Wenn die Weisen von Zion beim Gedenken sitzen bleiben

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Italien, das ist für die Münchner ein verlängertes Wochenende, eine Reise von knapp viereinhalb Stunden und inzwischen eventuell fünfeinhalb zurück, wenn das Schengen-Abkommen gerade wieder einmal harzt. Wir alle haben den Vatikan besichtigt, die Uffizien in Florenz, die Ausgrabungen von Pompei, und manche von uns waren bereits auf dem Ätna. Vielleicht haben wir in einem Restaurant des ehemaligen römischen Ghettos Carciofi alla giudia gegessen oder in Venedig Baccalà in agrodolce. Will heißen: Wir wissen Bescheid über Italien. Italien hat etwas zu bieten fürs Auge, für die Ohren und meistens auch für die Nase…

Von Matt Fischer

E la politica? – Wer so schön singt, so gut kocht, den marmornen David schuf, der kann so gefährlich nicht sein. So kommt mir manchmal die Sicht auf Italien vor, die man hier­zulande, aber auch in Israel pflegt. Dabei haben die Italiener seit dem Bau des Pantheons auch ganz andere Sachen erfunden und exportiert. Den Faschismus zum Beispiel. Alessandra Mussolini, Enkelin des Duce, derzeit Abgeordnete in den Reihen der EVP, also der selben europarlamentarischen Fraktion, in der gegenwärtig der CDU-Politiker Daniel Caspary den Vorstand für die CDU/CSU-Gruppe innehat und der auch die Partei Viktor Orbáns angehört, meinte im Jahr 2017 anlässlich von Mafia-Problemen in der Stadt Ostia bei Rom: „Zwei oder drei Monate und mein Großvater hätte es gerichtet.“[1] Bei soviel Traditionsbewusstsein kann einem richtig warm ums Herz werden. Natürlich ist Frau Mussolini nicht alleine mit ihrer Traditionspflege. Wenige Monate später, am 26. Januar 2018, widersprach Matteo Salvini, seit der Regierungsbildung im Anschluss an die Parlamentswahlen vom März 2018 italienischer Vizepremier und Innenminister, öffentlich einer Äußerung von Staatspräsident Mattarella anlässlich des Holocaust-Gedenktags, derzufolge der Faschismus „ein Regime ohne Verdienste, ein unauslöschlicher Schandfleck“ für die italienische Nation sei. Salvini: „Dass Mussolini im Zeitalter des Faschismus zahlreiche Dinge geschaffen hat, dass die Rentenversicherung eingeführt … und Sümpfe trockengelegt wurden“ sei offensichtlich.[2] Genau. Und Hitler ließ Autobahnen bauen. „Viel Feind, viel Ehr!“ wurde Benito Mussolini am vergangenen Jahrestag seiner Geburt von Salvini zitiert.[3]

Haben Sie schon einmal ihr Auto in eine italienische Werkstatt gebracht? Ich schon. Über dem Pirelli-Kalender hing eine Uhr mit dem Konterfei Benito Mussolinis. Auch aus dem Spind eines Fabrikarbeiters in Bassano del Grappa blickte er mich mit versteinerter Miene an. Überhaupt kann man in Italien Mussolini-Devotionalien so leicht erwerben wie, sagen wir, einen Joint, also praktisch problemlos. Eine Strafverfolgung wegen Apologie des Faschismus wie vom Gesetz Nr. 645/1952 vorgesehen findet so gut wie nie statt. Erstens ziehen sich Gerichtsverfahren in Italien ohnehin oftmals über biblische Zeit­spannen, und zweitens ist man in Italien durchaus stolz darauf, dass Angelegenheiten – anders als in Deutschland – ungern unter Einschaltung des Staates gelöst werden. Was während der Schoah durchaus manche ansonsten Todgeweihte vor den Fängen der Polizei der Republik von Salò, der Gestapo und der SS bewahrte.

Doch leider wurde im Nachkriegsitalien aus den objektiven Tatsachen eine Selbst­absolution. Es entstand der Mythos der italiani brava gente – die Einwohner des Bel Paese wollten sich selbst als „Gute Leute“ wahrnehmen. Die Kriegsverbrechen auf dem Balkan, in Nordafrika, Äthiopien und Eritrea? Inexistent. Die Rassengesetze und Judendeportationen im Mutterland des von Mussolini 1936 proklamierten Impero? Ein Werk ausschließlich der deutschen Besatzer. Ein Mythos, den sich die israelische Historikerin Shira Klein in ihrem 2018 erschienen Werk über Schicksal (und Rolle) der jüdischen Minderheit in Italien zur Brust nimmt: „This book offers a new perspective of the myth of Italian benevolence in World War II, and the role Jews themselves played in its creation“.[4] Und ein Mythos, der nur mühsam zum Einsturz zu bringen ist, wie auch Andrea Melis in seinem Artikel zum diesjährigen Holocaust-Gedenktag unter dem Titel „Der selektive Gedenktag“ schreibt: „In der Schule und im Fernsehen wird nicht darüber gesprochen. Die Filme werden zensiert, die Dokumente in Zweifel gezogen.“[5]

Wenn aber etwas völlig unzweifelhaft feststeht, so ist es, dass unaufgearbeitete Schuld nicht zur Ruhe kommt. Sie ruft unablässig danach, relativiert zu werden. Etwa indem das Dritte Reich im Sprachgebrauch der AfD plötzlich zum „Vogelschiss der Geschichte“ schrumpft. Auch Italien hat seine Vogelschiss-Äußerungen oder, wenn man so will, seine Vogelschiss-Gesten. So weigerte sich neulich der parteiunabhängige und gleichzeitig der regierenden Lega-Fraktion angehörende Manuel Laurora, sich während der Schweige­minute des Stadtrats von Pisa zum Holocaust-Gedenken wie alle anderen seiner Kollegen zu erheben. Er wurde auf Antrag des Bürgermeisters, ebenfalls Lega, der Sitzung verwiesen.[6] Eine reumütige Entschuldigung des Provokateurs folgte auf dem Fuß.[7] Wenn den neuen Rechten an einem gelegen ist, dann an einem guten Verhältnis zu den jüdischen Verbänden und zum jüdischen Staat. Auch wenn Staatspräsident Rivlin Vizepremier Salvini, der in dieser Funktion gerne den Außenminister macht, anlässlich dessen Staatsbesuchs am 11.-12. Dezember 2018 nicht empfing,[8] spielt ein gutes Verhältnis zu Israel eine wichtige Rolle im Selbstverständnis der neuen italienischen Rechten. Immerhin wurde Salvini von Premierminister Netanyahu empfangen und besuchte, wie bereits 2003 der vom neofaschistischen Wolf zum konservativen Schaf gewandelte spätere Außenminister und Parlamentspräsident Gianfranco Fini,[9] die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.[10] Fini wurde seinerzeit von Premierminister Sharon empfangen.[11] Auch wenn es auf den ersten Blick verwundert, Berühungsängste zum Judentum sind dem Faschismus – anders als dem deutschen Nationalsozialismus – über weite Strecken seiner Geschichte fremd. Zwischen der Machtergreifung der ialienischen Faschisten 1922 und dem Achsenbündnis mit Nazi-Deutschland 1936 bzw. den italienischen Rassengesetzen von 1938 waren die beiderseitigen Beziehungen vielfältig, von Mussolinis Geliebter, der Aktivistin Margherita Sarfatti,[12] über die Kontakte Mussolinis zu Ze’ev Jabotinski und seine – antibritisch motivierte – aktive Unterstützung eines jüdischen Staats in Palästina[13] bis hin zu seinem Motto: „Die jüdische Frage existiert in Italien nicht.“[14]

Lannutti tritt zurück! Weise von Zion – Geschichtsfälschung“. Rom („Ghetto“). Foto: Eva Ruth Palmieri, 27.01.2019.

Doch – old habits die hard – schon im Mittelalter wurden Europas Juden stets gerufen, wenn man ihre Dienste zu brauchen glaubte, nur um sie gleich danach wieder vor die Stadttore zu verbannen, wenn die Meinungskonjunktur der Mächtigen sich änderte. Wer weiß, was es im Schatten dieser geschichtlichen Erfahrung zu bedeuten hat, dass der Senator Elio Lannutti – man lasse es sich auf der Zunge zergehen: ein Abgeordneter der zweiten Kammer des italienischen Parlaments – von der Fünf-Sterne-Bewegung M5S, dem linkspopulistischen Koalitionspartner der Lega, vor wenigen Tagen ganz im Stil des zaristischen Russland des 19. Jahrhunderts twitterte: „Die Gruppe der Weisen von Zion und Mayer Amschel Rothschild, der gewandte Gründer der berühmten Dynastie, die noch heute das Internationale Banken­system kontrolliert, führte zur Abfassung eines Manifests: »Die Protokolle der Weisen von Zion«“. Der dem M5S angehörende Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsminister Luigi Di Maio, ebenfalls Vizepremier, distanzierte sich ebenso wie Lega-Parteisekretär Salvini, der sich gleich im Namen seiner gesamten Partei abgrenzte. Lange ließ auch die Entschuldigung von Lannutti selbst nicht auf sich warten: „Da ich keinerlei Absicht hatte, irgendwen zu beleidigen, am wenigsten die jüdischen Gemeinden oder andere, bitte ich um Verzeihung, wenn der Link das Fein­gefühl verletzte.“ Und weiter: „Es ist mir wichtig zu unterstreichen, dass ich weder Antisemit bin, noch jemals sein werde.“[15]

Na dann: Salute! Nun kann ja nichts mehr passieren.
[1]Gegenüber Radio Cusano, zitiert 27.11.2017 in LiberoQuotidiano.it (https://www.liberoquotidiano.it)
[2]Gegenüber Radio Capital in der Sendung Circo Massimo, zitiert 26.01.2018 in IlGiornale.it (http://www.ilgiornale.it)
[3]Matteo Salvini auf seiner Facebook-Seite, 29.07.2018 (https://www.facebook.com/salviniofficial/)
[4]Cambridge, 2018: Shira Klein, Italy’s Jews from Emancipation to Fascism. S. XI.
[5]Andrea Melis, 26.01.2019 auf Fanpage.it (https://www.fanpage.it)
[6]Andrea Bulleri, 29.01.2019 auf R.it (https://firenze.repubblica.it)
[7]Redaktion, 09.12.2018 auf R.it (https://www.repubblica.it)
[8]Ebd.
[9]Redaktion, 24.11.2003 auf R.it (https://www.repubblica.it)
[10]Ebd. (09.12.2018 auf R.it)
[11]Ebd. (24.11.2003 auf R.it)
[12]Wikipedia (IT)
[13]Madison, 2005: Elan Kaplan, The Jewish Radical Right: Revisionist Zionism and Its Ideological Legacy. S. 154
[14]Shoah Resource Center, The International School for Holocaust Studies, Benito Mussolini (https://www.yadvashem.org/odot_pdf/Microsoft Word – 6478.pdf)
[15]Redaktion, 21.01.2019 auf R.it (https://www.repubblica.it)