Jiddischkeit unterm Roten Stern

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Moische Kulbaks Roman über die Schtetlgesellschaft in der jungen Sowjetunion…

„Wie man weiß, ist der Selmenianer so schlicht wie ein Stück Brot. Er fügt sich in alles, was geschieht, und lebt sein Leben“, lässt Moische Kulbak einen Protagonisten in seinem gleichnamigen Familienroman sagen. Die Selmenianer sind die Nachkommen von Reb Selmele, die auf dem Rebsehof leben. Das Anwesen, „ein altes zweistöckiges Haus mit bröckelndem Putz und zwei Reihen Häuser voller kleiner Selmenianer“, wird von vier Generationen bevölkert. „Im Sommer lässt sich der kleine Reb Selmele, nur mit langen Unterhosen bekleidet, bei Tagesanbruch als Erster blicken. Mal schleppt er einen Ziegelstein, mal schaufelt er Mist“, bevor der Rest der Mischpoche ihre Arbeit als Schneider, Gerber oder Uhrmacher aufnimmt.

Das Familienoberhaupt stammt aus dem „tiefsten Russland“ und hat mit seiner Frau Basche „unablässig Kinder bekommen, eines nach dem anderen, immer munter drauf los“. Sie alle, die Tonkes, Foljes, Hesjes, Chajes, Sorjes, Rasches und Itsches, leben nach den jüdischen Gesetzen und pflegen die Traditionen, die schon immer im Ansiedlungsrayon galten. Diese Region erstreckte sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer und war Heimat von rund 5 Millionen Juden.

Die Welt des klassischen osteuropäischen Schtetls existierte bis zum Zweiten Weltkrieg auf dem Gebiet des heutigen Polen, Litauen, Belarus, der Ukraine, Slowakei und Rumänien, wobei ihr Niedergang bereits im 19. Jahrhundert mit der Abwanderung von Hunderttausenden in Richtung Westeuropa und weiter in die USA eingesetzt hatte. Die Oktoberrevolution und die damit verbundene Machtübernahme der Sowjets brachte weitere Einschränkungen. Über diese Zeit, in der die Kommunisten die jüdische Kultur und Religion immer weiter zurückdrängten, die Chassidim zu klassenbewussten Arbeitern und Bauern erziehen wollten, erzählt der hierzulande kaum bekannte Schriftsteller Moische Kulbak. Er war ein Star der jiddischen Moderne und als Dichter bereits berühmt, als sein größtes Werk Die Selmenianer erschien.

Moische Kulbak (1928) Repro: Wikipmedia (Public Domain)

Der Erzähler und Lyriker Kulbak wurde 1896 in Smorgon bei Wilna geboren und schrieb schon während seiner Schulzeit zunächst in hebräischer, dann in jiddischer Sprache. Der Dichter lebte lange in Wilna, dem damaligen Zentrum der jiddischen Intellektuellen. In dieser Zeit entstand auch sein berühmtes Gedicht „Wilne“, eine Hommage an das „Jeruschalaim de Lite“, wie die Stadt auch genannt wurde. Aus politischen Gründen übersiedelte Kulbak 1928 in die Sowjetunion und schloss sich der „Minsker Gruppe“ an, einem sozialistisch-jiddischen Literatenzirkel. Anfänglich stand die Sowjetmacht einer modernen jiddischen Literatur positiv gegenüber – es entstanden jiddische Verlage, Theater und Zeitschriften. Doch der kurze Aufstieg der jiddischen Kultur zerschellte brutal an dem von Stalin verordneten sozialistischen Realismus. Wehe dem, der nicht dem Bild des „neuen Sowjetmenschen“ entsprach, sich dem vermeintlichen Sieg des Sozialismus in den Weg stellte, dieser hatte nichts zu lachen.

Plötzlich ist die alte Welt des Schtetls, mit ihren Traditionen und Bräuchen, mit unbekannten Techniken wie etwa der Elektrizität sowie der Lebens- und Arbeitsform des Kollektivs konfrontiert. Auch wenn der Einzug der Moderne seinen Reiz hat, blieb man skeptisch. „Die machen das Licht doch nur aus, damit man den Schwindel nicht sieht“, bemerkt eine Selmenianerin mit bitterer Ironie über ihren ersten Kinobesuch. Auch die frommen Juden lehnten die Elektrizität ab, sie wollen weiterhin beim Schein der Öllampe die Thora lesen und kommen überdies zu der Schlussfolgerung: „Genosse Lenin ist ein großer Mann, aber was versteht er von Glaubensdingen?“ Bald musste der Familienverband den Hof verlassen, seine bekannte jüdische Welt war damit für immer verloren.

Die Selmenianer erschien zunächst 1929 als Fortsetzungsroman in der jiddischen Zeitung „Stern“ und der erste Teil 1931 als Buch. Noch vor Veröffentlichung des zweiten Bandes fiel Kulbak in Ungnade, da sein Roman nicht der Doktrin des sozialistischen Realismus‘ entsprach – er forderte satirisch die Sowjetmacht unter Stalin heraus. Der familiäre Zusammenhalt seiner Protagonisten wäre stärker als die sowjetische Ideologie und seine Literatur diene nicht „der Ausstellung von Kuriositäten“, sondern ihrer „Erhöhung zur lebendigen Volkstradition“. Weiterhin wurde Kulbak angekreidet, dass er nicht gegen die Juden schrieb, sondern um das Verschwinden der jiddischen Kultur und ihrer Menschen trauere. Wegen des absurden Vorwurfs der „antisowjetischen Spionage“ wurde Moische Kulbak 1937 nach einem Schauprozess hingerichtet.

Moische Kulbak erzählt vergnüglich, anrührend, wehmütig und auch spöttisch die Geschichte einer Familie im Spannungsfeld zwischen jüdischer Tradition und „Sowjetmacht plus Elektrifizierung“, wie Lenin das kommunistische Experiment nannte. Der Roman Die Selmenianer lässt eine vergangene und vernichtete Welt vor unserem geistigen Auge auferstehen: ein buntes Panorama in klassischer jiddischer Erzähltradition – ein Lesevergnügen.

Abgerundet wird die Publikation mit einem informativen Nachwort der Jiddistin und Literaturwissenschaftlerin Susanne Klingenstein, die das Leben und Werk dieses großen Autors fachkundig nachzeichnet. – (jgt)

Moische Kulbak, Die Selmenianer, Berlin 2017, 397 Seiten, 42 €, Bestellen?