Schutzgeld für Ruhe

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Die letzte Runde der Eskalation zwischen Israel und den im Gazastreifen herrschenden Islamisten hat eines deutlich gezeigt. Die Hamas agiert wie die Mafia, wenn es um die Durchsetzung ihrer Ziele geht. Aber auch der Iran spielt eine Rolle…

Von Ralf Balke

Allein gegen die Mafia – so lautet der Titel einer italienischen TV-Serie über das organisierte Verbrechen, die längst zu einem Klassiker geworden ist. Und irgendwie erinnert auch der jüngste Schlagabtausch zwischen Israel und den im Gazastreifen regierenden Islamisten der Hamas an die Erpressermethoden der neapolitanischen Camorra oder der kalabrischen ‚Ndrangheta: Ruhe hat ihren Preis. Und der lässt sich in klarer Münze beziffern. Konkret heisst das: Wenn man etwas von Israel haben will, beispielsweise eine erneute Ausweitung der Fischereizone für palästinensische Boote oder mehr Stromlieferungen, dann greift Gazas Hamas-Chef Yahya Sinwar nicht einfach zum Telefon, sondern lässt lieber Raketen sprechen. So auch am ersten Wochenende im Mai, als fast 700 davon auf israelisches Territorium niedergingen und das Leben im gesamten Süden des Landes beinahe zum Stillstand brachten. Vier israelische Zivilisten wurden in den heftigsten Auseinandersetzungen seit dem 50-tägigen Gazakonflikt von 2014 getötet, zahlreiche weitere Personen verletzt. Israel selbst reagierte mit gezielten Angriffen auf die militärische Infrastruktur der Islamisten, was laut Angaben des palästinensischen Gesundheitsministerium knapp 30 Menschenleben kosten sollte, die allermeisten davon Angehörige ihrer Milizen. Seinen Anfang nahm das Ganze am Freitag, dem 3. Mai, als Scharfschützen des Islamischen Jihads auf israelische Soldaten feuerten und zwei von ihnen verletzt hatten.

So abrupt, wie der Schlagabtausch begann, so sollte er auch wieder aufhören, als nach 41 Stunden ein dank ägyptischer Vermittlung zustande gekommener Waffenstillstand einsetzte. Die Bedingungen dafür lauteten: Israel erweitert erneut die Fischereizone für palästinensische Fischer von sechs auf 15 Seemeilen, erhöht das Volumen der Waren, die die Grenzübergänge Richtung Gaza passieren dürfen und sorgt dafür, dass weiterhin ungehindert Hilfsgelder aus Katar fließen. Angeblich hätte Israel die Überweisungen aus dem Emirat blockiert – eine Anschuldigung, die israelische Regierungsstellen aber dementieren. Zudem würde sich Jerusalem bei einigen humanitären Projekte wie zum Beispiel der Verbesserung der Wasser- und Stromversorgung kompromissbereiter zeigen als vorher. Die Gegenleistung der Islamisten: Keine weiteren Raketen – zumindest für den Moment. Die jeden Freitag an den Grenzanlagen zu Israel stattfindenden Proteste werden fortgesetzt und auch die Terrorballons mit Brandsätzen dürften wohl weiter Richtung Israel fliegen. Im Wesentlichen gleicht das Ergebnis des aktuellen Schlagabtauschs also dem vom November 2018 und März 2019, als Hamas und Islamischer Jihad Israel ebenfalls mit Raketen unter Druck gesetzt hatten.

Auch auf dem ersten Blick unterscheidet sich die Choreographie des Geschehens nur wenig von den beiden vorherigen Eskalationsrunden: Die Islamisten terrorisieren die israelische Zivilbevölkerung mit ihren Raketen und Israel schlägt gezielt zurück. Doch bei genauerer Betrachtung war diesmal einiges anders. Zum einen stand Ramadan vor der Tür, was die Islamisten unter Zeitdruck setzte, die Kampfhandlungen rechtzeitig vor Beginn der Feiertage zu beenden. Zum anderen erhofften sich Hamas und Islamischer Jihad mehr Zugeständnisse, weil angefangen von Yom HaZikaron, dem Tag, an dem man den gefallenen Soldaten gedenkt, über den israelischen Unabhängigkeitstag bis hin zur Austragung des Eurovision Song Contest in Tel Aviv in Israel ebenfalls wichtige Feiertage und Veranstaltungen auf dem Kalendar waren, die durch den Raketenterror aus Gaza hätten gefährdet werden können.

Darüber hinaus hatten die Islamisten versucht, das israelische Abwehrsystem Iron Dome auszuknocken und entsprechend ihre Taktik geändert. So schossen sie beispielsweise gezielt Salven von über 100 Raketen pro Stunde in Richtung der Hafenstadt Ashdod – in der Hoffnung, dass ein derart intensiver Beschuss zu möglichst tödlichen Ergebnissen führt. „Dank Allah gelang es den Qassam-Brigaden dadurch, das sogenannte Iron Dome-System zu überwinden, indem sie viele dutzend Raketen gleichzeitig abfeuerten“, verkündete denn auch stolz ein Sprecher des militärischen Flügels der Hamas. „Unsere Feuerkraft vermochte es, dem Feind verheerenden Schaden zuzufügen.“ Die Hamas hatte dabei auf einen neuen Typ Raketen gesetzt, der zwar nur eine relativ geringe Reichweite hat, dafür jedoch mit einem mehrere hundert Kilogramm schweren Sprengkopf bestückt ist. Auch beim Islamischen Jihad gab es eine Art Premiere: Sie feuerte erstmals ihre aus dem Iran stammenden Badr 3-Raketen auf Israel, die statt 40 Kilogramm Sprengstoff 250 Kilogramm davon transportieren können, der dann als tödlicher Schrapnellregen niedergeht.

Doch die Realität sah wohl deutlich anders aus. Laut israelischen Militärangaben konnte das Iron-Dome-System 86 Prozent aller Geschosse vom Himmel holen, so dass „lediglich“ 35 Raketen auf bewohntem Gebiet einschlugen. „Wir bemühen uns, ihnen immer einen Schritt voraus zu sein, auch wenn sie das gleiche versuchen“, sagte dazu Major Tom Scott, Kommandeur einer Iron-Dome-Batterie, gegenüber der Presse. „Das System erlaubt es uns, auf sehr unterschiedliche Bedrohungsszenarien zu reagieren – also ebenfalls auf heftige Salven von allen Raketentypen sowohl in geringer als auch in großer Flughöhe.“ Doch wenn es um Geschosse geht, die nur ein paar Kilometer weit fliegen und entsprechend kurz in der Luft sind, kann es schon mal eng werden. „Wir haben dann einfach nicht genug Zeit, um sie abzufangen“, relativiert Generalmajor Yaakov Amidror das Ganze. „Beispielsweise das Panzerabwehrgeschoss, das nahe dem Kibbuz Yad Mordechai ein Auto traf und dessen Fahrer tötete, hätte auch von einem ausgeklügelten Abwehrsystem wie dem Iron-Dome kaum aufgehalten werden können.“ Hinzu kommt noch ein anderer Faktor: Während viele der Raketen aus Gaza aufgrund ihrer simplen Bauweise nur wenige hundert Euro in der Herstellung kosten, schlägt jeder Schuss einer Hightech-Iron-Dome-Batterie gleich mit mehreren zehntausend Euro zu Buche.

Was an dem ereignisreichen Wochenende ebenfalls zu beobachten war: Es gibt eine zunehmende Rivalität zwischen der in Gaza regierenden Hamas und dem Islamischen Jihad, wenn es darum geht zu beweisen, wer das Heft in der Hand hält. So war es die massivst vom Iran in jüngster Zeit aufgerüstete Konkurrenz zu Sinwar & Co., die den jüngsten Konflikt vom Zaun brach, auch wenn die Hamas letztendlich mitzog. Ziad Nakhaleh, seit September 2018 Chef des Islamischen Jihad, will seinen Unterstützern in Teheran offensichtlich beweisen, dass er jeden Dollar Wert ist. Ihn interessiert der immer wieder mühsam seitens Ägypten vermittelte Waffenstillstand mit Israel herzlich wenig. Noch am Dienstag hatte Nakhaleh in einem Interview mit der Hizbollah-nahen Newsplattform Al-Mayaeen erklärt, dass der aktuelle Schlagabtausch „nur eine Übung für eine viel größere Schlacht sei, die bald stattfinden wird“. Sehr selbstbewusst sagte er außerdem: „Wir hatten uns in Absprache mit der Hamas dazu entschlossen, auf den israelischen Offizier und die Soldatin als Antwort auf die Tötung von Demonstranten am Grenzzaun zu schiessen. Das geschah, als wir in Kairo waren. Die Ägypter waren nicht davon begeistert, weil das alles stattfand, während wir in ihrem Land waren. Ich und Yahya Sinwar wollten die Eskalation vorantreiben.“ Ob dies alles der Wahrheit entspricht, ist schwer zu überprüfen. Aber mit Gewissheit lässt sich sagen, dass die Hamas ziemlich genau weiss, wo die Grenzen bei einem bewaffneten Konflikt mit Israel liegen und wann es besser ist, aufzuhören. Der Islamische Jihad dagegen steuert offensichtlich auf eine größere Konfrontation zu – wohlwissend, dass der Iran ihm zur Seite steht.

Vor diesem Hintergrund ist auch die Tatsache zu verstehen, dass Israel nicht nur die militärische Infrastruktur der Islamistengruppen ins Visier nahm und beispielsweise das Gebäude, in dem sich die Cyber-Einheit der Hamas befand, zerstörte, sondern ebenfalls Hamed al-Khodari, die zentrale Figur, die iranische Gelder in den Gazastreifen brachte und dort verwaltete, erfolgreich neutralisierte. Vorangegangen waren heftige Diskussionen in der israelischen Militärführung über die Frage, ob man die Politik der „gezielten Tötungen“, die in den vergangenen Jahren eher zurückhaltend betrieben wurde, wieder aufnehmen soll oder nicht. Von der obersten Hamas-Führung dagegen wurde kaum einer erwischt. Ihr gesamtes Politbüro – Yahya Sinwar selbst befand sich ja in Kairo – war rechtzeitig im wahrsten Sinne des Wortes abgetaucht, und zwar in das weitverzweigte Tunnelsystem, das die Islamisten unterhalb des gesamten Gazastreifens angelegt hatten.

Israels Regierung trage massgeblich Mitverantwortung an dem Prinzip „Schutzgeld für Ruhe“, erklärt Avi Issacharoff, Experte für die palästinensische Politik bei der Times of Israel. „Weil Jerusalem im Herbst vergangenen Jahres erlaubt hatte, dass Geldkoffer aus Katar via Israel den Gazastreifen erreichen können und man sich so erpressbar gemacht hat, falls es dabei zu Verzögerungen kommt oder die Hamas plötzlich weitere Zugeständnisse von Israel fordert.“ Auch der aktuelle Waffenstillstand wird aus drei Gründen nichts Grundlegendes an der Situation verändern. „1. Weil die Palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah sich weigert, Verantwortung für Gaza zu übernehmen, was eine Menge zu der wirtschaftlichen Misere vor Ort beiträgt. 2. Der Islamische Jihad wird aufgrund seiner Rivalität mit der Hamas und der Unerfahrenheit ihres neues Anführers Ziad Nakhaleh fortfahren, die Region in einen bewaffneten Konflikt zu treiben. 3. Israel weigert sich einerseits, mit der Hamas zu sprechen, kommuniziert aber ständig indirekt mit ihr. Zudem existieren keinerlei strategische Lösungsansätze, wodurch eine erneute Eskalation verhindert oder zumindest verzögert werden könnte.“