Aus dem inneren Leben der deutschen Juden im Mittelalter

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Der nächste Text, den wir in Kooperation mit dem Lexikus Verlag vorstellen, stammt aus der Feder des Publizisten und Historiker Dr. Abraham Berliner und behandelt jüdisches Leben im Mittelalter…

Abraham Berliner wurde 1833 in Obersitzko in Polen geboren. Nach dem Examen am Hauptschullehrerseminar in Posen und seinem Talmudstudium promovierte er an der Universität Leipzig. Er gehörte 1869 zu den Mitbegründern der Austrittsgemeinde Adass Jisroel in Berlin. Dort wurde er als Dozent ans Orthodoxe Rabbinerseminar für jüdische Geschichte und Literatur berufen. Berliner war Gründer und Mitherausgeber des „Magazin für jüdische Geschichte und Literatur“ und Neugründer des Vereins „Mekize Nirdamin“ für die wissenschaftliche Edition hebräischer Handschriften. Abraham Berliner starb 1915 in Berlin. 

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Aus dem inneren Leben der deutschen Juden im Mittelalter

Nach gedruckten und ungedruckten Quellen. Zugleich ein Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte.

Autor: Berliner, Abraham Dr. (1833-1915) polnisch-deutscher Gelehrter, Literaturhistoriker, Publizist, Erscheinungsjahr: 1871

Seit mehreren Jahren mit der Erforschung des inneren Lebens der Juden in dem deutschen Mittelalter beschäftigt, konnte ich dem Wunsche des Vereins „Sephat Emet“, welcher die unter der Leitung des Rabbiners Dr. Hildesheimer hier studierende Jugend für wissenschaftliche Zwecke allwöchentlich zusammenführt, nicht widerstehen, Einiges aus den bereits gewonnenen Resultaten in einem Vortrage mitzuteilen. Dieser, mit zu einem Zyklus von Vorträgen gehörig, welche im verflossenen Winter zum Besten der Bibliothek des erwähnten Vereins vor einem größeren Publikum gehalten wurden, erscheint nunmehr in der nachfolgenden Schrift, allerdings erweitert und ergänzt. Mit Anmerkungen am Schlusse versehen, in welchen Quellen und Belege genau verzeichnet sind, soll damit vorzüglich zu weiterer Nachforschung angeregt werden. Gelingt mir eine solche Anregung, so würde ich zugleich die Aufgabe erfüllt sehen, welche ich mir als Ziel hingestellt habe. Dieses erreichte Ziel würde mich auch darüber Beruhigung finden lassen, dass es mir nicht immer gelingen wollte, im Laufe der Arbeit die Mühsal der Forschung so zu verhüllen, wie ich es wünschte. Wer übrigens nur annähernd weiß, mit welchen Schwierigkeiten diese Forschungen verbunden sind, wie ich häufig ein ganzes, compendiöses Werk durchgehen musste, um nur eine oder zwei gelegentlich hingeworfene Bemerkungen für meine Schrift aufheben und verwerten zu können, der wird die Form in meiner Darstellung eher entschuldigen als bemängeln. — Je mehr ich Vorarbeiten vermisst habe, um so förderlicher musste es mir sein, auf gewissen Pfaden dieses Gebietes eines weisen Führers mich erfreuen zu können. Zunz, in seinem ebenso gehaltsvollen als anregenden Werke „Zur Geschichte und Literatur“, hat auch für das innere Leben der Juden die Grundzüge in seiner prägnanten Weise gezeichnet und hierbei Fingerzeige zum Fortschreiten gegeben. Was ich seiner Darstellung wörtlich oder dem Sinne nach entnommen, habe ich dankbar angegeben, häufig auch nach anderen mir zugänglich gewesenen Quellen ergänzt.

Was die im Ganzen von mir benutzten Quellenschriften überhaupt betrifft, so waren es insonders einerseits die der Zeit des deutschen Mittelalters angehörigen Responsen-Sammlungen und sonstigen Werke der jüdischen Literatur, wie auch die Monatsschrift für die Geschichte und Wissenschaft des Judentums von Frankel, anderseits die in den verschiedenen Zeitschriften der deutschen Geschichtsvereine und in den unvergleichlichen mon. germ von Pertz zerstreuten, auch in den historischen Schriften von Stobbe, Kriegk, Neumann, Briegleb u. A. enthaltenen Mitteilungen über Juden und jüdische Verhältnisse, welche meine Arbeit gefördert haben. Ebenso war ich in der günstigen Lage, auch handschriftliche Quellen benutzen zu können. Die mit „cod. Non.“ bezeichneten Handschriften, der Königlichen Bibliothek zu München angehörig, hatte ich Gelegenheit, in dem Hause des Herrn Dr. Steinschneider naher kennen zu lernen. Die mit „cod. Halberstamm“ bezeichneten Handschriften, aus der Luzzatto’schen Sammlung herrührend, gehören jetzt dem rühmlichst bekannten Mäzen Herrn S. H. Halberstamm in Bielitz. Die mit „cod. Benzian“ bezeichneten Handschriften gehören zu der reichhaltigen Handschriftensammlung des Buchhändlers Julius Benzian. Ich nehme gerne Veranlassung, diesen drei Herren in einen aufrichtigen Dank für die Güte und Bereitwilligkeit, mit der sie mir die Handschriften für eine nähere Durchforschung überließen, abzustatten.

Dass ich diese Schrift zugleich als Beitrag für deutsche Kulturgeschichte bezeichnet habe, dürfte nicht für unrichtig befunden werden, da ich stets bemüht gewesen bin, gewisse Berührungspunkte des jüdischen Lebens mit dem seiner nichtjüdischen Umgebung — trotz Ab- und Ausschließung — nachzuweisen. Für einzelne Partien der deutschen Kulturgeschichte selbst habe ich reiche Belehrung aus dem klassischen Werke Weinholds „die deutschen Frauen in dem Mittelalter“ gewinnen können, wie mir auch die „Kostümkunde“ von Weih für die Darstellung der Tracht, worauf ich später noch einmal näher zurückzukommen gedenke, wesentliche Dienste geleistet hat. Ich kann hierbei den Wunsch nicht unterdrücken, dass alle die schönen Vorarbeiten und Monographien, welche wir nach dieser Richtung hin besitzen, recht bald zur Herstellung einer vollständigen Kulturgeschichte der Deutschen, der wir noch immer entbehren, führen mögen.

Es gewährte mir ein besonderes Vergnügen, in dieser Schrift meistens auf die fröhlichen Seiten im jüdischen Leben des Mittelalters hinweisen zu können, während man gewöhnt ist, aus diesen im Allgemeinen durch Rohheit und Gewalttat sich kennzeichnenden Zeiten nur von blutigen Szenen zu hören. Ebenso wird es mir als Akt der Pietät und Dankbarkeit gelten, in der nächstfolgenden Schrift — deren Erscheinen allerdings von der Aufnahme bedingt ist, welche die gegenwärtige Schrift finden wird — die Namen der Christen zu verzeichnen, welche in jenen Zeiten durch humane Gesinnung und edle Handlung für die verfolgten Juden als eine wirkliche Ausnahme glänzen. Diese zweite Schrift würde das Material für andere wichtige Kapitel der Kulturgeschichte nachweisen. Ich nenne als Überschriften derselben einstweilen nur „Aberglauben“, „Gemeindeverhältnisse“, „deutsche Sprache“, „Statistik“ und „Synoden.“

Noch hätte ich über die Grenzen in zeitlicher und räumlicher Beziehung Rechenschaft zu geben, welche mir bei der Bezeichnung „deutsches Mittelalter“ vorgeschwebt haben. Im Allgemeinen konnten die beiden letzten Jahrhunderte des Mittelalters, welche schon die neue Zeit vorbereiten, mehr berücksichtigt werden, weil in dieser Zeit gerade die ergiebigsten Quellen der Literatur sich uns erschließen. Als Ausgangspunkt des Mittelalters aber galt mir das letzte Viertel des fünfzehnten Jahrhunderts, in welchem u. A. die hebräische Presse ihre Tätigkeit eröffnete und ein Jude (Tipsiles in Augsburg) das Pulver erfunden haben soll, mit dem endlich begonnen werden konnte, in die noch immer hochragende Veste des Mittelalters Bresche zu schießen. In räumlicher Beziehung brauchte ich eine Grenzscheide nicht eintreten zu lassen; denn durch die jüngsten glorreichen (Ereignisse im Vaterlande hat sich wiederum ein deutsches Reich, wie es damals, allerdings unter ganz anderen Verhältnissen, bereits vorhanden war, gebildet. Es ist, was in früheren Zeiten gewesen, in unseren Tagen wieder sehnlichst gewünscht, nunmehr endlich glücklich erkämpft und verwirklicht worden „das ganze Deutschland soll es sein!“
Berlin, Ende Juli 1871. Berliner.

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Inhaltsverzeichnis/Kapitel
01. Das soziale Leben der Juden Deutschlands
02. Die Erziehung und Ausbildung der Kinder
03. Der Jugendunterricht der Knaben und Mädchen
04. Die Ausbildung und Unterrichtung der Jugend
05. Die sittenlosen und genusssüchtigen Zeiten
06. Spiele, Lustbarkeiten und sonstigen Vergnügungen
07. Die Gelegenheiten zur Belustigung und Abwechslung
08. Die Räumlichkeiten und Tischsitten
09. Die Hochzeitsfeste
10. Die Bedeutung von Gesang und Musik
11. Kleidung und Beschäftigung der deutschen Juden im Mittelalter
12. Der Lebensunterhalt der deutschen Juden in dem Mittelalter
13. Die jüdischen Ärzte und Apotheker im Mittelalter
14. Anmerkungen