Das Antlitz der Alten umschönen

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Vom Umgang mit dem Älterwerden und dem Alter im Judentum…

Wir wollen alle lange leben, aber keiner möchte dabei alt werden. Die Anti-Aging-Bewegung, die das Alter wie eine Krankheit bekämpft, führt uns die Verachtung vor Augen, die unsere Gesellschaft dem Alter entgegenbringt. Die inzwischen sehr hohe Lebenserwartung wird daher sehr ambivalent wahrgenommen. Zwar sehen wir gewonnene Lebenszeit als Geschenk; die Vorstellung, im Alter aber körperliche und geistige Fähigkeiten und damit vermeintlich an Wert zu verlieren, macht uns Angst. Viele fragen sich, ob ihr Leben im Alter menschenwürdig bleiben wird. Einen völlig anderen Umgang mit dem Älterwerden und dem Alter lehrt uns die jüdische Tradition. Sie kann uns helfen, Alter und Hinfälligkeit als Teil unseres Lebens anzunehmen und zeigen, dass auch ein Leben mit zunehmendem Angewiesensein auf Hilfe trotzdem menschenwürdig ist.

Der Band fasst die Beiträge des vierten Teils der Seminarreihe „End-of-Life – Jewish Perspectives“, der im März in München stattgefunden hat, zusammen.

Mit Beiträgen von Gerhard Baader, Claudia Bausewein, Heike Becker, Rabbiner Tovia Ben-Chorin, Carmen Birkholz, Michael Heinzmann, Ulrike Höhmann, Rabbinerin Birgit E. Klein, Vicki de Klerk-Rubin, Dinah Kohan, Rabbiner Tom Kučera, Wilhelm Margula, Stephan M. Probst, Rabbiner Avraham Y. Radbil, Rabbi D’vorah Rose, Sibylle Schuchardt, Noemi Staszewski, Rabbiner Andrew Steiman, Rabbiner David A. Teutsch, Adelheid Widmann, Dinah Zenker, Andrea Zielke-Nadkarni

Stephan M. Probst (Hg.), Das Antlitz der Alten umschönen. Vom Umgang mit dem Älterwerden und dem Alter im Judentum. On age and aging in Judaism, 253 S., 8 Abb., Hentrich & Hentrich 2019, Euro 19,90, Bestellen?

LESEPROBE

Was sagen die jüdischen Quellen zum Umgang mit Älteren?
Von Rabbiner Tom Kucera

Pirkej Awot, der Mischna‐Traktat »Sprüche der Väter«, zählt alle Lebensabschnitte auf, beginnend mit fünf Jahren und endend mit – ja, womit? Wir würden 120 erwarten, wie wir uns immer wünschen: »ad me’a we’essrim«, weil in diesem Alter Mosche Rabbenu starb. Die berühmte und witzige Modifikation »ad me’a ke’essrim«, »bis 100 wie 20«, ist interessanterweise in ihrer ersten Aussage die Antwort von Pirkej Awot (5,25).

Nicht mit 120, sondern mit 100 endet die Aufzählung der Lebensabschnitte; nur nicht »ke’essrim«, wie im Alter von 20, nach der witzigen Modifikation, sondern mit den dramatischen Worten: »Ben me’a ke’ilu met we’awad uwatel min ha’olam«, ein Hundertjähriger ist, als wäre er gestorben, dahingegangen und verschwunden von der Welt. Diese Worte klingen dunkel, ich vermute, dass sie bloß theoretisch waren, weil in der antiken Zeit des Textes die Menschen sicher nicht länger als im Mittelalter gelebt haben; dies waren im Durchschnitt 50 Jahre.

Die Lebensabschnitte werden also nur bis zu 100, ad »me’a«, aufgezählt. Wann beginnt gemäß dieser Quelle das Alter? Mit 60, mit dem Wort sikna, das in den Selichot von Jom Kippur steht: »Schma kolenu«, höre unsere Stimme. Dann kommen die Psalmworte »Al taschlichenu le’et sikna«, schick uns nicht weg (von dir), wenn wir das Alter erreichen. »Kichlot kochenu al ta’aswenu«, wenn unsere Kräfte nachlassen, verlasse uns nicht. Im Psalm‐Original (71,9) finden wir die persönlichere erste Person Singular, in Bubers Übersetzung: »Schleudre nimmer fort mich zur Zeit des Alters, wann meine Kraft dahin ist, verlasse mich nimmer.«

Das Alter, sikna, beginnt mit 60, die weitere Kategorie mit 70. »Ben schiwim le’ssejwa«, ein 70‐Jähriger für das Greisenalter. Das Wort ssejwa ist bekannt vom Ende des Psalms 92, Mismor schir lejom ha’schabbat: »Zaddik katamar jifrach«, der Gerechte wird wie eine Dattelpalme blühen, »od jenuwun bessejwa«, sie (die Gerechten) tragen Frucht noch im Greisenalter.

Danach kommt 80: »Ben schmonim ligwura«, ein 80‐Jähriger für die höchste Kraft. Wahrscheinlich ist die moralische Kraft erworbener Lebensweisheit gemeint. Danach kommt 90: »Ben tischim laschuach«, ein 90‐Jähriger für das gebeugte Sinnen. Wahrscheinlich geht man mit einem gekrümmten Rücken, aber man genießt die geistige Beschäftigung, und dies in steigendem Maße.

Eine dänische Untersuchung zeigte, dass sich bei heute über 90‐Jährigen, im Vergleich mit den 90‐Jährigen vor zehn Jahren, die geistige Leistungsfähigkeit deutlich verbessert hat. Wenn wir alle drei positiv wahrgenommenen Alterskategorien der Mischna zusammenstellen, bekommen wir: 60 – Alter, 70 – Greisenalter, 80 – hohes Alter.

Die Mischna definiert mit 60 sikna, Alter, mit 70 sejwa, Greisenalter. Beide Wörter finden sich zusammen im folgenden Toravers: »Mipnej ssejwa takum«, vor dem Greisenalter steh’ auf, »wehadarta pnej saken«, das Antlitz eines Alten umschöne, wie Buber übersetzt (3. Buch Mose 19,32). Den ersten Teil verstehen wir gut und erwarten vor allem in den öffentlichen Verkehrsmitteln, dass die Jungen den Alten einen Sitz anbieten. Dies ist sehr lobenswert und sollte allen Jugendlichen beigebracht werden.

Was aber ist mit dem zweiten Teil des Verses, dem Imperativ »wehadarta pnej saken«, das Antlitz eines Alten umschöne? Wenn wir das Verb ins Substantiv ändern, bekommen wir den offiziellen Namen der Mizwa: »Hiddur pnej saken«. Ich habe ein kleines Problem damit, weil es neben dem Greis, »saken«, auch eine Greisin, »skena«, gibt.

Sie gehört natürlich dazu, wenn auch leider mit einer gesellschaftlich geprägten Diskriminierung: Weiße Haare bei den Männern sind eher positiv im Sinne einer größeren Autorität, bei den Frauen hingegen nicht. Dagegen wehrt sich das Model Eveline Hall, die ihre Haare grau trägt.

Ohne sich um eine wortwörtliche Übersetzung zu bemühen, bedeutet »hiddur pnej saken« einfach: Ehre alte Leute.Raschi überrascht mit seinem Kommentar zu diesem Toravers: »Ich hätte meinen können, auch vor einem sündhaften Greis. Darum steht ›saken‹; darunter ist derjenige zu verstehen, der Weisheit erworben hat – se kana, er erwarb.« Diese unfreundliche Anmerkung überrascht umso mehr, da sie die relevante und komplexe Talmud‐Auseinandersetzung ignoriert und selektiv eines der vier Argumente auswählt.

Der ganze talmudische Diskurs (Kidduschin 32b) beginnt mit der Meinung der Rabbanan: »Unter Alten ist ein Gelehrter zu verstehen, so heißt es: Versammle mir 70 Männer von den Ältesten Jisraels« (4. Buch Mose 11,16). Es könne nicht sein, dass die Ältesten ungebildet sind, so die Meinung der Rabbanan. Eine zweite Meinung vertritt Rabbi Jossi, der Galiläer: »Unter Alten ist einer zu verstehen, der Weisheit erworben hat, denn es heißt: Der Ewige hat mich erworben als Anfang Seines Weges (Sprüche 8,22)«.

Bevor die nächste Meinung angesprochen wird, werden weitere Kriterien bestimmt: Die Mizwa »Hiddur pnej saken« bezieht sich nicht auf eine Entfernung, eine finanzielle Unterstützung oder einen ungewöhnlichen Ort (Abort, Badehaus). Die dritte Meinung vertritt Rabbi Schimon ben Eleasar: »Woher, dass der Alte andere nicht belästigen dürfe? Es heißt: Alte sollst du fürchten.« Mit dieser ausgesprochen negativen Auslegung wird das Verb auf das vorhandene Substantiv bezogen: Der Alte soll sich fürchten, damit er andere nicht belästigt.

Die vierte Meinung sagt Issi ben Jehuda: »Vor einem Greis sollst du aufstehen, darin ist jeder Greis einbegriffen.« Eine knappe Antwort, die wir eigentlich auch erwarten. Was hat Raschi bewogen, dass er – sicher um diese talmudische Sugija wissend – nur die zweite Meinung aufgriff? Wie wird jetzt unter den vier Meinungen entschieden?

Dies erfahren wir nach weiteren komplizierten Auslegungen ganz unkompliziert: »Rabbi Jochanan sagte: Die Halacha ist wie Issi ben Jehuda. Rabbi Jochanan stand vor greisen Aramäern auf, indem er sagte: Was alles haben diese überstanden. Raba stand vor solchen nicht auf, aber Ehrung erwies er ihnen. Abbaje reichte den Greisen die Hand. Rabba sandte seinen Diener. Rabbi Nachman sandte seine Eunuchen, denn er (Jochanan) sagte: Wenn nicht die Tora, wie viele Nachman gibt es auf der Straße« (Kidduschin 33a).

Der talmudische Meinungsunterschied, »machloket«, wird von dem einflussreichen Rabbi Jochanan entschieden, begründet in seiner humanistischen Einstellung allen alten Menschen gegenüber, unabhängig von jedem Kriterium, inklusive des nationalen und religiösen Hintergrunds.

Der besprochene Toravers (3. Buch Mose 19,32) endet mit dem Ausruf: »Fürchte dich vor deinem Gott. Ich bin der Ewige.« Dieser einprägsame Ausruf geschieht bereits einige Verse vorher (3. Buch Mose 19,14) beim Verbot, einen Tauben zu verfluchen oder einem Blinden ein Hindernis in den Weg zu stellen. Darum wird vermutet, dass die besondere Ermahnung zur Ehrfurcht vor Gott in beiden Fällen die Situation betont, in der die Übertretung vom Gegenüber nicht wahrgenommen wird und dadurch leicht zu verstecken ist.

Es kann aber auch umgekehrt gelten, dass der ungewöhnliche Ehrfurcht‐Imperativ auf ein besonders verbreitetes Phänomen hinweist, wie zum Beispiel in den Klageliedern formuliert: »skenim lo chananu«, Greise haben sie nicht geachtet (4,16), oder: »pnej skenim lo nehdaru«, der Greise Ansehen war nicht geschont (5,12).

Das heißt, sie haben die Mizwa von »Hiddur saken« missachtet, was zu einem moralischen Niedergang der Gesellschaft führen kann: Die Klagelieder werden an Tischa beAw vorgelesen, dem Erinnerungstag an die Zerstörung beider Tempel. Vielleicht bringt Raschi beide Positionen (das heißt, ein latentes und evidentes Vorkommen) zusammen, wenn er sagt: Diese Sache ist dem Herzen des Handelnden übergeben, da nur er sie kennt. Und bei jeder Sache, die dem Herzen übergeben ist, steht: Fürchte dich vor deinem Gott (Raschi zu 3. Buch Mose 19,32).

In den letzten 200 Jahren hat sich das Image der Älteren stetig verschlechtert. Um 1810 wurde über das Alter viel positiver geschrieben als 2010. Wir können uns selbst bei nicht optimalen Gedanken über das Alter in einer Supermarktschlange ertappen, oder wenn wir sehen, dass ältere Menschen immer noch aktiv arbeiten. Dagegen soll die Mizwa »Hiddur pnej saken« wirken.

Die Menschen werden immer älter. Dennoch bekommen wir nichts umsonst. Jeder Vorteil hat seine heikle Seite: Mit der steigenden Lebenserwartung wächst die Häufigkeit der Alterskrankheiten, zum Beispiel Demenz. Sie tritt besonders nach dem 80. Lebensjahr auf, wenn auch nur bei einem Viertel der 80‐Jährigen.

Darum gilt auch: Psychische Gesundheit im höheren Lebensalter ist die Regel, nicht die Ausnahme.Für den talmudischen Rabbi Jischmael ben Rabbi Jossi ist das Alter der Schriftgelehrten, talmidej chachamim, mit der Weisheit, chochma, direkt verbunden (Schabbat 152a).

Er beruft sich auf den Tanachvers: »Bei Greisen, jeschischim, ist Weisheit, chochma, und langes Leben ist Einsicht, tewuna« (Hiob 12,12). »Dagegen nehmen die Leute aus dem gemeinen Volke, ›amej ha’aretz‹, je älter sie werden, an Torheit, tipschut, zu.«

Rabbi Jochanan (Brachot 8a) konnte nicht glauben, dass es auch in Babylonien Greise gibt, denn nur in Eretz Israel könne dies geschehen. »Als man ihm aber sagte, dass sie früh morgens und spät abends im Beit Knesset verweilen, sprach er: Das ist es, was ihnen dazu verhilft. So sagte auch Rabbi Jehoschua ben Lewi zu seinen Söhnen: Geht ins Beit Knesset morgens früh und verweilet da abends spät, damit ihr lange lebet. Rabbi Acha ben Rabbi Chanina sagt: Hierauf deutet folgender Schriftvers (Sprüche 8,34): Glücklich ist der Mensch, der auf mich hört, Tag für Tag an meinen Türen zu wachen, zu wahren die Pfosten meiner Türen. Und darauf folgt: Denn wer mich gefunden, hat Leben gefunden.«

Die Regelmäßigkeit des Gemeindelebens und die Anbindung der Älteren in den Minjan aktivieren das Gefühl der Verantwortung und der Freude, gebraucht und anerkannt zu werden. Eckart von Hirschhausen bemerkt, dass das Wort Lebenserwartung einen Doppelsinn bekommt: Wer wenig vom Leben erwartet, hat auch wenig vom Leben zu erwarten. Ich kenne viele Senioren, die über 80 oder sogar 90 sind und immer noch oft mit Freunden unterwegs sind.

Der Autor ist Rabbiner der Gemeinde Beth Shalom in München und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz.

Stephan M. Probst (Hg.), Das Antlitz der Alten umschönen. Vom Umgang mit dem Älterwerden und dem Alter im Judentum. On age and aging in Judaism, 253 S., 8 Abb., Hentrich & Hentrich 2019, Euro 19,90, Bestellen?