Melbourne und Mameloschn

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Die australische Metropole war einst ein Zentrum des Jiddischen…

Von Jim G. Tobias

„Sie schlendern in Gruppen, mit suchendem Blick, die Drummond Street hinunter, gekleidet in neuen Anzügen, die nach Mottenkugeln riechen und auf denen die zahlreichen Falten belegen, dass sie erst kürzlich aus den Koffern ausgepackt wurden.“ Die Menschen begrüßen sich gegenseitig mit Scholem Alejchem, fragen einander, wie man den Lebensunterhalt bestreitet und scherzen über die Goldene Medine, Australien. „Während dessen blicken misstrauische Augen aus den Türspalten auf die Neuankömmlinge und überall ist das geflüsterte Wort ,Juden‘ zu hören.“ So beschreibt der Schriftsteller und Journalist Pinchas Goldhar die Atmosphäre im Melbourner Suburb Carlton in den 1920er Jahren; er war 1928 nach einer langen Schiffsreise dort angekommen und gab bereits drei Jahre später mit dem Ojstraljer Lebn die erste jiddische Zeitung in Australien heraus. Zu dieser Zeit hatte sich der Melbourner Vorort Carlton zu einer osteuropäischen jüdischen Enklave entwickelt. Emigranten aus Polen, Litauen und Russland lebten und arbeiteten hier – ihre gemeinsame Sprache war Jiddisch. Eine Sprache, die nicht einem Land zuzuordnen ist, sondern einem Volk und einer Kultur.

Titelblatt der ersten jiddischen Zeitung in Australien.

Schon zum Anfang des 19. Jahrhunderts hatten sich vereinzelt Juden in Melbourne angesiedelt – die erste jüdische Gemeinde gründete sich in den 1840er Jahren. Zwischen 1850 und 1880 lockte der große Goldrausch zahlreiche – auch jüdische – Abenteurer aus Europa auf den fünften Kontinent. Ähnlich wie in den USA registrierten die australischen Einwanderungsbehörden gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zudem einen großen Zuzug von jiddischsprachigen Juden aus Osteuropa, die vor Diskriminierung und Verfolgung aus ihren Heimatländern flohen. 

Die erste koschere Metzgerei in Carlton (1929): „Koscher. Unter di Ojfsicht fun Bet Din und di Schechita Board“. Foto: Australian Jewish Herald (Public Domain)

Ab den 1920er Jahren folgte eine große Kettenmigration: Freunde und Verwandte zogen nach. In Melbourne entstand somit ein neues „Jiddischland“, ein Schtetel am anderen Ende der Welt. „Statt Kleider packte mein Vater jiddische Bücher ein“, berichtet Arnold Zable, dessen Eltern aus Polen stammten. „Darunter Klassiker wie Tolstoi, gebundene Ausgaben der Ilustrirte Woch und Exemplare der Literarische Bleter“, einem führenden Bücherjournal aus dem Polen der Zwischenkriegszeit.

Das bereits im Jahre 1911 gegründete Zentrum „Kadimah“ wurde schnell zum kulturellen und sozialen Mittelpunkt der jiddischsprachigen Gemeinschaft in Carlton. Lesungen, Theatervorführungen, politische und gesellschaftliche Veranstaltungen, wie Bälle und andere Feiern, fanden hier statt. Einer der Höhepunkte war sicher der Aufritt des berühmten jiddischen Dichters und Dramatikers Peretz Hirschbein, der 1921 während einer Australienreise im Kadimah-Theater mehrere Lesungen und Vorträge abhielt. „Ich wurde vom Zug direkt in die Bibliothek und den großen Hörsaal gebracht“, schrieb Hirschbein im OistraliszJidiszer Almanach. „Moderne Bücher in Jiddisch, Hebräisch, Jiddische Zeitungen, aus allen Ecken der Welt. Die Sprache ist lebendig, die Fragen waren auch lebendig, von Belang, aktuell und sie waren eng mit dem jüdischen Leben auf der ganzen Welt verbunden“, freute sich Hirschbein.

Mitglieder der „Kadimah“ beim jährlichen Picnic-Ausflug ins Umland (1938), Foto: Museums Victoria Collections (Public Domain)

In Carlton lebten Anfang des 1930er Jahre knapp 3.000 Juden, eine relativ kleine jüdische Gemeinschaft, die jedoch „einem jiddischen Schtetel so nahe, wie sonst keiner vergleichbaren australisch-jüdischen Community kam“, berichtet David Burstin, der seine Jugenderinnerungen im Rahmen eines Zeitzeugenprojekts aufgeschrieben hat und sich kaum an „jüdische Erwachsene erinnern kann, die eine andere Sprache als Jiddisch sprachen“. Zudem gab es koschere Metzgereien, jüdische Bäckereien, Cafés und ausreichend Läden, in denen man alle Güter des täglichen Bedarfs kaufen konnte. Daneben wurden Schulen und andere Bildungseinrichtungen eröffnet. 1935 nahm die „Isaac Leib Peretz Yidish Sunday and Afternoon School“ im Gebäude der Kadimah ihren Betrieb auf, 1946 folgte eine Filiale im Suburb St. Kila, die „Sholem Aleichem Sunday School“. Melbournes Jiddischland blühte auf und erweiterte sich: Nicht nur in der Drummond Street in Carlton, sondern auch in St. Kilda, etwa im Scheherezade Café, bei den Standbesitzern auf dem Victoria Market, sowie in vielen Synagogen und Gebetshäusern las man jiddische Zeitungen und diskutierte in Mameloschn die politische Weltlage. Dies geschah insbesondere bei den sogenannten Landsmannschaften, Zusammenschlüsse von Immigranten, die aus der gleichen Stadt oder Region stammten. Eine der ersten dieser Vereine war das Bialystoker Centre, das schon 1928 seine Türen öffnete, weitere wie etwa die Warschauer oder die Radomer Landsmannschaften folgten. Mit dem Zustrom von jüdischen Flüchtlingen und Shoa-Überlebenden in den 1940er und 1950er Jahren errichteten diese Gruppierungen auch temporäre Unterkünfte, eigene Pensionen und Gästehäuser für die Neueinwanderer.

Doch diese goldenen Zeiten gehören längst der Vergangenheit an. Während in den 1960er Jahren rund 4.000 Leser die jiddische Ausgabe der Australian Jewish News abonniert hatten, 300 Kinder in der jiddischen Schule angemeldet waren und Tausende das jiddische Theater besuchten, ging die Anzahl derjenigen, die in Melbourne Mameloschn sprachen, kontinuierlich zurück. Eine Umfrage zu Beginn der 1990er Jahre ergab, dass „der Anteil der Personen, der normalerweise zu Hause Jiddisch sprach, um die Hälfte geschrumpft war. Nur elf Prozent der Befragten gaben an, dass sie Jiddisch sehr gut sprachen, 10 Prozent gut und 17 Prozent ziemlich gut“.

Dennoch war die Existenz von Jiddischland in Melbourne „eine historische Notwendigkeit, die mehr als 40 Jahre andauerte“, wie Julie Meadows gegenüber den Australian Jewish News erklärt. Sie hatte das Projekt „Write Your Story“ initiiert und die Erinnerungen von rund 100 Zeitzeugen in den Büchern A Schtetel in Ek Welt und Fun Himl blajene zu bloje Teg publiziert. „Die jiddische Sprache und Kultur hatte ihre Berechtigung“, so Meadows weiter, „doch als die Menschen keine Neuankömmlinge mehr waren, zogen sie weg. Wir brauchen nicht um das Ableben von Jiddischland zu trauern, aber wir sollten es auch nicht vergessen.“

„Die jiddische Sprache befindet sich im Todeskampf, sie liegt im Sterben, ist aber noch nicht tot“, schreiben trotzig die beiden australischen Historiker Margaret Taft und Andrew Markus und setzen mit ihrem Buch „A Second Chance“ der leider – nicht nur in Melbourne – langsam aber sicher verschwindenden Sprache schon jetzt ein Denkmal. Eine Studie der Vereinten Nationen kommt nämlich zu dem bitteren Schluss: „Das Jiddische gehört definitiv zu den aussterbenden Sprachen, da kaum mehr Kinder es als ihre Muttersprache erlernen.“

Noch aber lebt die jiddische Sprache: Das Kadimah Centre bringt regelmäßig Theaterstücke in Mameloschn auf die Bühne und die Bibliothek hält die jiddische Weltliteratur bereit, das Internetradio j-air bietet Sendungen und Podcasts auf Jiddisch an und an der Monash University können Studiengänge in jiddischer Literatur, Kultur und Sprache belegt werden.

Lesetipp
Margaret Taft/Andrew Markus, A Second Chance: The Making of Yiddish Melbourne, Clayton (Vic) 2018, 363 Seiten, 28,50 €, Bestellen?

Zur Serie:
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