„Wenn ich nicht für mich bin, wer ist für mich? Und wenn ich nur für mich bin, was bin ich?“

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Wie Selbsthilfe-Gruppen die jüdische Gemeindearbeit bereichern…

Von Jana Stachevski und Wiebke Rasumny

Menschen mit einer Behinderung – sei sie körperlich, geistig oder psychisch – und ihre Familien haben es oft schwer. Ganz besonders, wenn sie als Juden in Deutschland ohnehin schon einer Minderheit angehören, und wenn vielleicht noch Migrationshintergrund und Sprachbarrieren hinzukommen. Kaum jemand, der nicht in derselben Situation steckt, kann die alltäglichen Probleme so ganz nachvollziehen. Dadurch fühlen sich Betroffene häufig ausgeschlossen – aus der deutschen Gesellschaft, aber auch von Hilfsangeboten in deutscher Sprache oder von christlich-kirchlichen Trägern, und sogar aus ihrer jüdischen Heimatgemeinde.

In Nordrhein-Westfalen besteht seit Frühjahr 2017 ein von der Aktion Mensch gefördertes Projekt der ZWST, das diese Probleme überwinden möchte: Mit Unterstützung der Projekt-Mitarbeiterin Jana Stachevski haben Betroffene in Recklinghausen und Bonn Selbsthilfe-Gruppen ins Leben gerufen. In Duisburg und Essen haben wir gemeinsame Aktivitäten für Menschen mit psychischen Störungen Hier trifft man sich regelmäßig, um sich auszutauschen, sich gegenseitig zu helfen und zu beraten, und einfach auch um Spaß zu haben.

Seit gut zwei Jahren treffen die Gruppen sich regelmäßig in den jüdischen Gemeinden. Das Projekt kann ein erstes Fazit ziehen, und dieses fällt sehr positiv aus: Die TeilnehmerInnen fühlen sich weniger allein. „Früher habe ich mich geschämt, jemanden nach Hause einzuladen. Dadurch waren wir in der Gemeinde ziemlich isoliert. Jetzt sehe ich, dass auch andere Familien ihre Probleme haben, und traue mich mehr, über unser Leben mit einem behinderten Kind zu sprechen. Wir haben im letzten Jahr richtige Freundschaften geschlossen und besuchen uns gegenseitig zu Hause, ohne uns zu schämen.“, sagt eine Teilnehmerin einer Selbsthilfegruppe. Freundschaften entstehen, und es gibt sogar ein Paar, das sich gefunden und geheiratet hat. Das Gemeindeleben wird belebt und bereichert – denn das Judentum ist auf eine lebendige Gemeinschaft angewiesen. Schabbat und Feiertage sollen gemeinsam gefeiert werden.

Aber nicht nur von ihren Gemeinden und der ZWST fühlen sich die Betroffenen besser unterstützt; sie unterstützen sich im Rahmen der Selbsthilfegruppen auch gegenseitig, lernen voneinander und geben praktische Tipps weiter: Wo muss man Anträge stellen, welche Fördermöglichkeiten gibt es, wie funktioniert das deutsche Pflegesystem? Die TeilnehmerInnen erfahren dabei ganz nebenbei auch eine neue Anerkennung und Selbstwirksamkeit. „Mir wird immer mehr klar, dass es ganz viel gibt, das ich selbst tun kann, um mein Leben zu verbessern.“, sagt ein Teilnehmer. Er hat vor kurzem eine Ausbildung begonnen. Vor zwei Jahren wäre es für ihn noch unvorstellbar gewesen, dass er durch eine regelmäßige Arbeit seinen Lebensunterhalt selbst sichern könnte. Das in der Selbsthilfegruppe neu gewonnene Selbstbewusstsein hat ihm den Mut gegeben, sich aktiv zu bewerben – und er hat Erfolg dabei gehabt. Andere Teilnehmer haben einen Bundesfreiwilligendienst angetreten und auf diese Weise ebenfalls einen Weg in den ersten Arbeitsmarkt gefunden. So stärkt die Selbsthilfegruppe ihre Teilnehmer auch über die jüdische Gemeinde hinaus für das Leben.

Es gibt in den verschiedenen Gemeinden unterschiedliche Formate für Selbsthilfegruppen, je nach Bedarf der betroffenen Gemeindemitglieder. Zum Beispiel können Aktivitäten für Behinderte oder psychisch Kranke angeboten werden; für Angehörige Behinderter oder psychisch Kranker kann es Beratung und Austausch geben; oder auch gemeinsame Aktivitäten wie Theater- oder Variété-Besuche für alle gemeinsam. Seit kurzem gibt es etwa in Kooperation mit dem Makkabi-Sportverein einen Schachclub in Dortmund; auch in Duisburg ist ein Schachclub in Kooperation mit Makkabi in Planung.

Das laufende Modellprojekt in Nordrhein-Westfalen zeigt eindrucksvoll, dass Selbsthilfe-Gruppen einen wertvollen Beitrag für die jüdische Gemeindearbeit leisten können. Sie sind ein Weg, Hillels Worte aus den Sprüchen der Väter praktisch umzusetzen: „Wenn ich nicht für mich bin, wer ist für mich? Und wenn ich nur für mich bin, was bin ich?“ Wir sind aufgefordert, für uns selbst und unsere besonderen Bedürfnisse gut zu sorgen. Aber nicht egoistisch für uns, sondern in Gemeinschaft mit anderen und für andere. Diese ethische Forderung erfüllen Selbsthilfegruppen, die somit aus einer jüdischen Gemeinde gar nicht wegzudenken sein können.

Interessierte, die an einer der bestehenden Selbsthilfegruppen teilnehmen möchte, oder sich vorstellen können, eine neue Gruppe in ihrer Gemeinde zu gründen, können sich auf Deutsch oder Russisch per E-Mail an Jana Stachevski wenden: Stachevski@zwst.org