Mein Herz ruht müde

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Sie gehörte zu den herausragendsten Vertreterinnen der avantgardistischen Moderne und des Expressionismus und war eine der wichtigsten deutsch-jüdischen Dichterinnen, die ihr jüdisches Erbe vielfach in ihrem Werk verarbeitete. Vor 150 Jahren, am 11. Februar 1869 wurde Else Lasker-Schüler geboren. Ausschnitte aus ihrem großen Werk…

Mein Volk

Der Fels wird morsch,
Dem ich entspringe
Und meine Gotteslieder singe …
Jäh stürz ich vom Weg
Und riesele ganz in mir
Fernab, allein über Klagegestein
Dem Meer zu.

Hab mich so abgeströmt
Von meines Blutes
Mostvergorenheit.
Und immer, immer noch der Widerhall
In mir,
Wenn schauerlich gen Ost
Das morsche Felsgebein,
Mein Volk,
Zu Gott schreit.

Else Lasker-Schüler: Hebräische Balladen. A. R. Meyer Verlag, Berlin, 1913. Umschlagillustration von der Verfasserin. (Reihe Lyrisches Flugblatt Nr. 25)

Sulamith

O, ich lernte an deinem süßen Munde
Zuviel der Seligkeiten kennen!
Schon fühl ich die Lippen Gabriels
Auf meinem Herzen brennen
Und die Nachtwolke trinkt
Meinen tiefen Zederntraum.
O, wie dein Leben mir winkt!
Und ich vergehe
Mit blühendem Herzeleid
Und verwehe im Weltraum,
In Zeit,
In Ewigkeit,
Und meine Seele verglüht in den Abendfarben
Jerusalems.

An Gott

Du wehrst den guten und den bösen Sternen nicht;
All ihre Launen strömen.
In meiner Stirne schmerzt die Furche,
Die tiefe Krone mit dem düsteren Licht.

Und meine Welt ist still –
Du wehrtest meiner Laune nicht.
Gott, wo bist du?

Ich möchte nah an deinem Herzen lauschen,
Mit deiner fernsten Nähe mich vertauschen,
Wenn goldverklärt in deinem Reich
Aus tausendseligem Licht
Alle die guten und die bösen Brunnen rauschen.

Das Hebräerland

Aus der Höhe Jerusalems stürzt der Geier und ordnet sein Gefieder, bevor er sich in einer Grube niederläßt. Feder auf Feder glättet er sorgfältig, als gehe es zum Festflug. Nie sah ich einen Menschen, der, im Begriff, sich auszuruhen, mit glorreicherer Geste sein Gewand betrachtete wie der edle Raubvogel. Ich erinnere mich gern der mächtigen Tiere, die uns so oft durch die Wüste, kühn und voll Unternehmungslust, auf der Fahrt im Omnibus eine Strecke Wegs nach Tel-Aviv begleiteten. Unwillkürlich legt die besorgte Mutter fester um ihr Schoßkindlein ihren Arm.

Heute fahre ich wieder unten ans Meer. Neben mir sitzt ein Beduine im gestreiften Atlaskleid, den Kopf in ein gelbes Tuch gehüllt. Wir sprechen englisch zusammen, auch ein paar Worte arabisch, die ich wohl auf der Straße aufgefangen, aber deren Sinn ich nicht verstehe. Darum lacht der bunte Mitreisende verstohlen – und ich weiß schon warum. Im Grunde versteht man sich im Heiligen Lande – ohne was zu sagen. Die Sonne bringt hier alles an den Tag. Sie scheint so hell durch die Sinne und Herzen der Geschöpfe, vergißt nicht, am geringsten Menschen ihr Rosengold, am winzigsten Tierlein und dem kleinsten Feigenbaum auf vergessenen Schutthaufen gewissenhaft zu verteilen. Und man wundert sich jedesmal wieder, wenn ihr Dorn einen Einwohner Palästinas in den Nacken sticht. Um 5 Uhr morgens pflegt die Sonne am heißesten zu scheinen und weckt den Langschläfer mit einem goldenen Kuß. Der Araber legt sich schon um die Nachmittagsstunde zur Ruhe, der orientalische Jude – kaum ist es Abend. Mich brachte der Mond als unwiderruflich „Letzte“ heim.

Will man von Palästina erzählen – geschmacklos, sich einen Plan zu konstruieren. Ganz Palästina ist eine Offenbarung! Palästina getreu zu schildern, ist man nur imstande, indem man das Hebräerland dem zweiten – offenbart. Man muß gerne vom Bibelland erzählen; wir kennen es ja alle schon von der kleinen Schulbibel her. Nicht wissenschaftlich, nicht ökonomisch; Palästina ist das Land des Gottesbuchs, Jerusalem – Gottes verschleierte Braut. Ich kam von der Wüste aus, reiste zur heiligen Hochzeit, eingeladen zur Feier, die immer Jerusalem umgibt. Immer ist Hochzeit unter dem Baldachin seines Himmels. Gott hat Jerusalem lieb. Er hat es in Sein Herz geschlossen. Er hat diese ewige Stadt der Städte erwählt. Jeder Gast, der in diese Stadt kommt, wechselt sein Kleid mit der Weihe des Gewands. Diese fromme Wandlung verpflichtet den Menschen, sich feierlich und artig zu benehmen, die andächtige Stimmung der auserlesenen, erhobenen Stadt nicht zu erschrecken. Ich muß sagen, ich habe nie ein überlautes Wort, nie einen schrillen Ton in Jerusalem vernommen, weder in seinen Straßen, noch in seinen Häusern und Palästen. Man hört darum deutlicher Gott atmen. Überwältigt von Seiner Nähe, beginnt der Mensch zu beben. Man muß sich an Gott gewöhnen. Und tut gut, sich zu reinigen, immer besser zu werden. Die Seele wird von tiefer Furcht ergriffen, beginnt zu brennen. Manchmal hätte ich mich gern vor Gott versteckt.

Nicht alle Menschen, die in das Land Palästina reisen, leben dort im Bewußtsein ihrer Aufgabe. Palästina verpflichtet!!!Sich erholen, namentlich im seelischen Sinne, ist Jerusalem, Palästinas Hauptstadt, der rechte Ort, das heilende Bad der Seele. Denn die Stadt segnet den Menschen, der sich nach dem Segen sehnt, die fromme Stadt tröstet den, der getröstet werden möchte. Jerusalem ist die Sternwarte des Jenseits, der Vorhimmel des Himmels. In dieser himmlischen Schöpfung wurde der erste Tempel gebaut.

Nach greisen Zeiten war es HERZL, der tote Melech, der lebendige, unsterbliche Wegweiser, THEODOR HERZL, der auf seines Herzens Papyros den Wiederaufbauplan des Hebräerlandes entfaltete. Er begann die ehrwürdige, ehrfürchtige Mumie auszugraben. Amen … Ich verweile andächtig. Palästina ist gedanklich das fernste Land der Welt. Ich wollte ja nur feststellen, ob man überhaupt wieder auf die Erde zurückkomme – und reiste ab. Mir ist – ich bin auf einem andern Stern gewesen. Mich bringt niemand von diesem Glauben ab! Am allerwenigsten der Geograph. Ich reiste nach Europa zurück auf dem mächtigen Schiff „Jerusalem“. Wenn nicht am Morgen und am Abend die fröhlichen hebräischen Kolonisten, die kindlichen Judenbauern, auf Deck ihre rührenden Volkslieder gesungen, hätte ich mich, trotz der vielen netten Passagiere, als einsamste Passagierin gefühlt. Welcher Jude wäre auch fähig gewesen, den Grund meiner Rückfahrt zu verstehen und zu billigen. Ach, ich hätte mir so gerne in der italienischen Hafenstadt Trieste unseren Lloyd „Gerusalemme“ zum Andenken als Enveloppe an mein Armband gehängt! Er führte uns an Griechenland vorbei, an Ithaka. Er zeigte mir den Zeus auf dem Olymp thronend und aus blaublauem Wasser hörte ich die Sirenen singen.

Es tanzten auf unserem Schiff die kernigen jüdischen Landleute, die Chaluzim mit ihren bildhübschen Bäuerinnen unter freiem Himmel. Die Söhne und Töchter etlicher wohlhabender Judenfamilien Europas pilgerten schon vor vielen, vielen Jahren nach Palästina, ins Gebenedeite Land. Verließen Elternhaus und seine Obhut, sich der Erde des Heiligen Landes zu weihen, die Sümpfe Tiberias zu trocknen, ja ihr Leben zu opfern, mit Freuden hinzugeben für den Dienst des Herrn.

Denn Palästina ist Seine Wohnung. Mit großer Bewunderung und Verehrung begegnete ich diesen Reisegenossen, den mutigen Pionieren des Bibellandes, seinen Helden! Es verstummte mein Mund vor Hochachtung, da ich in einer der nächstliegenden Kolonien noch vor kurzem den fleißigen, schlichten Menschen begegnete. Rügte auch die kleine Reisegesellschaft, der ich mich am Morgen zum Aufbruch ins Emek angeschlossen, meine „Oberflächlichkeit in wirtschaftlichen Dingen“, besonders meine Unerfahrenheit im Dunst, allerdings im gesunden, der großzügigen Kuhställe der Kolonie; wetteiferten in Ratschlägen, die sie dem sachverständigen, gewissenhaften Verwalter zu erteilen sich erlaubten. Die kleinen ein- und zweijährigen Judenkosaken auf ungesattelten Pferden hatten es mir angetan! Sie galoppierten zwischen den Hecken der roten Erde. Am Schabbatt wird es den Kindern erlaubt, sich herumzutummeln mit ihren wiehernden Lieblingen. Es ruht vom Hauch des Feiertags noch lässig die Arbeit. Zu Zweien, zu Dreien sitzen die glücklichsten jüngsten Adonis und die zauberhaft niedlichen, lieblichen Geweretts auf den Rücken der lieben, geduldigen Tiere, die ihre kleinen Reiter und Reiterinnen lieben und – mitmachen! Über die hebräische Pußta jauchzend und schnaubend sausen sie über Stock und Stein. Ich gestehe, schon auf dem Schiff wieder nach Europa, empfand ich eine brennende Sehnsucht sondergleichen zurück nach unserm lieben Heiligen Lande, nach Jerusalem namentlich, wie nach einem von mir verlassenen urverwandten versteinten Geschöpf. Ein Skarabäus ist Palästina! Ein jeder Jude ist mit seinem Erzstoff geimpft!

Else Lasker-Schüler an ihrem 50. Geburtstag, (c) National Library of Israel, Schwadron collection

Mein Herz ruht müde

Mein Herz ruht müde
Auf dem Samt der Nacht
Und Sterne legen sich auf meine Augenlide …

Ich fließe Silbertöne der Etüde – – –
Und bin nicht mehr und doch vertausendfacht.
Und breite über unsere Erde: Friede.

Ich habe meines Lebens Schlußakkord vollbracht –
Bin still verschieden – wie es Gott in mir erdacht:
Ein Psalm erlösender – damit die Welt ihn übe.