Thessaloniki – Looking at time through moments

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Thessaloniki hat viele Namen: Thessaloniki, Selânik, Salónica oder Solun. Lange war es eine multikulturelle Stadt, in der Christen, Juden und Muslime, Griechen, Makedonier oder Türken zusammenlebten. Es ist und war aber auch ein Ort der Migration, der Flucht, des Verlustes, der Diaspora und der neuen Heimat. Heute versteht sich Thessaloniki als europäische Stadt und reflektiert die gemeinsame europäische Kulturgeschichte zwischen Orient und Okzident ebenso wie seine Bedeutung für die historische und zeitgenössische Migration…

Von Yvonne de Andrés

Vier Wochen steht die nordgriechische Stadt Thessaloniki im Fokus der 15. Europäischen Kulturtage im Museum für Europäische Kultur in Dahlem. „Herzstück“ ist die Fotoausstellung „Thessaloniki: Looking at time through moments – Photographs 1900–2017“, kuratiert von Hercules Papaioannou, dem Direktor des Museums für Fotografie in Thessaloniki. Die Ausstellung wird von einem umfangreichen Veranstaltungsprogramm begleitet.

50 Schwarz-Weiß-Bilder zeigen 50 Momentaufnahmen aus der Geschichte der Stadt. „Die Menschen stehen im Mittelpunkt, weil wir als Museum der Alltagskulturen natürlich ganz nahe am Menschen sind“, erläutert die deutsche Kuratorin der Ausstellung, Irene Ziehe. Die Ausstellung bildet in ihrer Chronologie auch eine Geschichte der Fotografie ab. Für ein deutsches Publikum ist es jedoch sehr schwierig, diese fotografischen Momentaufnahmen der Stadtgeschichte richtig zu deuten. Es fehlen hierzu in der Ausstellung der geschichtliche Überblick und die Geschichten hinter den Bildern.

Das Jerusalem des Balkans

Bis zum Zweiten Weltkrieg war Thessaloniki mit seiner großen jüdisch-sephardischen Gemeinde eine der wichtigsten jüdischen Städte außerhalb des Nahen Ostens. Es ist das einzige bekannte Beispiel in der jüdischen Diaspora, dass in einer Stadt dieser Größe die jüdische Bevölkerung die Mehrheit für mehrere Jahrhunderte bewahrte.

Mit der Geschichte Thessalonikis sind verschiedene jüdische Einwanderungswellen aus ganz Europa verbunden, die auf die Vertreibung der Juden aus Spanien nach der Eroberung Granadas 1492 durch die katholischen Könige folgten. 1520 stellten die Juden 57 Prozent der Bevölkerung von Thessaloniki, und bereits 1614 waren es 68 Prozent. Das goldene Zeitalter erlebte die Gemeinschaft im 16. Jahrhundert, danach folgte ein relativer Niedergang bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts.

Das 20. Jahrhundert ist von einer Reihe tragischer Ereignisse geprägt. 1912 erobert die griechische Armee Thessaloniki, und erste Boykotte von jüdischen Geschäften finden statt. Der große Brand von 1917 zerstört weitgehenddas jüdische Viertel. Ab 1922 verschlechtert sich die Lage der Juden in Thessaloniki noch einmal deutlich. Ein weiterer Höhepunkt antisemitischer Ausschreitungen ist 1931das Abbrennen des neuen jüdischen Viertels „Camp Campbell“.Unter dem Diktator Ioannis Metaxas flaut der Antisemitismus leicht ab. Doch dieser entzündet sich erneut mit dem Eintritt Griechenlands in den Zweiten Weltkrieg 1940 und steigert sich ab dem 9. April 1941 mit dem Einmarsch der Wehrmacht.

Die deutsche Wehrmacht besetzt Thessaloniki im Zweiten Weltkrieg und zerstört die jüdische Tradition der Vielvölkermetropole. 50.000 Menschen wurden deportiert, nahezu alle ins KZ Auschwitz, und ermordet. Unter der deutschen Besatzung überlebten nur 1.783 Juden aus Thessaloniki. Diese Überlebenden der Todeslager kamen nach 1945 nicht wieder in die Stadt zurück.

1997 war Thessaloniki die Kulturhauptstadt Europas. Seitdem findet ein Prozess der Rückbesinnung auf die Geschichte und die Multikulturalität der Stadt statt. Im gleichen Jahr wurde an der „Platia Elefteria“ (Freiheitsplatz), wo die Juden 1942 zusammengetrieben und zur Zwangsarbeit verpflichtet worden waren, ein Denkmal für den Holocaust errichtet.Das jüdische Erbe der Stadt wird weiterhin gerne verschwiegen. Heute ist das Leben in Thessaloniki jung, bunt, vibrierend, europäisch und versucht, an seine multikulturellen Wurzeln anzuknüpfen.

Thessaloniki 50 Momentaufnahmen

Können Momentaufnahmen die Geschichte einer Stadt wirklich erzählen? Das berühmte GoetheZitat: „Man sieht nur, was man weiß. Eigentlich: Man erblickt nur, was man schon weiß und versteht“, ist keine leere Floskel. Die Ausstellung durchstreift die Geschichte ab 1900 bis 2017, wobei viele Zäsuren als Moment aufgenommen werden.

Auf einem der ersten Fotos, einer Fotografie von 1913 von Fred Boissonnas, ist ein Turm der Stadtmauer zu sehen. Mein Blick streift dabei über die Stadt, den Turm und das Meer. Scheinbar ist auf dem Bild alles idyllisch. Weit gefehlt. Die Legende ermöglicht hierüber keinen wirklichen Aufschluss. „Nordostseite der Mauer Anfang des 20. Jh. in Richtung Osten. Während des 20. Jh. erweitert sich die Stadt langsam in diese Richtung.“ Die nicht erzählte Geschichte ist die, dass sich neben dem Turm der „alte jüdische Friedhof“ befand. Dieser gehörte zu den größten Europas mit geschätzt ca. 300.000 bis 500.000 jüdischen Gräbern und war größer als der in Prag. Die Nazis verkauften ihn, und danach wurde er zerstört und nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich bebaut.

Eine Gruppe junger jüdischer Pfadfinder auf einer Reise zur Teleki-Station (Sindos) wurde von einem unbekannten Fotografen 1929 fotografisch festgehalten. Hier wird in der Legende darauf hingewiesen, dass in diesen Zügen die Deportation der jüdischen Bevölkerung erfolgte. Die Fotografie eines unbekannten Fotografen, entstanden zwischen 1941 und 1944, zeigt ebenfalls ein harmonisches Bild. Irene Ziehe erläutert: „Auf diesem Bild aus der Zeit der deutschen Besetzung Griechenlands sieht man eigentlich eine sehr friedliche Straßenszene.“ Die Legende lautet: „Auf den Stufen der Nationalbank während der Besatzungszeit. Ein Straßenmaler und ein deutscher Offizier mit Zuschauern.“ Auch hier erfolgt keine Einordnung der Fotografie, und sie ist als Bilddokument für die grausame Besatzungszeit unbefriedigend.

„Sie müssen bitte diese Ausstellung im Zusammenhang mit den Veranstaltungen, die wir dazu machen, sehen“, so Irene Ziehe. Es wäre wichtig gewesen, Literatur oder ein begleitendes Booklet zur Geschichte Thessalonikis in der Ausstellung auszulegen, denn nicht jeder Besucher der Ausstellung wird auch am Begleitprogramm teilnehmen. Das vielfältige Veranstaltungsprogramm thematisiert in den unterschiedlichsten Facetten die Multikulturalität, den kulturelle Reichtum, die Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs von griechischer wie deutscher Seite, die Krise, Migration und Diaspora. Musik und kulinarische Entdeckungen runden das Programm ab.

Die „Europäischen Kulturtage 2018: Thessaloniki“ sind ein Projekt des MEK in Kooperation mit der Botschaft von Griechenland in Deutschland, dem Museum für Fotografie in Thessaloniki, der Heinrich-Böll-Stiftung in Thessaloniki, dem Zentrum Modernes Griechenland an der Freien Universität Berlin, Hellas Filmbox, dem Verein „Respekt für Griechenland e.V.“ und den griechischen Communitys in Berlin.

Auf einen Blick

Was: Europäischen Kulturtage 2018: Thessaloniki
Wann: Do, 09.08.2018 bis So, 09.09.2018
Öffnungszeiten: Di – Fr. 10.00 bis 17.00 Uhr, Sa. und So. 11.00 bis 18.00 Uhr
Wo: https://www.smb.museum/museen-einrichtungen/museum-europaeischer-kulturen/ausstellungen/detail/thessaloniki-looking-at-time-through-moments-photographs-1900-2017.html
Eintritt: 8,00 EURO Ermäßigter Preis: 4,00 EURO

Adresse: Museum Europäischer Kulturen, Arnimallee 25, 14195 Berlin-Zehlendorf

Auf zwei politisch spannende Veranstaltungen möchte ich hinweisen:

Film | Podiumsdiskussion

Salonica– das untergegangene und vergessene „Jerusalem des Balkans“

Termin: Do 23.08.2018 18:00 Uhr – 20:00 Uhr
Ort: Museum Europäischer Kulturen

Vortrag | Film | Podiumsdiskussion

Das Thessaloniki der Solidarität in Zeiten der Krise

Termin: Sa 25.08.2018 16:00 Uhr – 18:00 Uhr
Ort: Museum Europäischer Kulturen

Das komplette Programm: https://www.smb.museum/veranstaltungen/veranstaltungsreihe.html?tx_smb_pi1%5BeventSerie%5D=64828&cHash=2dbe85a670c267aa3cef59a7b7ec0f0a

Fotos: Yvonne de Andrés

Mehr zum Thema bei haGalil:
https://www.hagalil.com/europa/griechenland/ueberleben.htm 
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