Chemnitz, Merkel und (k)ein abwegiger Vergleich

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Am 16.11.2018 besucht Angela Merkel Chemnitz. Es ist ein wunderbarer Herbsttag mit hellem Licht und klarer Luft…

Von Detlef zum Winkel
Leicht gekürzt zuerst erschienen bei: telepolis v. 17.11.2018

10 Uhr Alle großen Medien berichten über den eigenartigen Empfang, den die Chemnitzer OB, Barbara Ludwig, der Kanzlerin bereitet. Merkel komme zu spät.

10:03 Sie hätte viel früher erscheinen sollen. Für einen Spießrutenlauf wie vor drei Jahren in Heidenau? Gut geschützt von der loyalen sächsischen Polizei.

10:30 Na klar, Bild-online mit der Schlagzeile „Warum fahren Sie erst jetzt nach Chemnitz, Frau Merkel?“ Passend dazu nennt der Artikel den Treffpunkt der Wutbürger, organisiert von der rechtsradikalen Vereinigung Pro Chemnitz. Frau Ludwig hat den Boulevard bedient. Toller Erfolg für sie, dass sie so groß herauskommt.

10:33 Die OB ist Sozialdemokratin. Sehr hilfreich für die Erneuerung der SPD.

12 Uhr Frau Ludwig sorgt sich um eine angeblich falsche Berichterstattung über Chemnitz. Die Stadt habe jetzt im In- und Ausland einen Nazi-Ruf. Merkel solle das richtigstellen. Daran misst die OB Erfolg oder Misserfolg des Besuchs.

12:33 Wie mag es jetzt vor Ort aussehen? Sicher viel Polizei. Aber nur ein kleiner Fehler, eine kleine Unachtsamkeit der Ordnungskräfte und es kann zu einer direkten Konfrontation kommen. Und dann?

12:50 Ich versuche mir so ein Szenario konkret vorzustellen und habe unwillkürlich eine ganz irrige Assoziation: Es gab mal einen Regierungschef, Yitzhak Rabin, gegen den eine lang anhaltende Kampagne durchgeführt wurde, weil er sein Land verraten und verkauft habe. Infolge der extremen Anfeindungen wurde er vor 23 Jahren in Tel Aviv auf offener Straße erschossen. Sicherheitsleute standen daneben, konnten aber nicht schnell genug eingreifen.

12:55 Die israelische Rechte, die sich heftig an der Hetze gegen den Sozialdemokraten Rabin beteiligt hatte, gewann die nächsten Wahlen. Die israelische Linke gedenkt immer noch Jahr für Jahr an dieses Ereignis, zuletzt vor zwei Wochen. Aber sie hatte keine Antwort darauf. Sowas kann bei uns natürlich nicht passieren.

14 Uhr Die Freie Presse Chemnitz wird eine Leserdiskussion von 16 – 18 Uhr mit der Kanzlerin veranstalten. Sie hat einen liveticker mit Fotogalerie aufgemacht[i]. Demnach ist Frau Merkel eingetroffen und spricht mit jugendlichen Basketball-Spielern in einer Sporthalle. Ministerpräsident Kretschmar macht anscheinend den Conferencier. Frau Ludwig hält sich etwas abseits. Sie trägt auch eine Blazerjacke, gleiche Farbe wie die Kanzlerin. Dumm gelaufen.

14:12 Auf Twitter gibt es unter #Chemnitz ein paar spärliche Infos zum Geschehen.

14:15 Der rechtskonservative Blog Tichys Einblick nutzt den Hashtag für die Mitteilung, er habe die Frau gefunden, die am 26.8. „Hase, du bleibst hier!“ gerufen und das gleichnamige Video gedreht hat. Langer Artikel, hauptsächlich Selbstlob. Maaßen soll recht damit gehabt haben, dass es keine Hetzjagden gegeben habe. Das bezeugen Handybesitzerin Kathrin B. und Gatte Thomas B., dem ihr Ordnungsruf galt. Thomas ist also Hase, aber Thomas ist nicht Thomas, weil er seinen richtigen Namen aus Angst vor der Antifa nicht sagen möchte. Soweit ist es schon in Chemnitz. OB Ludwig, helfen Sie!

14:19 Die vermeintlichen Ausländer, die in dem Video Fersengeld geben müssen, hätten zuvor „provoziert“. Dabei soll auch Bier gespritzt sein, das einen verängstigten Bürger an der Jacke getroffen habe. Das erklärt natürlich Alles. Tichys Einblick kündigt ein Buch darüber an.

14:21 Der Einblick klingt vorsichtig ausgedrückt nach Tichys Beobachter. Zitat: „Der Platz ist auch lange nach der Tat immer noch von unzähligen Grablichtern und Blumengebinden umsäumt. Er wird von Anwohnern wochenlang auch nachts vor Antifa-Übergriffen bewacht.“ Die Antifa will sich an den Blumen für Daniel Hillig vergreifen? Kein Beweis, nicht einmal eine begründete Vermutung. Der Autor setzt einfach mal ein Gerücht in die Welt.

14:23 Sein Artikel beruft sich auf eine frühe Stellungnahme der Freien Presse Chemnitz, in dem die Redaktion erklärte, sie lehne es ab, von Hetzjagden zu sprechen[ii]. Wie Maaßen hat der Tichy-Schreiber die Stellungnahme nicht zu Ende gelesen: „Wenn aus dieser Differenzierung interessierte Gruppen und Medien nun ableiten, es sei alles halb so schlimm gewesen oder eine große Erfindung, dann ist das weder in unserem Sinne noch entspricht es der Wahrheit.“ Sie warnten also gerade vor dem, was Maaßen dann in BILD gemacht hat. Trotzdem hat er sie zu Kronzeugen ernannt. Vor Gericht wäre das ziemlich in die Hose gegangen.

16 Uhr Willkommenskultur. Demonstranten haben ein riesiges Transparent „Merkel muss weg!“ entfaltet. Wo ist Pegida-Bachmann?

16:03 Erinnerungskultur. Chemnitzer Bürger haben Stolpersteine vor dem Jahrestag der Reichspogromnacht am 9. November gereinigt. @SkaPiratin teilt mit, dass die Steine danach geschändet und nachhaltig beschädigt worden seien.

16:50 Die Freie Presse zählt 200 Pegida- und Pro Chemnitz-Anhänger. Wir sind das Volk mit einer ganz starken Vorstellung.

17 Uhr Endlich beim MDR die live Übertragung der von der Freien Presse veranstalteten Diskussion gefunden. Frau Merkel äußert Verständnis für die Empörung über die Gewalttat, der Daniel Hillig zum Opfer fiel. Das rechtfertige keine Straftaten auf rechtsextremistischen Demonstrationen. Sie begrüßt es, dass viele Chemnitzer Bürger sich auf Gegenkundgebungen gezeigt und einen Trennungsstrich dazu gezogen hätten. Demokraten müssten sich vom Rechtsextremismus distanzieren.

17:05 Was sie gegen das negative Image der Stadt unternehme, wird Merkel gefragt. Die Antwort überrascht. Chemnitz ist für sie nichts Besonderes. „Ach, wissen Sie, diese Auseinandersetzungen haben wir doch in jeder Stadt“. Leider wahr.

17:10 Merkel stellt sich als Politikerin dar, die unermüdlich – und mit Erfolg – daran arbeite, die Flüchtlingszahlen zu reduzieren. Nachdrücklich verteidigt sie ihre Vereinbarungen mit Erdogan. Sie erweckt den Eindruck, dass die Flüchtlinge, die es heute noch bis in die Bundesrepublik schaffen, hauptsächlich „Illegale“ seien. Von Seehofer unterscheidet sie sich allenfalls darin, dass sie den UN-Migrationspakt vehement verteidigt.

17:15 Bild-online fragt erwartungsvoll „Bekommt Merkel jetzt den Chemnitz-Frust zu spüren?“ Eher nicht. Die Veranstaltung ist für die Regierungschefin deutlich gemütlicher als das britische Unterhaus für Theresa May.

17:30 Die Polizei gibt die Teilnehmerzahl bei Pro Chemnitz jetzt mit 500 – 550 an. Später korrigiert sie die Zahl auf 2500 Menschen.

18 Uhr Martin Kohlmann, Sprecher von Pro Chemnitz, droht mit der Aufstellung von Bürgerwehren. Er vergleicht die Situation mit den Jahren nach dem dreißigjährigen Krieg um 1650. Damals wie heute marodierten ehemalige Soldaten durch die Lande.

18:02 Für die Region, in der ich lebe, kann ich das nicht bestätigen.

18:06 Er nennt als Teilnehmerzahl seiner Kundgebung 5000. Seine Anhänger rufen „Das ist unser Land“.

18:15 In den Grenzen von 1650.

20 Uhr Wie bin ich überhaupt auf Rabin gekommen? Echt abwegig. Andererseits ist es immer gut, an Rabin zu erinnern.

Bild oben: Chemnitz um 1750. Rekonstruktion der ummauerten Stadt Chemnitz um 1750 von Lehrer K. Haustein von 1907.

[i] https://www.freiepresse.de/chemnitz/liveticker-das-geschehen-zum-merkel-besuch-in-chemnitz-artikel10365686

[ii] https://www.freiepresse.de/chemnitz/chemnitz-darum-sprechen-wir-nicht-von-hetzjagd-artikel10299149