Der vorliegende Text von Nathan Birnbaum erschien 1902 in der Zeitschrift „Ost und West“ (veröffentlicht unter seinem Pseudonym). Birnbaum, 1864 in Wien geboren, war einer der wichtigsten jüdischen Intellektuellen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Er schloss sich zunächst dem Zionismus an, den Begriff hatte er selbst geprägt, um später das Konzept einer interterritorialen Nation, die alle jüdischen Gruppen und deren Kultur integrieren würde, zu favorisieren. Er kämpfte für die Anerkennung des Jiddischen als Sprache und veröffentlichte dazu eine Vielzahl an Artikeln und Kommentaren. Schließlich initiierte er 1908 die erste Konferenz für die jiddische Sprache in Czernowitz, bei der alle führenden jiddischen Schriftsteller der Zeit teilnahmen…
Hebraeisch und juedisch
Von Mathias Acher
Erschienen in: Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum, Jg. 2 (1902), H. 7 (Juli 1902)
Wenn ich über „Hebräisch und Jüdisch“ zu westeuropäischen Juden sprechen kann, so verdanke ich dies nicht zum mindesten dieser Zeitschrift, die der Unkenntnis der Grundthatsachen auf diesem Gebiete einigermassen entgegenarbeitet. Jedenfalls hat es „Ost und West“ dahingebracht, dass sein Leserkreis von jener sonst so verbreiteten köstlichen Naivität entfernt ist, die in jedem hebräisch gedruckten Buch ein Gebetbuch oder ein theologisches Werk sieht. Dass Hebräisch und Jüdisch zwei Sprachen sind, die im modernen Verkehrs- und Litteraturleben der östlichen Juden eine grosse Rolle spielen — diese Thatsache setze ich also als bekannt voraus.
Minder klar dürften sich, glaube ich, die deutsch-jüdischen Leser dieses Blattes über das gegenseitige Kräfteverhältnis der beiden Sprachen sein, über ihren Kulturwert und ihre Bestandaussichten, kurz über diese ganze merkwürdige Eigentümlichkeit eines Volkes mit zwei Sprachen. Wer sich auch hierüber einigermassen klar werden will, darf sich vor allem nicht von den Heissspornen entgegengesetzter Parteirichtungen ins Schlepptau nehmen lassen. Soll man den Zionisten der äussersten Linken oder Rechten — wie muss man eigentlich sagen? — Glauben schenken, so ist das Jüdische ein garstiger Jargon, ein widerwärtiges Gemengsel der verschiedenartigsten Sprachbrocken, ein getreues Abbild der „Golus“-Schande, eine Sprache ohne nationale Würde, ohne nationale Zukunft, ein trauriger Notbehelf. Hört man wieder den extremsten russisch-jüdischen „Bundisten“ zu, dann ist das Neuhebräische eine Treibhauspflanze bourgeoiser Romantik, eine Sprache ohne Beziehungen zum wirklichen Leben, eine Sprache ohne soziale Zukunft, ein unnötiger Luxusartikel.
Dass der sogenannte „Jargon“ auf die Ohren der meisten Nichtjüdischsprechenden unangenehm wirkt, ist eine Thatsache, die aber wenig zu sagen hat. Abgesehen davon, dass es sich hier mehr oder weniger um eine Frage des persönlichen Geschmackes handelt, ist nicht abzusehen, wie das ästhetische Urteil der Unbeteiligten auf die wirklichen Machtverhältnisse unter den Beteiligten von Einfluss sein soll. So klingt ja auch das Englische den meisten nichtenglischen Ohren sehr unschön, und doch ist es die Sprache zweier gewaltiger Kulturnationen. Noch mehr, es erhebt sich sogar in den unsterblichen Dichtungen Shakespeare’s und Byron’s zu anerkanntem Wohllaut und Schönheit. Schwerwiegender ist schon der Vorwurf des „Gemengsels“, denn ein wirkliches Gemengsel, d. h. ein künstliches Stückwerk ohne innere Einheit, besässe keine Lebenswirklichkeit, keine Entwicklungsfähigkeit. Aber das Jüdische ist wohl aus mehreren Sprachquellen geflossen, — wieder ebenso wie das „Englische“ — jedoch sicherlich so wenig wie dieses ein Gemengsel. Es ist wahr: der grösste Teil der Wörter stammt aus dem Deutschen und die Flexion ist deutsch: fast alle übrigen Vokabeln, namentlich fast alle Bezeichnungen für die Begriffe des höheren geistigen Lebens, sind hebräisch, auch der Satzbau ist zum Teil hebräisch; schliesslich nehmen slavische, romanische und anderssprachige Wörter und Eigentümlichkeiten einen beträchtlichen Raum ein. Doch alle diese Flüsse und Bäche, die aus verschiedenen Weltgegenden herniederfliessen, vereinigen sich zu einem mächtigen einheitlichen Strom. Das Sprachbild des Jüdischen ist ein eigenes, früher nicht dagewesenes, der Geist des Jüdischen ist ein neuer, einheitlicher.
Ja, aber eben Bild und Geist der nationalen Würdelosigkeit, des Golus — wird man mir vielleicht zugeben, um mich erst recht zu widerlegen. Nun, ich kann nichts dafür: Ich stehe dem Worte Golus längst nicht mehr mit dem alten, gläubigen Schreck gegenüber, ich beuge mich ihm nur soweit, als es meine Vernunft und mein inniges jüdisches Kulturempfinden verlangen. Aber selbst wenn ich noch das absolute Golus anerkennen würde, so könnte ich dennoch nicht einsehen, aul welche Weise der Geist dieses Golus die Lebenswirklichkeit und Entwicklungsfähigkeit der jüdischen Sprache verneinen, diese hindern könnte, sich in etwaigen nachgolutischen Zeiten mit einem nichtgolutischen Geist zu erfüllen. Gerade so, wie alle vorgolutische Ueberlieferung nicht im stände ist, dem heutigen Hebräisch den Anflug des Getthos zu nehmen, den es bald in höherem, bald in geringerem Grade aufweist und aufweisen muss.
Denn es ist auch andererseits nicht wahr, dass das Neuhebräische ohne Beziehungen zum wirklichen Leben ist, — mögen sie auch weniger durchsichtig sein, als beim Jüdischen, Schon dass es mehrere grosse hebräische Tageszeitungen giebt, die zusammen über Hunderttausende von Lesern verfügen — während es z. B. in lateinischer Sprache nur ein Tagblatt, ich glaube in Rom, giebt, das mit Ausschluss der Oeffentlichkeit erscheint —, ist ein wichtiger Fingerzeig. Gut, wird man sagen, aber die Sprache ist dem baldigen Untergange geweiht. Sie war und ist nicht mehr als das Instrument der „gebildeten“ national-jüdischen Ideologen, mittels dessen sie auf die ostjüdische Bourgeoisie wirken, sie ist die müssige Schöpfung romantischer Gehirne, die in sich zusammensinken wird, wenn sich diese Gehirne einmal ausnüchtern.
Thatsache ist, dass das Neuhebräische heute zum allergrössten Teile im Bürgertum seine Kenner und Leser hat — von Sprechenden kann ja überhaupt kaum die Rede sein — und dass seine rührigsten Apostel die „gebildeten“ Bürger sind. Aber daraus dürfen keine vorzeitigen Schlüsse gezogen werden. Das jüdische Volk des Ostens bestand ja bis vor verhältnismässig kurzer Zeit fast lediglich aus Bürgern, wenn man, was namentlich in kultureller Hinsicht ganz unbedenklich ist, auch die Millionen von Bettel- und Betproletariern zur Bourgeoisie rechnet. Für dieses das ganze Volk bildende Bürgertum haben nun die grossen Geister des Volkes — die jenseits aller Klassen stehen — das Hebräische, das sie vorfanden, und das übrigens eine lange, nie ganz unterbrochene Fortentwicklung hinter sich hatte, in moderne Formen gegossen, zu europäischer Ausdrucksfähigkeit gesteigert. Sie befriedigten mit dieser Arbeit ihres Genius zwei tiefe Bedürfnisse des Volkes, von welchen wir zunächst eines anführen wollen, das Bedürfnis nach einem leicht zugänglichen Aufklärungsmittel. Dass sich dann die grossen Scharen der kleinen Geister einfanden, um auch an dem grossen Werke herumzubosseln, dafür können doch jene nicht, das ist ja das Schicksal der geistigen Könige aller Völker, wenn sie auch nicht überall mit gar so viel Kärrnern gesegnet sind, wie bei den Juden.
Nun hat aber das Volk, resp. seine neue und hoffnungsvollste Schicht, das Arbeiterproletariat, ebenfalls durch die klassenlosen geistigen Spitzen des Volkes, ein neues Aufklärungsmittel gefunden, das ihnen noch zugänglicher ist, ihre eigene Umgangssprache, das Jüdische. Wozu soll jetzt noch das Hebräische? Ist es nunmehr nicht wirklich ein unnützer Luxusartikel geworden? Muss nicht die Sprache, die von allen verstanden wird und den Kulturbedürfnissen genügt, naturgemäss diejenige verdrängen, die zwar auch jenen Bedürfnissen entspricht, aber nur von einer kleinen Minderheit mitverstanden wird?
In diesem Einwand verbindet sich ein richtiges mit einem unrichtigen Moment. Er ist insofern berechtigt, als er das Monopol einer Sprache auf Erfüllung von Kulturbedürtnissen bestreitet, wird aber nach der Richtung, dass er die unbewusste Sprachwahl viel zu sehr von Zweckmässigkeitsgründen abhängig macht und die Sprachbeharrlichkeit der Minderheit, das selbständige Schwergewicht ihrer Sprache viel zu gering einschätzt. Der Fehler wird dadurch nicht geringer, sondern eher grösser, dass diese Minderheit die Sprache als Nebensprache pflegt und dass auch die Mehrheit, wie dies thatsächlich der Fall ist, nie ganz von ihr loskommt. Es beweist dies nämlich, dass für den Fortbestand der hebräischen Sprache neben dem Gesetze der Trägheit und neben ihrer verringerten Notwendigkeit als Aufklärungsmittel noch ein tiefliegendes Bedürfnis sprechen muss.
Dieses ist auch vorhanden. Es beruht darauf, dass die jüdische Gemeinschaft trotz der grossen Mehrheit der Jüdischsprechenden denn doch über den Kreis derselben nach verschiedenen Seiten hinausreicht. Von diesem Gesichtspunkte aus stellt sich die Arbeit am Hebräischen dar als Ausfluss des Triebes nach sprachlichem Ausdruck der jüdischen Stammeseinheit in Ost und West, in Vergangenheit und Zukunft. Dieser Trieb ist ebenso natürlich und stark als der Trieb, die eigene Umgangssprache auszugestalten und zu veredeln. Aus beiden Trieben, die ja in der einzigartigen Geschichte Israels ihre Begründung haben, ergiebt sich der einzigartige Parallelismus zweier Sprachentwicklungen in einem Volke.
Für absehbare Zeit ist eine Abweichung von diesem Dualismus nicht zu erwarten. Eine Alleinherrschaft des Hebräischen ist sicher ausgeschlossen — selbst für den Fall, dass sich die Hoffnungen der Zionisten in der weitgehendsten Weise erfüllen sollten, — ja, in diesem Falle sogar vielleicht noch mehr als sonst. Denn gerade in einem geschlossenen Staatswesen erhielte das Jüdische als die von der erdrückenden Mehrheit der Bevölkerung gesprochene Sprache ein viel grösseres Uebergewicht als heute. Dann liefe das Hebräische fast Gefahr, auf die Stufe eines nationalen Repräsentativums zu sinken, das man nur mit Rücksicht auf die ausländischen, nicht jüdisch sprechenden Volksgenossen nicht ganz vernachlässigen darf.
Welche Ironie, dass sich bei soviel realistischer Betrachtung, als derlei Zukunftsphantasie überhaupt zulässt, das romantisch verhätschelte Hebräisch als die Sprache des „Golus“ und der viel geschmähte „Jargon“ als die des „Ex Golus“ darstellt! Aber so interessant der Gedanke auch sein mag, er ist praktisch nicht viel wertvoller als alle anderen Prophezeiungen, die im Hinblicke auf irgend einen ganz unbestimmten Zukunftszustand gemacht werden. Da ist es doch viel vernünftiger, sich mit der Gegenwart zu befassen und zu prüfen, was man im Sinne der Entwicklung thun kann. Den Hauptteil dieser Thätigkeit besorgt das Volk ganz ohne Absicht, indem es spricht und liest, und die Dichter und Schriftsteller ebenso absichtslos, indem sie schreiben. Doch brauchen deshalb manche, mit Zweckbewusstsein vorgenommene Massregeln nicht überflüssig zu sein. Eine solche möchte ich hier in — ich fühle es wohl — etwas unvermitteltem Anschlüsse an die obigen Ausführungen Vorschlägen, und zwar: die Einführung der lateinischen Schrift sowohl für Hebräisch als Jüdisch.
Für Hebräisch habe ich diese Forderung schon vor mehreren Jahren, als ich noch Gegner des „Jargons“ war, im Gespräche mit Sachverständigen aufgestellt. Ich halte sie noch heute aufrecht, erhebe sie aber mit zehnfachem Nachdruck für das viel modernere und mächtigere Jüdisch.*) Und wenn ich auch zugeben muss, dass der Vorschlag heute keiner viel freundlicheren Stimmung begegnet, als damals, so bleibe ich doch fest überzeugt, eine Sache zu vertreten, die in der Luft schwebt, die werden muss, ob man sich nun dagegen wehrt oder nicht.
In erster Linie wird speziell für Hebräisch die Durchführbarkeit der Reform vom sprachwissenschaftlichen Standpunkte aus bestritten. Ich kann diesem Einwande hier nicht entgegentreten, wenn ich nicht den Rahmen des Aufsatzes völlig sprengen will. Nur soviel will ich sagen, dass er mir nicht viel wertvoller zu sein scheint, als die Gründe, die von den Schulnaturen gegen jede Aenderung der Rechtschreibung angeführt zu werden pflegen.
Die nationalen Bedenken rühren mich gar nicht. Zunächst ist unser „hebräisches“ Alphabet bekanntlich nicht hebräisch, sondern assyrisch. Dann ist überhaupt die Schrift lange kein nationales Kulturgut mehr, an dem ungezählte Generationen des Volkes arbeiten, sondern ein Stück Civilisation, das man frei erfindet. Und schliesslich ist die sogenannte lateinische Schrift — die deutsch-gotische ist bloss eine geringfügige Abweichung — zum Symbol der Civilisationsgemeinschaft der europäischen Nationen geworden. Es ist kein Zufall, dass in Europa nur die rückständigen Völker an nichtlateinischen Alphabeten eigensinnig festhalten.
Damit komme ich auf die dritte Einwandskategorie, dass die ganze Sache viel zu kleinlich sei, um ihr Aufmerksamkeit zu schenken. Wer dies behauptet, hat sich einfach von dem ganz ultra-nationalistischen Gedankengange eines neuorientalischen Judentums noch nicht losgesagt, hat noch nicht die Wahrheit begriffen, dass das jüdische Volk der Civilisation nach europäisch oder gar nicht sein wird. Das in europäischen Lettern geschriebene Hebräisch und Jüdisch vermag auch die Vorstellung eines selbstständigen jüdischen Kulturvolkes den nichtjüdischen Völkern eindringlicher und nachdrücklicher einzuschärfen, als dies hunderte zionistischer Zeitschriften im stände sind. Es fesselt auch die jüdischen Massen und ihre geistigen Berater mit unansehnlichen, aber eisenstarken Ketten an ihr Volkstum ebenso, als an die grosse europäische Civilisationsgemeinschaft. Und das ist doch kein Kleines, möchte ich meinen — für die Sprachen selbst sowohl, als für das Volk.
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