Espresso, Jom Kippur und das reine Gewissen

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Meine Koffeinsucht ist in der Familie eine stete Quelle der Belustigung. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – hat mein stets auf das Wohlergehen seiner Mutter bedachter Sohn mir eine Kaffeemaschine geschenkt…

Von Anita Haviv -Horiner

Allerdings passierte mir gestern am frühen Morgen ein großes Missgeschick. Ich stand schlaftrunken auf, stürzte zur Maschine, schob die Kapsel ein und drückte auf den Knopf. Nada, nothing, nichts, rien….. Die Panik ergriff meinen benebelten Kopf.

Zumindest schaffte ich es noch, meinen Sohn anzurufen und ihm mein Leid zu klagen. Daniel erfasste blitzschnell den Ernst der Lage, rief beim Kundendienst an und hielt mich parallel in der Leitung. Nie habe ich mein Kind mehr geliebt als in diesem Moment.

Die freundliche Kaffee-Expertin bombardierte mich dermaßen mit Fragen, dass mir der ohnehin schmerzende Kopf platzte. Aber ich bemühte mich sehr, das Kreuzverhör tapfer über mich ergehen zu lassen.

Während wir alle Ecken und Enden der Maschine untersuchten, fiel mein Blick plötzlich auf den Wasserbehälter. Er war leer, leer, leer – wie mein Kopf. Kein Tropfen Wasser. Diese Entdeckung war mir so peinlich, dass ich schlagartig auch ohne Kaffee aufwachte. In meiner Seele tobte ein innerer Kampf.

Sollte ich meinen beiden Helfern – einer mein eigen Fleisch und Blut – ein blamierendes Geständnis ablegen? Wie würde ich denn dastehen? Obwohl ich sonst eine Wahrheitsfanatikerin bin, beschloss ich die Fassade der kaputten Maschine weiter aufrecht zu erhalten.

Allerdings schüttete ich – parallel zum Gespräch – lautlos Wasser in den Behälter. Dann drückte ich auf den Knopf und siehe da: das braune Gold floss in die Tasse. Der technische Beraterin gratulierte ich überschwänglich zu ihrem perfekten Know-How und hängte sie rasch ab, meinen Sohn auch. Dann tröstete ich mich mit vier Tassen köstlichen Espresso.

Doch das schlechte Gewissen lastete auf meiner ohnehin zart besaiteten Seele. Denn dieses Malheur musste mir ausgerechnet in der Zeit zwischen dem jüdischen neuen Jahr und dem Fastentag Yom Kippur passieren, in der Zeit der Reue, der Umkehr und der Reinigung von allen Sünden. Die Erinnerung an die Taschlich-Zeremonie aus meiner Kindheit in Wien holte mich ein. Damals hatte ich mit meinen religiösen Freundinnen aus der Jugendbewegung meine Sünden symbolisch in der Donau versenkt. Besonders belastete mich dabei der Gedanke, dass das Taschlichgebet nicht nur ein Flehen um Vergebung und Vergessen der Sünden darstellt, sondern Gott auch um Frieden und die Erfüllung aller Wünsche anfleht. Schließlich hatte ich mein eigenes Kind wegen einer Tasse Kaffee angelogen.

Die Aussichten auf eine hoffnungsvolle Zukunft wollte ich mir nun doch nicht verbauen, deshalb gestand ich meinem Sohn betreten die Wahrheit. Daniel, wie immer sehr stoisch, nickte nur und enthielt sich jeglichen Kommentars. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass er das Alles ohnehin schon längst geahnt hatte. Seine Schwester hingegen setzte nicht auf vornehme Zurückhaltung. Sie sagte in vorwurfsvollem Ton: “Wieso wundert mich das jetzt gar nicht?”

Meine mütterliche Autorität dürfte zwar arg ins Wanken gekommen sein, doch mein Gewissen ist jetzt blütenrein. Frohen Herzens kann ich Yom Kippur empfangen und dem neuen Jahr optimistisch entgegenblicken.

Shana Tova!