Briefe aus Palästina

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Der nächste Text, den wir in Kooperation mit dem Lexikus Verlag vorstellen, ist eine Sammlung von Briefen von A.D. Gordon, dem spirituellen Mentor der zionistischen Arbeiterbewegung, aus dem Jahr 1919…

Aaron David Gordon wurde 1856 in Trojanow, Russland geboren. 1903 wanderte er nach Palästina aus und begann dort im Alter von 48 Jahren mit Landwirtschaft. Seit 1909 veröffentlichte er zahlreiche Artikel, in denen er seine Vorstellungen von Arbeit, Zionismus und jüdischem Schicksal darlegte. Gordon war Delegierter am 11. Zionistenkongress von 1913 und bei der „haPoel haZair“ („Der junge Arbeiter“, sozialistische Partei) Konferenz in Prag von 1920. Dennoch war er nicht politisch aktiv. Für ihn lag die Erlösung des jüdischen Volkes allein in den Anstrengungen jedes einzelnen, sich zu verändern. Er war davon überzeugt, dass die jüdischen Arbeiter in Eretz Israel ihren eignen Weg zu einer gerechten und produktiven Gesellschaft finden müssten, und opponierte daher gegen Verbindungen zum internationalen Sozialismus.

Obwohl er die Übel des Kapitalismus und der Industrialisierung aufzeigte, distanzierte er sich von den Lehren Karl Marx‘ und des Sozialismus, sah er den Marxismus doch als Reorganisation der sozialen Ordnung und nicht als Erneuerung des menschlichen Geistes. Gordon lehnte auch den Kosmopolitismus ab, er müsse durch einen sog. „Kosmo-Nationalismus“ ersetz werden, da der menschliche Geist tief in der Kultur, in den Traditionen und in der Geschichte seines Volkes verwurzelt sei.

Die entscheidende Prüfung der Juden sah Gordon in ihrem Verhältnis zu den Arabern. Das Verhalten den Arabern gegenüber müsse von Menschlichkeit geprägt sein, so Gordon, auch wenn sich die Gegenseite nicht wünschenswert verhalte. Mehr noch, ihre Feindlichkeit sei noch mehr Grund für „unsere Menschlichkeit“.

A.D. Gordon starb 1922 im Kibbutz Deganiah, wo er seine letzten Jahre verbrachte. Er hatte bedeutenden Einfluss auf die jüdische Arbeiterbewegung, sowohl durch seine Schriften wie auch sein persönliches Vorbild. 

Das Vorwort zu den Briefen verfasste Ludwig Strauß, später Literaturwissenschaftler in Aachen, der 1935 nach Palästina auswandern sollte.

Vorwort

Für das zerrissene und unfruchtbare Denken des modernen Europa ist es bezeichnend, dass mit vielen eigentlich zusammengehörigen Dingen auch Nationalismus und Sozialismus auseinandergerissen und in eine ihrem Wesen ganz fremde Kampfstellung zueinander gerückt wurden. Der auf äußere Machtentfaltung gerichtete Nationalismus und der auf äußere Besitzumschichtung gerichtete Sozialismus haben freilich nichts miteinander zu tun. Und da zwei einander feindliche Klassen zu Trägern der beiden Ideen wurden, da die erste eine rein bourgeoise, die zweite eine rein proletarische Sache schien, mussten beide einander feindlich erscheinen. Die Macht der Wirklichkeit schuf dann allerlei Konzessionen des einen Lagers an das andere, die wesentliche Trennung aber blieb, weil man nicht in jenen inneren Bezirk vordrang, in dem Nationalismus und Sozialismus eines sind.

Es ist ein schönes und günstiges Zeichen für die Lebenskraft des Zionismus, dass jüdische Arbeiter in Palästina schaffend und denkend diese lebendige Einheit fanden, Sie, die mit ihrer Arbeit die friedliche Eroberung der nationalen Heimat begannen, überwanden den künstlichen Zwiespalt, Sie wussten im Wirken für ihr Volk, dass es nur eine würdige Lebensform für dieses Volk geben kann, die Freiheit und Solidarität aller seiner Glieder im gemeinsamen Werk. Sie wussten zugleich, dass nichts so sehr Menschen zu binden vermag in die Gemeinschaft, die der Sozialismus erstrebt, wie die Gemeinsamkeit in Blut und Sprache, Geist und Aufgabe, die wir Volkstum nennen, Sie wussten, dass kein Volk so sehr wie das jüdische der Arbeit bedarf: um sich sein Land zu erringen und um aus der Unproduktivität, die es in der Diaspora schwach und wurzellos macht, erlöst zu werden. Sie wussten, dass diese Arbeit, um dem ganzen Volk innere Erneuerung in einer neuen Arbeitsgesinnung zu gewähren, von allen Gliedern der Nation getragen, von aller Ausbeutung befreit werden muss: das war das konkrete und besondere Motiv ihres Sozialismus wie der Wille zur Gerechtigkeit sein geistiges und allgemeines Motiv war. So war ihnen der Sozialismus die Atmosphäre, in der das Volk mit all seinen Zweigen blühen kann, die Nation die Gestalt, in der sozialistischer Geist sich ausstrahlen und auswirken kann. Und weil die Aufgaben des Volkstums wie die des Sozialismus für sie nicht in der Sicherung äußerer Macht und äußeren Erwerbs, sondern in der Sicherung innerer Freiheit und Würde und des gemeinsamen schöpferischen Lebens lagen, überwand ihr Nationalismus die Gefahr der Völkerverhetzung, ihr Sozialismus die der Klassenverhetzung.

Der Bund dieser nationalen Sozialisten ist Hapoël Hazaïr (der junge Arbeiter). Einer aus dem Bunde, der palästinensische Arbeiter A. D. Gordon, spricht in den Briefen dieses Buchs zu seinen Brüdern in der Diaspora. Die Briefe stellen keine systematische Theorie dar, obwohl sie voller Einsicht sind, keine taktische Erwägung, obwohl sie voll Spuren der Tat und voll Willen zur Tat sind. Sie können nur den Geist ausströmen, der vom Zwiespalt zur Einheit dringt und führt: den Geist, in dem Sozialismus und Nationalismus, in dem Wille zur Erkenntnis und Freude an der einfachen Arbeit, in dem Entwicklung der (einzelnen wie nationalen) Persönlichkeit und der (nationalen wie menschheitlichen) Gemeinschaft verwachsen sind, eins nur immer im andern möglich und fruchtbar. Mögen diese Briefe als erste deutsche Buchveröffentlichung aus dem Kreise des palästinensischen Hapoël Hazaïr Zeugnis sein von einem Bewusstsein, das nicht mehr abstrakt wirkt, sondern erfüllt ist mit den lebendigen Gegenständen der seelischen und stofflichen Wirklichkeit. Von einem wirtschaftlichen und politischen Leben, das nicht mehr mechanisch und entgeistet abläuft, sondern Sinn und Würde vom gemeinsamen Geist hat, der es beseelt und den es verwirklicht. Mögen sie Zeugnis sein von der Einheit, die wir in Zion für unser gespaltenes Volk und unser gespaltenes Leben suchen, und die einige in Arbeit und Opfer der Vorbereitung drüben schon gefunden haben.

Ludwig Strauß

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