Vor 90 Jahren starb Victor L. Berger

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Eine Erinnerung an den ersten sozialistischen Kongressabgeordneten in den USA…

Von Armin Pfahl-Traughber

Am 7. August 1929, also heute vor 90 Jahren, kam es in Milwaukee, Wisconsin zu einem schweren Verkehrsunfall. Dabei starb Victor Luitpold Berger. Der 1860 in eine jüdische Familie aus Siebenbürgen hereingeborene Sohn ist heute weitgehend vergessen. Dabei handelte es sich durchaus um eine beeindruckende historische Persönlichkeit. Berger war nicht nur ein Gründungsmitglied der Social Democratic Party of America, er war auch der erste sozialistische Kongressabgeordnete in den USA überhaupt. Dies macht Berger auch heute noch zu einer wichtigen Figur. Mehrmals wurde er in das Amt gewählt, ebenso regelmäßig wurde es ihm rechtswidrig verweigert. All dies hätte eigentlich eine größere Beachtung für ihn auslösen können. Doch gibt es zu Berger nur ein einziges Buch und eine Promotion, in englischer Sprache versteht sich. Deutschsprachige Darstellungen zu seiner Person findet man gar nicht, sieht man von seinerzeitigen kurzen Meldungen über seinen Tod ab. Daher sei hier ein kurzer Blick auf sein Leben und Wirken geworfen.

Wie bereits erwähnt kam Berger 1860, am 28. Februar, in Nieder-Rebach, was zu Siebenbürgen im damaligen Österreich-Ungarn gehörte, zur Welt. Seine jüdische Familie schickte ihn aufs Gymnasium und danach zum Studium an die Universität in Budapest sowie danach in Wien. Mit seinen Eltern Ignatz und Julia wanderte er 1878 in die USA aus. Zunächst wohnte man in Bridgeport, Conneticut, 1881 siedelte Berger nach Milwaukee, Wisconsin über. Dort lebten viele Deutschamerikaner, und es gab eine aktive Arbeiterbewegung. Berger trat der Socialist Labor Party bei und gab fortan zwei deutschsprachige Zeitungen heraus. Später kamen neben dem Vorwärts und Die Wahrheit noch die englischsprachigen Social Democratic Herald und der Milwaukee Leader hinzu. Außerdem arbeitete Berger als Deutschlehrer an einer Schule. Ansonsten engagierte er sich insbesondere für die aufkommende sozialistische Bewegung und versuchte insbesondere Arbeiter für das Milwaukee Federated Trade Council zu gewinnen.

Eugene V. Debs, damals Gewerkschaftsführer, später Präsidentschaftskandidat, soll ihn für den Sozialismus gewonnen haben. 1898 war Berger ein Gründungsmitglied der Social Democratic Party of America und 1901 von deren Nachfolgeorganisation der Socialist Party of America. Er gehörte jeweils zur Führung beider Parteien und von daher kam ihm auch große Bedeutung für deren Entwicklung zu. Seine geringe Bekanntheit damals wie heute erklärt sich wohl mit dadurch, dass Berger kein charismatischer Redner war. Dies entsprach nicht seiner Persönlichkeit. Er wirkte eher als Autor vom Schreibtisch aus oder als Organisator der Parteientwicklung. Auch scheint Berger ein eigenwilliger Mensch gewesen zu sein, ging er doch mit abweichenden Auffassungen selbst in seinem politischen Umfeld nicht unbedingt besonders tolerant um. Die größte Bedeutung hatte Berger indessen in der Publizistik, einerseits durch die Herausgabe der erwähnten Zeitungen, andererseits durch die dort gedruckten eigenen Kommentare zu den unterschiedlichsten politischen Themen.

Einige dieser zahlreichen Artikel erschienen 1912 in dem Sammelband Broadsides, worin fast 50 meist nur zwischen vier und fünf Seiten lange Texte enthalten sind. Sie wurden zwischen 1903 und 1911 geschrieben und geben einen Eindruck von seinem politischen Selbstverständnis. Berger hinterließ somit weder einen Grundlagentext noch ein Hauptwerk zu seinem Sozialismusverständnis. Dieses kann aber aus den erwähnten Artikeln abgeleitet werden. Demnach verstand er sich durchaus als Marxist, aber nicht in einem dogmatischen Sinne. Man findet sogar einige kritische Anmerkungen, wenn auch nur zaghaft formuliert. Berger konstatierte demnach sehr wohl Fehleinschätzungen von Marx und wies auch zurückhaltend auf Widersprüche hin. Gleichwohl ging er davon aus, dass der Kapitalismus zugunsten des Sozialismus überwunden werden müsse. Letzterer war für ihn die nächste Stufe und damit ein Ziel der Zivilisation. Berger machte dabei aber deutlich, dass man dahin mit einer Evolution in Schritten und nicht durch eine Revolution als Umbruch komme.

Gleichwohl sah er das damalige politische System der USA als verwerflich an. In ihm seien die Democrats wie Republicans zu sehr an den Trusts in der Wirtschaft orientiert. Demgegenüber bedürfe es einer echten Demokratie, welche auch im ökonomischen und nicht nur im politischen Leben präsent sein solle. In der Möglichkeit von Referenden bestünden Schritte dorthin. Beachtlich bei den Artikeln in Broadsides ist aus heutiger Sicht, dass Berger sich bereits damals klar von den diktatorischen Konsequenzen des späteren „real existierenden Sozialismus“ distanzierte. Für ihn bedurfte es einer gesellschaftlichen Mehrheit, um zum erwünschten Ziel zu kommen. Es solle um eine Evolution, nicht um eine Revolution gehen. Und Berger betonte auch die Differenzen von Kommunisten und Sozialisten, wollten doch die Erstgenannten den Privatbesitz gänzlich abschaffen, während dies bei den Letztgenannten nur für die Produktionsmittel gelten solle. Berger meinte gar, Marx sei nur früh ein Kommunist gewesen, später aber ein Sozialist geworden. 

Wer sich angesichts derartiger Auffassungen an Eduard Bernsteins „Revisionismus“ erinnert fühlt, liegt durchaus richtig, auch wenn in den Broadsides-Texten dieser Name nicht vorkommt. Berger berief sich indessen sehr wohl auf Bernstein und wurde nicht zufällig der American Bernstein genannt. Insofern stand er wie dieser zwar einerseits für einen Bruch mit dem Kapitalismus, andererseits aber ebenso für einen Reformweg hin zum Sozialismus. Gleichwohl machte diese Auffassung Berger damals mehr als nur politisch verdächtig, was sich dann in der Folge seiner Kandidaturen für den Kongress zeigte. 1904 kandidierte Berger erstmals noch erfolglos für ein solches Amt, 1910 erhielt er dann den Sitz als erster Sozialist in der US-Geschichte. Aber als einzelner Abgeordneter konnte Berger wenig ausrichten, Forderungen im sozioökonomischen Kontext erhielten keine Mehrheiten. Mehr Erfolg war ihm mit seinem Pensionsgesetz-Projekt beschieden. 1912, 1914 und 1916 kandidierte Berger erneut, wurde dann aber doch nicht mehr gewählt.

Indessen engagierte er sich weiterhin politisch und protestierte etwa gegen den Kriegseintritt der USA 1917. Gerade als deutschstämmigem Bürger wurde Berger mangelnde Loyalität vorgeworfen und aufgrund des Espionage Acts verurteilte man ihn 1919 zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit. Bereits zuvor hatte Berger erneut für den Kongress kandidiert und war diesmal gewählt worden. Als er sein Amt indessen antreten wollte, wurde ihm dies als Verurteiltem verweigert. Gleichzeitig lief noch ein Berufungsverfahren, das 1921 aus formalen Gründen zu seinen Gunsten endete. Demgegenüber blieb es bei der Entscheidung des Kongresses, wonach Berger den Sitz nicht einnehmen durfte und für diesen eine Sonderwahl anberaumt wurde. Er kandidierte erneut siegreich für das Amt, konnte es aber wiederum erneut rechtswidrig nicht antreten. 1920 siegte dann der Kandidat der Republicans, aber danach gelangen wieder Berger Erfolge und zwar 1922, 1924 und 1926. 1928 gab es dann erneut eine Niederlage und 1929 starb er dann bei dem einleitend erwähnten Verkehrsunfall.

Heute wird an Berger gelegentlich in den Medien erinnert, weil er eben der erste sozialistische Kongressabgeordnete der USA war. Danach gelang dies nur noch 1914 Meyer London und dann erst wieder 2018 Alexandria Ocasio-Cortez und Rashida Tlaib, die beide von den Democratic Socialists of America kommen und für die Democrats ins Repräsentantenhaus einzogen (und mitunter – dies sei hier nur kurz erwähnt – absonderliche israelfeindliche Positionen vertreten). Berger ist aber nicht nur in diesem besonderen historischen Kontext interessant. Beachtenswert sind auch seine Auffassungen, die ihn zu einem American Bernstein machten. Dabei ging eine antikapitalistische Grundposition mit einem politischen Realismus einher, welcher Sozialisten nicht nur in den USA häufig fehlt. Darüber hinaus ist er als Akteur in einer sozialen Bewegung interessant, stellte er doch auf Bündnisse von Gewerkschaften, Partei und Zeitungen ab. Außerdem erinnerte Berger daran, dass Demokratie und Evolution und nicht nur Diktatur und Revolution zum Sozialismus gehören.

Literatur:

Berger, Victor L.. Broadsides. Essays from the First Socialist Party Member to be Elected to the US Congress, St. Petersburg, Florida, o. J. (Ausgabe mit den Texten von 1912).
Miller, Sally M.: Victor Berger and the Promise of Constructive Socialism, Westport, CT 1973.
Muzik, Edward J.: Victor L. Berger, A Biography, Ph.D. diss, unveröffentlichte Doktorarbeit, Northwestern University, Evanston, Illinois 1960.
Ross, Jack: The Socialist Party of America. A Complete History, Lincoln 2015.

Bild: United States Library of Congress’s Prints and Photographs division, digital ID hec.16979