„Ein Stück kleines Emigrantenelend“

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Vor und während der Nazizeit unterhielten Sigmund Freud und seine niederländische Kollegin Jeanne Lampl-de Groot einen Briefwechsel…

Von Roland Kaufhold
Eine kürzere Version erschien zuerst in: Jüdische Allgemeine vom 16.08.2018

Jeanne Lampl-de Groot, 1895 als dritte von vier Töchtern im niederländischen Schiedam geboren, war eine niederländische Psychoanalytikerin. Bekannt wurde sie als Analysandin und spätere Weggefährtin von Sigmund Freud. Im Sommer 1921, nach dem Abschluss ihres Medizinstudiums, schreibt Jeanne ihren ersten Brief an Freud, um wegen einer Analyse anzufragen. Von 1922 bis 1925 machte sie ihre Analyse. In den folgenden Jahren vertiefte sich Jeanne Lampl-de Groots Freundschaft mit Sigmund wie auch mit der gleichfalls 1895 geborenen Anna Freud. Die von Gertie F. Bögels herausgegebene Briefkorrespondenz dauerte 18 Jahre an, bis zu Freuds Tod. 76 Briefe Freuds sind erhalten geblieben.

Jeanne Lampl-de Groot, (c) Archiv von Edith & Robert Berkovits-Lampl

1922 geht Jeanne nach Wien, um ihre Analyse zu beginnen. Dort freundet sie sich mit dem jüdischen Psychoanalytiker Hans Lampl an, der zu diesem Zeitpunkt am Berliner Institut arbeitet. Drei Jahre später heiraten die beiden. Im Februar 1925 geht sie nach Berlin und setzt dort ihre psychoanalytische Ausbildung fort. 1933 fliehen die Lampls vor der faschistischen Gefahr nach Wien. 

Auch Freud hatte ihnen hierzu geraten. Dort können sie nur knapp fünf Jahre bleiben: Parallel zur Flucht Freuds nach England fliehen sie im März 1938, »unter Zurücklassung ihres gesamten Wiener Besitzes«, vor den deutschen Nationalsozialisten weiter nach Den Haag. 

Die Situation der Psychoanalyse in den demokratischen Niederlanden unterschied sich sehr von der durch »Selbstanpassung« gekennzeichneten Situation in Deutschland und Österreich. Mit der Besetzung der Niederlande durch Deutschland im Mai 1940 verstärkt sich der Druck auf die jüdischen Analytiker. Als diese behördlicherseits aus der Vereinigung ausgeschlossen werden, »kündigten die Mitglieder kollektiv ihre Mitgliedschaft«. Die niederländische psychoanalytische Vereinigung löst sich auf, die Ausbildung findet nun im Untergrund statt. Der Analytiker Karl Landauer wird in das Durchgangslager Westerborg, dann nach Bergen-Belsen deportiert, wo er Anfang 1945 stirbt. 

FREUNDSCHAFT 

Freud nimmt von Anfang an in direkter Weise Kontakt mit Jeanne Lampl-de Groot auf. Gleich im ersten Brief vom 11. September 1921 gibt er ihr konkrete, ermutigende Empfehlungen. Als er der Freundschaft zwischen Jeanne und Hans Lampl gewiss ist, geht Freud 1925 zum Du über und wünscht »Euch beiden die Fortdauer alles Guten!«. 

Als sich andeutet, dass sie Eltern werden, versichert er ihr, dass »Sie beide sehr glückliche und närrische Eltern sein« werden: »Ihr Töchterchen ist eine kleine beauty und hat mir gerade mit ihrem ernsthaften Ausdruck besonders gut gefallen. Eine Schönheit braucht nicht zu lachen.«

In den Jahren der rassistischen Bedrohung bricht Freuds Zorn gegen die politisch »linken« Psychoanalytiker und Weggefährten durch: »Gleichzeitig habe ich den Kampf gegen die bolschewistischen Angreifer, Reich, Fenichel, begonnen. Meine nächste Absicht ist, die Redaktion zu wechseln und nach Wien zu verlegen.« Keine drei Wochen später tobt er über seine linken Kollegen: »Überall Umsturz und Unordnung.« 

Am 17.1.1932, als Freud die Bedrohung der Nationalsozialisten zunehmend spürt und in seiner Weise darauf reagiert, empört er sich über die geringe verlegerisch-ökonomische Kompetenz von Adolf Josef Storfer, Geschäftsführer seines psychoanalytischen Verlages: „Seine Mißwirtschaft hat alles ruiniert“, schreibt Freud an Jeanne.

Am 2. März 1932 schreibt er offenherzig: »Gegen Fenichel habe ich eine schwer zu beschwichtigende Abneigung, auch wenn er sich von Reich abgewandt hat.« Zwei Wochen später gibt es Erfreulicheres zu berichten: Besuch von Thomas Mann. »Er ist ein reizender Mensch, nach ersten fünf Minuten konnte man mit ihm intim sein.« 

JUDENHETZE 

Freuds Sorgen nehmen zu. Ende April schreibt er: »Die Zeiten sind eigentlich fürchterlich schlecht und ganz ohne Garantie einer erträglicheren Zukunft.« Am 1. Februar 1933 eine Bemerkung zu Hitler: »Wir sind alle gespannt darauf, was aus dem Programme des Reichskanzlers Hitler werden wird, dessen einziger positiver Punkt ja die Judenhetze ist.«

Neun Tage später ein Hinweis auf seinen berühmt gewordenen Briefwechsel mit Albert Einstein Warum Krieg?: „Auch sie“ – ihre gemeinsame Diskussion – „wird die Menschheit nicht retten. Ja, warum macht Einstein solche Dummheiten wie mit dem Glaubensbekenntnis und andere Überflüssigkeiten? Vielleicht, weil er so gutmütig und weltfremd ist.“

Wenige Zeilen später bricht sein unbändiger Zorn über den linken, zionistisch orientierten Kollegen Siegfried Bernfeld durch: „Ein sicheres Urteil habe ich aber über Bernfeld, denn er war einmal bei mir. (…) Nun, es ist nicht zu seinen Gunsten, er redet und handelt wie in einer Psychose, wirr, widerspruchsvoll, gegen mich ganz unaufrichtig.“

Im März 1933 bricht Freuds Erschütterung über die politischen Veränderungen durch: »Man kann nichts anderes tun, als abwarten und sich freuen, wenn wieder ein Tag ohne Schreckensnachricht vorbei ist. Mit unserem Kleinstaat Österreich ist irgendetwas Unheimliches los.«

Im April 1933 rät Freud Jeanne, »nach Berlin zurückzukommen, da Ihnen doch als Nichtdeutschen nichts droht«. In der »gegenwärtigen Ungeklärtheit« könne man »nichts entscheiden«. Dann bekommt Freud doch Zweifel: »Hält sich die Hitlerei und Sie haben doch einmal Ihr Los mit den Juden geworfen, so sollen Sie mit den Kindern freilich nicht in D. bleiben.«

FEHLEINSCHÄTZUNG 

Freud vertraut weiter auf den Status Österreichs als unabhängigem Staat – eine Fehleinschätzung, die sich wenig später als tödlicher Irrtum erweisen sollte: »Wir halten an zwei Punkten fest, am Entschluß uns nicht wegzurühren und an der Erwartung, daß es bei uns nicht entfernt so werden kann wie in D. Wir sind auf dem Weg zu einer Diktatur der Rechtsparteien, die sich mit den Nazi verbünden werden. (…) Ausnahmegesetze gegen eine Minorität sind Österreich durch den Friedensvertrag ausdrücklich verboten, den Anschluß an Deutschland werden die Siegerstaaten nie zulassen und unser Pöbel ist ein Stück weniger brutal als der stammverwandte deutsche.«

Freuds Leben bleibt von Ereignissen bestimmt, die zum Leben dazugehören: Sein drei Jahre ältererFreund und Kollege Ferenczi verstirbt im Mai, am 8.6.1933 schreibt er an Jeanne: „Die Pfingstzeit war von dem Nachruf auf Ferenczi in Anspruch genommen, in keinem Sinn eine leichte Arbeit. Jetzt fühle ich nur noch die Leere, die vom Ganzen übriggeblieben ist.“

Am 12. März 1938 der »Anschluss« Ös­terreichs, am 4. Juni 1938 dann die international wahrgenommene Emigration des 82-jährigen Freud nach London. Neun Tage später ein Brief Freuds aus London an die nach Den Haag geflohene Jeanne: »Wir sind jetzt also wirklich in England angekommen, es ist sehr schön und die Öffentlichkeit, Freunde wie Fremde, bereitete uns einen warmen Empfang. (…) Man vermißt noch zu viel. So ist es auch sonderbar, daß Sie am letzten Samstagvormittag nicht da waren, um mich in einer Verhandlung mit dem kleinen Antiquariat zu stören.«

Am 8. Oktober 1938 erwähnt der schwer krebskranke Freud eine erneute Operation, »die die ärgste war seit 1923«. Für seinen privilegierten Zustand als betagter jüdischer Flüchtling findet er eine literarische Formulierung: »Kurz, es ist ein Stück kleines Emigrantenelend neben dem großen. England ist bei all seiner Herrlichkeit ein Land für reiche und gesunde Leute. Auch sollen sie nicht zu alt sein.«

Am 20.11.1938 noch ein längerer Brief: Jeannes letztes Schreiben sei „so liebenswürdig und vernünftig wie alle früheren, aber zu meiner Freude reicher an guten Nachrichten“. Einige Zeilen später: „Ich hoffe, Sie werden sich immer behaglicher in Holland fühlen, und bis die Nazi auch dies Land besetzen, wird doch lange dauern – wenn es überhaupt geschieht“.

Elf Monate später stirbt der große weise, sich politisch irrende Begründer der Psychoanalyse im Londoner Exil

Ein lesenswertes Buch!

Sigmund Freud: »Briefe an Jeanne Lampl-de Groot 1921–1939«. Herausgegeben von Gertie F. Bögels. Psychosozial, Gießen 2018, 184 S., 24,90 €, Bestellen?

Bild oben: Jeanne Lampl-de Groot mit Anna Freud, (c) Archiv von Edith & Robert Berkovits-Lampl

Literatur
Roland Kaufhold (2018): Der jüdische Psychoanalytiker und Emigrant Adolf Josef Storfer unter nationalsozialistischer Beobachtung. Die gelbe Post – eine deutschsprachige Emigrantenzeitschrift aus Shanghai.Psychoanalyse im Widerspruch 59, 9–48.
Roland Kaufhold & Hans-Jürgen Wirth (2006): Sigmund Freuds Weg ins Exil. Tribüne, 177, 158–170; haGalil: https://www.hagalil.com/archiv/2008/11/freud.htm