Etwas über jüdische Sprichwörter

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Zum Abschluss unserer Serie über jüdische Sprichwörter ein Beitrag von Thekla Skorra zum Thema. Die Lyrikerin, 1866 in Berlin geboren und 1943 nach Theresienstadt deportiert, wo sie im gleichen Jahr starb, vergleicht die Sprichwörter des jüdischen Volkes darin als „hart geschliffene Kiesel“, „keine Edelsteine, keine prunkenden Kostbarkeiten, die man in gesicherten Schränken zur Schau stellt: Weisheit der Gasse — Steine vom Wege“…

Etwas über jüdische Sprichwörter

Von Thekla Skorra
Ost und West, Heft 4, 1911

Wegsteine — „als der Knabe aus seines Vaters Haus wanderte, verstreute er bunte Kieselsteine den Wald entlang, dass er den Weg weder zurückfände, den er gezogen.“

Sprichwörter — die Sprichwörter unseres jüdischen Volkes, was sind sie anders, als solche scharf und hart geschliffene Kiesel, den Weg ihm zu bezeichnen.

Keine Edelsteine, keine prunkenden Kostbarkeiten, die man in gesicherten Schränken zur Schau stellt: Weisheit der Gasse — Steine vom Wege.

Und dieser Weg ist nicht glatt, reinlich und sonnig gewesen. Abermals und abermals haben Ungewitter sich darüber entladen, Fluten von Blut und Schlamm wälzten sich über ihn hinweg; wer will sich wundern, dass der Wanderer nicht immer reinlichen Fusses hindurchzog?

Müssen wir glücklicheren Enkel nicht viel mehr mit ehrfürchtigem Staunen vor dieser unverwüstlichen Kraft unseres Stammes stehn, der auch in den dunkelsten Zeiten noch Lebensmut genug aufbrachte, diese seine Wegsteine in den buntesten Farben schillern zu machen. Und was ihnen Licht und Farbe gegeben, ist ihre tapfere Selbsterkenntnis, ihr unverwüstlicher Humor.

Ein ehrliches Sichbekennen zu Grundsätzen, die vielleicht nicht immer in Einklang stehn mit den idealen Forderungen einer verfeinerten Moral; einer Moral, deren praktische Unaufrichtigkeit aber gerade der Jude täglich am eigenen Leib zu erfahren bekam.

Humor, ein glücklich sieghafter, der die Knüppel, die man ihm zwischen die Beine wirft, aufhebt, sich aus ihnen eine Leiter zu bauen, auf der er hinwegsteigen kann: über sein Geschick, über den Alltagströdcl — über sich selbst.

Nicht viele von diesen köstlichen kleinen Chochmes konnte ich bisher auflesen, denn der Weg unseres Volkes ist durch vieler Herren Länder gegangen, der meine nur durch Deutschland; und bei uns deutschen Juden zumal sind die Füsse der Enkel allzu oft beflissen gewesen, die Satiren der Väter von ihrem Wege zu tilgen.

Hier ein paar dieser Sprichwörter, ohne jedes Schema, wahllos, wie sie mir zu flogen, in buntem Durcheinander hergestcllt:

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„Was tut me mit’m Narr am Schabbes ?“

In der Woche, im stumpfsinnigen Tagewerk und Frondienst mag auch der Einfältige, geistig gering Begabte seinen Platz halbwegs ausfüllen, zu irgendeiner Arbeit brauchbar sein. Aber am Sabbat, dem Tag, der nur der Beschäftigung mit ideellen Dingen, der Einkehr in eine höhere, eine Geisteswelt gewidmet ist: was soll da der arme Narr anfangen, der gar kein Geistesleben hat!

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„Wenn zwei sagen schicker (trunken), soll me sich legen‘ ins Bett.“

Andere beurteilen deinen Zustand oft richtiger, als du selbst. Dann sei nicht unbelehrbar. Deine Trunkenheit hindert dich, ihrer bewusst zu werden: wenn aber einer nach dem andern sie bemerkt: geh’ hin und schlafe deinen Rausch aus. Gilt doch der Menge stets Nüchternheit erstrebenswerter, als der glückseligste Rausch.

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„Wonn du Chaser (Schwein) frisst, muss dir’s über’n Bart laufen.“

Will sagen: Wenn du schon etwas Böses, etwas Verbotenes tust, aus unbezwinglicher Begier, sei wenigstens nicht zaghaft. Für einen Bösewicht wird man dich sowieso halten, und deine Strafe dafür wird nicht Ausbleiben: habe wenigstens zuvor den vollen Genuss. In der Tat ist wohl jedem gesunden Empfinden ein kecker, übermütiger Sünder lieber, als die feigen und heuchlerischen.

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„Me soll nie auf’n neuen Melach (König) beten.‘‘

Denn der alte mag schon seine Fehler haben, die die jüdischen Untertanen oft empfindlich spüren mochten: ob aber der neue besser sein wird ? Wieviel hundertmal im Lauf der Geschichte mögen schwere Enttäuschungen an einem sehnsüchtig erhofften Tronfolger die Juden diese Weisheit gelehrt haben!

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„Wer nich hält auf de Mespoche (Familien), an dem is kein Broche (Segen).“

Aus dem patriarchalischen, dem Leben der Erzväter und ihrer Söhne, der zwölf Stämme, hat sich ja das ganze jüdische Volk entwickelt, so war das Familienleben die Wurzel seiner Kraft, dem die wichtigsten Sitten und Gebräuche entstammten. Jeder Hausvater konnte seine Tochter trauen, jeder Mann sich von seiner Ehefrau scheiden: kraft ihres Familienrechts allein, ohne dass ein Priester die Hand im Spiele haben brauchte.

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„’N Patsch steck’ dir in de Tasch’ und hol’n raus, wenn er sich passt.“

Eine recht opportunistische Klugheit, die entgegen der ursprünglichen jüdischen Ethik, einer Art von Sklavenmoral entspringt, zu der jahrtausendlange Bedrängnis unser Volk korrumpiert hatte. Die Unterjochten, leider machtlos, eine Unbill sofort auf gebührende Art zu vergelten, mussten zu einer kleinlichen, gelegentlichen Bache ihre Zuflucht nehmen.

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„Es wird kommen e Jüdche un wird sich auskriegen mei Kriegche.“

Dem vorigen sehr ähnlich, nur ethisch höher, weil es daneben den Zusammenhang des ganzen Volkes Israel betont: Wenn ich auch heute nicht zu siegen vermag, es wird schon einmal irgendeiner meines Stammes meine Sache weiterführen.
Diesen Zusammenhang rühmt noch einmal kurz das Wort:
„Kol jesroel chaveirim.“
Das ganze Volk Israel ist sich freund.

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Das Gleiche vom engeren Kreis dor Familie sagt sehr hübsch:
„Bind’ mir alle Viere un werf mich unter de Meinen.“

Was ihr mir draussen auch Böses antun mögt, daheim, die Meinen werden’s schon wieder gut machen an mir. Und wenn ihr mir Hände und Füsse bindet, ich habe keine Sorge, sie werden mich schon lösen.

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„Ungebet’ne Krauwen, setzt me hinter’n Auwen.“

Entspricht völlig dem bekannten deutschen Sprichwort: „Ungebet’ne Gäste gehören unter’n Tisch.“ Uebrigens für die Gastfreundschaft beider Völker wenig rühmlich; doch hat erfreulicherweise das Volk hier wie dort selten danach gehandelt. Bei uns Juden zumal konnte wohl jeder Bedürftige, Verfolgte, der sich an den Tisch eines Glaubensgenossen flüchtete, sicher sein, dass er dort gespeist und getränkt und geschützt wurde. Das Wort will auch wohl mehr den einzelnen vor Aufdringlichkeit warnen.

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„Das schönste Kind im Cheder (Schule) is mein.“

Wenn du eine Mutter fragst, welches unter den Kindern dort ist deins? sie hat keine andere Beschreibung für ihr Kind, als „das schönste, das allerschönste“.

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„As man der gebbt, nemm; as me der nemmt, schrei!“

Ohne weiteres verständlich.

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„Von e Schnorrer (Armer) sollste nich borgen un e miesse Mod (Mödchen) darfste nich küssen.“

Der Reiche, von dem du borgst, wird gar kein Aufhebens machen, denn es ist ihm etwas Alltägliches: ebenso wie das hübsche Mädchen gewohnt ist, dass man sie küsst. Der Schnorrer aber wird damit grosstun, und das hässliche Mädchen mit dem seltenen Triumph prahlen.

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„De ganze Chasne (Hochzeit) kei bös Wort!“

Wie lange wird dies Ehepaar sich vertragen? Die ganze Hochzeit über sicher. Ob nachher ?! Darüber schweigt der Chronist. Gilt auch von einem, der mit etwas Selbstverständlichem prahlt.

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„Besinnt sich der Chochem (Kluge), besinnt sich der Narr.“

Der andere war gutmütig und unerfahren genug, dir einen recht vorteilhaften Vorschlag zu machen: du aber willst recht überklug sein und besinnst dich noch, darauf einzugehn: nun, inzwischen wird dem guten Narren seine Güte auch leid sein.

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„Nemm der nischt vor, schlogt der nischt fehl.“

Wer einen Plan hegt, muss auch darauf gefasst sein, dass er fehlschlagen kann.

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„Wenn Gott will, geht e Steckelche (Stöckchen) los.“

Eins der rührendsten Momente in der Geschichte jüdischen Verfolgtwerdens: dies unwandelbare Vertrauen auf die Allmacht Gottes. Und wenn unsere Feinde mit Kugeln auf uns schlossen, und wir haben nichts zur Verteidigung, als ein Stöckchen: nun, unser Gott wird ein Wunder tun und das Stöckchen zur Schusswaffe werden lassen.

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„Kommst du schon wieder Luluf (Palmzweig) schuckeln?“

Es ist doch nicht das ganze Jahr Laubhüttenfest. Was hast du heute für eine Ausrede ? Wenn einer unter religiösem Vorwand allerlei andere, weniger lautere Absichten verfolgt.

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„Ein Kelef (Hund) beisst ’n andern nich.“

Entspricht dein deutschen „Eine Krähe hackt der andern die Augen nicht aus“

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„Achile (Essen) is e wicht’ge Tefile (Pflicht).“

Uebertreibe auch das Geistige nicht; dass du isst und trinkst und deinen Körper gesund erhältst, ist auch zum Leben nötig. Hört man nicht ordentlich die geplagte Ehefrau eines allzu eifrigen Talmudjuden, der den ganzen Tag überm Lernen sass, diese Weisheit predigen?

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„Wie de Kalle (braucht) ’s Ponim (Gesicht) hat.“

Je nachdem werd‘ ich mich auch mit der Mitgift zufrieden geben. Ist, was du mir anbietest, an sich schon verlockend, hast du nicht nötig, auch noch viel Unkosten darauf zu legen.

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„Wenn de Rabbonim wandern, regnet’s.“

Das ganze Jahr, beim schönsten Sonnenschein sitzen die Rabbonim daheim über den Büchern; sind sie aber mal genötigt, auf die Wanderschaft zu gehen, wird voraussichtlich schlechtes Wetter werden. Das Wetter richtet sich eben nicht nach dir, du musst dich schon nach dem Wetter richten.

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„E gewanderter Narr is besser, wie e heimischem Cochim (Kluger).“

Auch der von Natur klügste Mensch wird einseitig und engherzig in seinem Urteil, wenn er nie über sein Heimatörtchen hinauskommt. Umherwandcrn in der Welt macht selbst dem Einfältigen Kopf und Herz hell, dass er Menschen und Dinge richtig schätzen lernt.

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„Tut mer gutt rein, nemmt mer gut raus.“

Ein Spruch, den wohl auch die Hausfrauen erfunden haben. Wer an den Zutaten spart, wird niemals ein schmackhaftes Essen bereiten. Die Männer sollten sich da in der Sozialpolitik zunutze machen.

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„Purim is kein Jontef, Gedoches (Fieber) is kei Kränk (Krankheit).“

Soll bedeuten: Spiel dich nicht auf, übertreibe nicht! Purim ist noch keiner von den hohen Festtagen, die das Gesetz unbedingt geheiligt hat. Und wenn du ein wenig fieberst, brauchst du mich nicht gleich zum Arzt schicken.

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„Matschek, bleib‘ beim Wagen, dass de Deichsel ’s Pferd nischt beisst.“

In ähnlichem Sinne, wie das vorige. Tu dich nicht so wichtig mit deinen Geschäften! Hast wohl weiter nichts zu tun. als auf Dinge acht zu geben, die gar keine Gefahr bringen können ?

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„Matschek hat noch kein Wogen un Chumme hat noch kein Pferd, un nehmen schon Passagiere.“

Mokiert sich über voreiliges Getue. Matschek scheint wohl einmal in der Provinz Posen ein recht populärer Fuhrmann gewesen zu sein, denn noch mehrere Sprichwörter beschäftigen sich dort mit ihm.

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„Alle Tag schicker (trunken) un Purim nüchtern.“

Geht auf einen Menschen, der alles zur Unzeit tut. Wenn alle andern arbeiten, ist er betrunken. Und gerade an Purim, wo’s die hergebrachte Sitte verlangt, übermütig und trunken zu sein, steht er still und nüchtern da.

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„Me will’s Hühnche schächten un em nich weh tun.“

Entspricht ungefähr dem deutschen „Wasch‘ mir den Pelz, aber mach‘ mir ihn nicht nass“. Vielleicht aber auch: die Tat möchtest du wohl, aber das Schmerzliche, das für dich und andere mit ihrer Ausführung verbunden, das willst du nicht auf dich nehmen.

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„Um e Hühnche, um e Hühnche is’s Besmedresch (Talmudschule) abgebrannt.“

Kleine Ursachen, grosse Wirkungen. Um ein Hühnchen, um ein Hühnchen stritten sie bei irgendeiner Ritualfrage in der Talmudschule. Einer kam in seinem Eifer den brennenden Lichtern zu nahe; niemand achtete darauf, bis das ganze Haus in Flammen stand.

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„Ich bin Gott schuldig de Neschume (Seele), aber ich hab‘ drof mei Weib.“

Entstammt wohl einem jüdischen Sokrates; nicht gerade seiner überwältigenden Weisheit, wegen, sondern — weil’s vermutlich auf eine Xantippe gemünzt ist: Alles bin ich Gott schuldig, sogar meine Seele. Mein Debet ist gross bei ihm; aber dass ich mein Weib habe — das ist mein Kredit, darauf ist er mir noch schuldig!
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„Von Pernosse (Profit) wegen, tanz‘ ich chotschik (sogar) mit Matschek-leben.“

Schon wieder der berühmte Matschek. Und wir erfahren nun auch von ihm, dass er wohl, wie viele Fuhrleute, ein recht plumper, tolpatschiger Geselle war, der zu allem andern eher, als zum Tanzen taugte. Doch was tut’s? Wenn der Nutzen es erheischt, verbrüdere ich mich sogar mit ihm einmal. Ethisch allerdings wenig vornehm gedacht. Vielleicht aller handeln auch Nichtjuden manchmal danach; der Unterschied ist nur — sie sagen’s nicht.

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„Vor goischkesche (christliche) Händ‘ un vor jüdischer Köpp soll Gott schützen.“

Körperkraft — nein! Die ist uns leider verloren gegangen in vierhundertjähriger Ghettoenge. Da tut jeder Bauer es uns zuvor. Seine Hände fürchten wir. Aller lasst’s nur auf den Kopf ankommen ! Wo unser Verstand uns herausreissen kann — nehmt euch in acht!

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„Wenn der Goi (Christ) baut ’n Haus, Un der Jüd gibt e Tochter aus: Müss’n se beid‘ aus’m Hauptbuch raus.“

Was dem deutschen Bürger am meisten am Heizen liegt, ist das Aeussere seines Heims, die Behaglichkeit und Bequemlichkeit darin. Und fängt er gar an, sich sein eigenes Haus zu bauen, baut er oft sein ganzes Vermögen hinein. Dem jüdischen Familienvater stehn seine Kinder am höchsten. Um eine Tochter gut zu verheiraten, gibt auch er sich oft über seine Kräfte aus. Solche Kunden aber kann der Kaufmann nicht brauchen. Für beide ist Kredit bei ihm nicht mehr zu haben.

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„E Chammer (Dummkopf) kann nich fromm sein.“

Das Gesetz richtig zu erfassen, dazu gehört Verstand. Ein Dummer wird immer daneben tappen und beim besten Willen die Gebote der Religion verkehrt ausführen. Der Kultus des Verstandes! Einer der fundamentalsten Gegensätze zum Christentum, das ganz auf den Kultus des Herzens aufgebaut ist.

Nun noch zwei Sprichwörter, in denen die Chochme gegen sich selber losgeht:

„Seitem die Chochme aufgekommen, schickt ma alles uf de Narrischkeit.“

Seitdem die Menschen klug geworden sind, schieben sie alles Unheil der Torheit in die Schuhe.

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Und das zweite:
„Was tu ich mit de Chochme, wenn de Narrischkeit gilt?“

Was hilft mir all meine Klugheit, wenn Torheit Trumph ist und allgemein anerkannt wird ?

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Ein paar wohl allgemein bekannte Redensarten noch der Vollständigkeit halber:

„Alle jüdische Kinder gesagt!“

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„Wer mer Gutt’s ginnt!“ (Gutes gönnt.)

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„Bis 100 Jahr‘ zu gesund.“

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„E Chapp (Griff) un e Lauf.“
Ein Griff und weg ist er!

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„Jeder Kuck e Million.“
Im Hause eines sehr reichen Mannes. Wohin der Blick fällt, überall Kostbarkeiten.

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Ein Wortspiel:
„E Chilif (Wechsel) is e Chalef (Messer).“

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Und zum Schluss eine Scherzfrage:
„Bin ich denn e Vogel, dass ich kann sein auf zwei Stellen zugleich?“