Kulturkampf in Beit Shemesh

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Die aufstrebende Stadt am Fuße der Judäischen Berge ist zum Problemfall der besonderen Art geworden, weil Ultraorthodoxe allen anderen Bewohnern ihren Lebensstil aufzwingen wollen. Eine neue Bürgermeisterin soll das nun ändern…

Von Ralf Balke

Selten waren Kommunalwahlen in Israel so spannend wie in diesem Jahr. Denn als die Bevölkerung des Landes am 30. Oktober an die Wahlurnen ging, um darüber zu bestimmen, wer in den 251 Städten und Gemeinden für die kommenden fünf Jahre das Sagen haben soll, kam dabei Einiges an Überraschungen heraus. Nicht nur in Haifa konnte die 48-jährige promovierte Architektin und Stadtplanerin von der Arbeiterpartei als erste weibliche Kandidatin in einer der drei großen Städte überhaupt den bereits 15 Jahre regierenden Bürgermeister Yona Yahav von der zentristischen Kulanu-Partei vom Thron stoßen. Das gelang ihr bemerkenswerterweise nur mit der Unterstützung der Ultraorthodoxen, weil diese mit dem Amtsinhaber im Dauerclinch lagen und deshalb bereit waren, sogar eine Frau zu wählen.

Auch in Beit Shemesh, einer 1950 in der Schefela-Region am Fuß der Judäischen Berge gegründeten Entwicklungsstadt mit heute über 110.000 Einwohnern schaffte es, die Herausforderin Aliza Bloch in einem Wahlkrimi, der die ganze Nacht andauern sollte, den amtierenden orthodoxen Bürgermeister Moshe Abutbul mit wenigen hundert Stimmen Vorsprung zu überrunden. „Heute Nacht schauten die Israelis auf unsere Stadt und wachten mit neuer Hoffnung auf“, erklärte sie tags darauf, als das amtliche Endergebnis feststand. „Beit Shemesh hat sich dazu entschlossen, endlich die Mauern niederzureißen und alles Trennende zu überwinden. Schließlich waren es bis heute vor allem die Extremisten von den Rändern unserer Gesellschaft, die den Diskurs bestimmen und uns daran hinderten, sich wirklich um die Menschen zu kümmern.“

Denn gemessen an ihrer Größe und wirtschaftlichen Relevanz produziert die Stadt seit geraumer Zeit überdurchschnittlich viele Schlagzeilen, und zwar keine sehr positiven. Regelmäßig kam es in der Vergangenheit zu Übergriffen auf Frauen, die gemäß den Vorstellungen einer selbsternannten Sittenpolizei zu „freizügig“ gekleidet waren. Sogar Kinder wurden attackiert, wenn sie sich nicht einem äußerst rigiden Dress Code unterwerfen – so wie 2011 beispielsweise die 8-jährige Naama Margolese. Eine ganze Gruppe von Haredim beleidigte und bespuckte das Mädchen, als es auf dem Weg zu seiner Schule war, die nahe eines von Ultraorthodoxen bewohnten Viertels liegt. Und im Juli diesen Jahres sorgte ein Video für Aufsehen, das dutzende Haredim zeigt, wie sie eine Treibjagd auf einige junge Frauen durch die ganze Stadt unternehmen. Der Grund: Sie trugen Shorts und T-Shirts. „Es ist schrecklich“, empörte sich danach Miri Shalem, eine Frauenrechtlerin, die das Video im Netz teilte. „Offensichtlich finden regelrechte Massenpöbeleien gegen Mädchen und Frauen statt, die sich angeblich >unsittlich< verhalten würden.“ Und es bleibt selten bei Verbalattacken. Wie eines der Opfer berichtete, hatten die Männer Pfefferspray dabei. „Damit haben sie dann meine Schwester angegriffen“, erzählt die junge Hadassah, die ihren Nachnamen lieber nicht nennen wollte, der Presse. Ganz offensichtlich gehen die Haredim alles andere als spontan zur Sache, sondern sind bestens vorbereitet. Und die Polizei tut sich mehr als schwer, die übergriffigen Ultraorthodoxen in die Schranken zu verweisen. Nicht nur Hadassah ist deswegen bereits umgezogen. „In ein nicht von den Haredim kontrolliertes Viertel des Stadt.“ Aber nicht jeder hat die finanziellen Mittel, um sich sofort eine andere Bleibe zu suchen. Und die Zahl der Haredim in der Stadt wächst kontinuierlich, weshalb der Wohnungswechsel in andere Gegenden von Beit Shemesh die Situation für nicht-religiöse Israelis nur temporär verbessern kann. Viele verlassen die Stadt daher lieber ganz.

Heute machen die Haredim knapp die Hälfte der Gesamtbevölkerung von Beit Shemesh aus. Schon 2010 stammten bereits 63 Prozent aller Schulkinder aus ihren Familien – der Anteil dürfte seither weiter gestiegen sein. Vor allem in den als Beit Shemesh Bet und Dalet bezeichneten Vierteln dominieren heute Familien aus der Gruppe der HaEda HaHaredit, zu deutsch: Gemeinde der Gottesfürchtigen, einem besonders streng religiösen und zugleich antizionistischen Zweig der Orthodoxie. Sie haben Beit Shemesh gezielt als Ort ausgesucht, um sich dort niederzulassen. Aber eine friedliche Koexistenz mit anderen Strömungen des Judentum oder gar säkularen Israelis steht bei ihnen nicht auf dem Programm. So reagierten sie 2011 anlässlich der Eröffnung der nationalreligiösen Mädchenschule Orot Banot mit gewalttätigen Protesten, pöbelten die Schülerinnen an und verletzten zudem einige Teenager aus der benachbarten Schule für Jungen. Das alles wiederum missfiel den Eltern der Schüler, weshalb es zu mehreren Schlägereien mit den Gottesfürchtigen kam, die die Polizei nur mit Mühe in den Griff bekam. Aus Solidarität mit der Mädchenschule erschienen anschließend sogar 10.000 Israel aus dem ganzen Land zu einer Demonstration. 2015 hatten zudem mehrere Frauen erfolgreich vor Gericht geklagt, weil sie die in vielen Vierteln der Stadt aufgestellten Schilder, die sie zu einem „sittsamen“ Kleidungsstil aufforderten, als illegal betrachteten. 15.000 NIS Strafe, rund 3.500 Euro, sollten Bürgermeister Moshe Abutbul sowie die Stadtverwaltung daraufhin an die Frauen zahlen, weil die Schilder mit ihrer Billigung dort hängen konnten. Doch die Haredim lassen sich von weltlichen Gerichten schwerlich beeindrucken, weshalb die frauendiskriminierenden Schilder im öffentlichen Raum nicht entfernt wurden, was wiederum zu erneuten Gerichtsverfahren führte. „Ich glaube, ich bin bald der Letzte meiner Art“, kommentierte Motti Malka, ein 60-jähriger Bewohner der Stadt, der sich religiös als traditionell bezeichnet und bereits im Alter von vier Jahren nach Beit Shemesh kam, die Entwicklung. „Bald sind hier die Ultraorthodoxen in der absoluten Überzahl.“ Auch das christliche Beit Jamal Kloster in der Nähe der Stadt wurde bereits mehrfach verwüstet. Die Täter vermutet die Polizei in den Reihen juveniler Haredim.

In den Anfängen der Stadt wohnten dort vor allem Zuwanderer aus dem Iran, Irak oder Marokko. Später ließen sich auch Juden aus der Ex-Sowjetunion und Äthiopien hier nieder. Dann kamen in den 1990er Jahren die Ultraorthodoxen hinzu, weil Wohnungen und Häuser in Beit Shemesh deutlich günstiger als in Jerusalem zu haben waren und die Heilige Stadt trotzdem nur ein Katzensprung entfernt ist. „Aber selbst das war kein Problem“, erinnert sich Motti Malka, der viele Jahre bei der Stadtverwaltung angestellt war. „Man hatte viel Geduld und Toleranz füreinander.“ Doch damit war bald Schluß, als die Zahl der Haredim immer größer wurde und sie begannen, den anderen Bewohnern der Stadt das Leben zur Hölle zu machen. Ganze neue Viertel exklusiv für die vielen zuwandernden Ultraorthodoxen wurden gebaut, was die Attraktivität von Beit Shemesh genau für dieses Klientel natürlich weiter steigerte. Arial Atias, von 2009 bis 2013 Bauminister von der ultraorthodoxen sefardischen Shass-Partei im Kabinett von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, und sein einflußreicher Parteikollege Eli Yishai, förderten genau diesen Trend. Und Shass stellte bis vor wenigen Tagen mit Meir Abutbul auch den Bürgermeister der Stadt. Dov Lippman, der zwei Jahre für die zentristische Yesh Atid-Partei in der Knesset saß, in Beit Shemesh wohnt und selbst Rabbiner ist, sprach deshalb bereits von einem „Kampf um die Hügel der Stadt“.

Die rigide Trennung der Geschlechter steht weiterhin ganz oben auf der Agenda der Haredim. So setzten sie diese in der Gesundheitsversorgung sowie im öffentlichen Nahverkehr teilweise bereits durch. So verkehrten in Beit Shemesh zeitweilig sogenannte Mehadrin-Bussen, in denen Frauen und Männer separat voneinander sitzen müssen. Zwar hatte 2011 der Oberste Gerichtshof entschieden, dass diese Geschlechter-Apartheid gegen das Gesetz sei, aber eine Lücke offengelassen, die den Betrieb dieser Busse au freiwilliger Basis eine Weile erlaubte. Auffällig ist in diesem Kontext immer wieder das Auftreten einer Sikrikim genannten und besonders radikalen Gruppe unter den Haredim. Auch eine weitere Sekte aus dem Kreis der extrem Frommen hat sich Beit Shemesh als Zentrum ihres Gemeindelebens auserkoren, und zwar Lev Tahor, zu deutsch: Reines Herz. Ihre weibliche Anhängerschaft verlässt nur komplett verschleiert in einer Mischung aus Burka und Niqab das Haus, weshalb sie sich bereits den Namen „Taliban-Mütter“ eingehandelt haben. Zwar sind sich Lev Tahor und die anderen Haredim in inniger Abneigung miteinander verbunden, was die Sache für Beit Shemesh aber nicht unbedingt einfacher macht.

Die Mehrheit der Bewohner hat die ständigen Gängeleien durch die Haredim und ihr Umfeld wohl definitiv satt. Deswegen fiel die Wahlbeteiligung deutlich höher aus als zuletzt bei den Kommunalwahlen 2013. Und weil Aliza Bloch selbst einen religiös-zionistischen Hintergrund hat, trauen ihr die meisten wohl auch zu, einen Draht zu den Haredim aufzubauen – selbst als Frau. „Nur sie kann einen Wandel in Beit Shemesh einleiten“, bringt ein Sicherheitsbeamter in einem Gespräch mit der Tageszeitung Haaretz die Wechselstimmung der Einwohner auf den Punkt. „Bloch kann sich auch um die Belange der Ultraorthodoxen kümmern, aber sie ist nicht ihre Marionette wie der bisherige Amtsinhaber.“ Ob ihr das wirklich gelingt, das wird sich erst ein den kommenden Monaten zeigen. Einfach wird das nicht. Das bisherige Auftreten der Haredim signalisiert nicht unbedingt Kompromissbereitschaft.