diese Spannung zweier gegensätzlicher Richtungen bearbeiten wir bei unserem Taschlich seit Jahren wie folgt: Peter Hertz bäckt eine Challa in der Form einer Leiter, die wir zum Wegwerfen nehmen. Die Stücke aus dieser Leiter-Challa sinken ins Wasser: Dabei hoffen wir, von unseren Bedrängnissen, der Angst und dem Disstress befreit zu werden und gleichzeitig auf einer Leiter hochzusteigen, die uns einen neuen Blick auf unseren Mezar schenkt. Damit wird angedeutet, dass mit dem Wegwerfen nicht alles Negative auf einmal verschwindet.

Taschlich ist kein Schwingen des Zauberstocks. Dennoch kann mir dieses Ritual Kraft und Motivation geben, mich vom Negativen teilweise zu trennen. Wir können es mit der Metakognition vergleichen, d. h. wenn ich mich selbst wie von außen betrachte, besonders bei einem negativen Gefühl. Es ist eine Koexistenz mit dem negativen Gefühl, bei dem ich versuche, es nicht in mir, sondern neben mir zu beobachten. Es ist da, aber ich beschäftige mich nicht damit. Ich schaue es fragend an, aber ich steige nicht hinein. Diese Metakognition ist überhaupt nicht einfach, kann gezielt geübt werden, zum Beispiel durch die regelmäßige Atemachtsamkeit, Hitbonenut haNeschima, aber bringt eine enorme Selbstkenntnis und eine wesentliche Erleichterung: Ich bin nicht das negative Gefühl, es definiert mich nicht. Taschlich in seiner rituellen Inszenierung lädt uns zur Einübung der Metakognition ein.

Aber auch Humor darf dabei sein. Manchmal lese ich einige Posten aus der witzigen Liste, die ich von einem Mitglied vor vielen Jahren auf Englisch bekam. Sie bestimmt, für welche Verfehlungen welche Art Gebäck benutzt werden soll: für gewöhnliche Sünden – Weißbrot, für besonders dunkle Sünden – Pumpernickel. Für komplexe Sünden – Multikorn, für verdrehte Sünden – Brezn. Für schlechte Laune – Sauerteig, für Stolz – Blätterteig. Andere Beispiele muss ich auf Englisch vorlesen: for silliness – nut bread, for not giving a full value – short bread, for trashing environement – dumplings, for racist attitudes – crackers, for overeating – stuffing, for bad jokes – corn bread.

Unmittelbar vor dem Werfen singen wir zusammen den Kanon Haschiwenu, der beim Schließen des Toraschrankes in der Synagoge gesungen wird, mit den Schlussworten: chadesch jamenu kekedem, erneuere unsere Tage wie vormals. Was kann es bedeuten? Die mentale Rückkehr zum Zeitpunkt, an dem es meinen Mezar – Bedrängnis, Angst, Distress – nicht gab. Diese Rückkehr ist auch sprachlich genommen schon die Teschuwa, die mit Rosch haSchana, nach allen Tefillot in der Synagoge am Nachmittag am Isarfluss anfängt – oder mithilfe unserer Spiegelneuronen schon jetzt angefangen hat. Dennoch hoffe ich, dass sich heute nach wie vor eine Gruppe für Taschlich entscheidet. Früher haben wir auf der Isartalstraße nur die Straße überquert, jetzt ist der längere Weg eine angenehme Möglichkeit, sich nach dem Essen zu bewegen und mit anderen Mitgliedern ins Gespräch zu kommen. Sicher haben Sie die Möglichkeit, Taschlich selbst an einer Wasserquelle durchzuführen, auch in der Woche nach Rosch haSchana.

Das bewegende Ende von Taschlich ist in unserem Beth-Shalom-Minhag das israelische Lied Al kol ele, mit dessen zwei Strophen ich auch ende:

Pass auf, mein Gott,
auf unser Haus und Garten,
behüte uns vor Traurigkeit,
plötzlicher Angst und Krieg.

Pass auf das Wenige auf, was ich habe,
auf das Licht, die Kinder,
auf die Früchte, die noch nicht
reif geworden und gesammelt sind.

Der Baum rasselt im Wind,
in der Ferne fällt ein Stern,
die Fragen meines Herzens dieser Stunde
werden jetzt aufgezeichnet.

Ich bitte dich, pass für mich auf alles auf,
auf diejenigen, die ich liebe,
auf die Stille, auf das Weinen
und auf dieses Lied.

Dr. Tom Kučera ist Rabbiner der Liberalen jüdischen Gemeinde Beth Shalom in München.

Bild oben: Taschlich in Ramat Gan, 2006, (c) Avishai Teicher, wikicommons