Bewahren vor dem Vergessen

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Das Jahr 1919 steht für Aufbruch und Neubeginn. Den Ersten Weltkrieg hatten die deutschen Truppen verloren, der Kaiser hatte abgedankt und radikale neue Antworten waren sowohl in der Politik als auch in der Architektur, in Kunst und Design gefordert. 2019 feiert die Ikone der Moderne, das Bauhaus, seinen 100. Geburtstag. Es wird eines der großen Kulturereignisseim nächsten Jahr sein. Bereits jetzt gibt es in der Berliner BOX Freiraum eine sehenswerte Ausstellung zum Thema…

Von Yvonne de Andrés

Am 1. April 1919 gründete Walter Gropius in Weimar das Staatliche Bauhaus. Dort tauschten sich die Bauhäusler Walter Gropius, Mies van der Rohe mit Erich Mendelsohn, Hans Scharoun und anderen progressiven Architekten aus. Weltoffen und radikal sollte mit internationalen Künstlern eine zeitgemäße Schule für Architektur, Kunst und Design entstehen. Mit seinem visionären Ansatz wollte Walter Gropius die Baukultur reformieren. Aus dem Zusammenwirken aller Werkstätten sollte das „Gesamtkunstwerk“ entstehen. Das Bauhaus wurde zum Treffpunkt der europäischen Avantgarde. Trotz seines kurzen Bestehens von 1919 bis 1933 hat es großen Einfluss auf Architektur, Kunst und Design ausgeübt. Die Bauhaus-Ästhetik und Funktionalität sind bis heute allgegenwärtig und international.

Das „Neue Bauen“ war in Deutschland eine Bewegung in der Architektur und im Städtebau in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis in die Weimarer Republik (1910er-bis 1930er-Jahre). Diese hatte sich zum Ziel gesetzt, durch Rationalisierung sowie durch Typisierung den Einsatz neuer Werkstoffe und Materialien sowie durch sachlich-schlichte Innenausstattungen eine völlig neue moderne Form des Bauens zu entwickeln. Moderne, bezahlbare Wohnungen mit Küchen, Bädern und Balkonen in Häusern ohne Hinterhof und Seitenflügel, dafür mit Licht, Luft und Sonne. Wohnungsbau war eines der dringendsten Probleme der Stadtentwicklung der 20er-Jahre. Ihre qualitätvolle Baukunst, die Formensprache, die Wohnungsgrundrisse und die städtebaulichen Figuren der Siedlungen wurden zum Vorbild für das ganze 20. Jahrhundert.

Spurensuche nach dem Erben der Moderne

2009 startete der Fotograf Jean Molitor seine Entdeckungsreise, in der er den architektonischen Grundmustern des Bauhauses nachspürte. „Ich möchte mit bau1haus zeigen, wie wirkmächtig das Bauhaus und ähnliche Strömungen auf der ganzen Welt waren. Mein Ziel ist ein weltweites Fotoarchiv dieser Gebäude“, sagt Jean Molitor. Es ist eine Grand Tour der Moderne durch die Welt geworden. Eine Entdeckungsreise, die kulturhistorische Bezüge, bekannte und weniger bekannte Architekten vorstellt und wichtig Querverbindungen, Einflüsse zwischen Deutschland, Russland, Israel, Türkei oder Burundi herstellt und sichtbar macht. 100 Gebäude, passend zum runden Geburtstag, werden in klaren, sachlichen Schwarz-Weiß-Fotografien ins Zentrum gestellt. Nicht überall gibt es ein Verständnis für das Erbe der Moderne. Daher betont Molitor die Dringlichkeit seines Projekts: „Ich verstehe meine Arbeit als Wettlauf gegen die Zeit.“

Die Architekturhistorikerin Dr. Kaija Voss hält in ihrer Einleitung zum Begleitkatalog fest: „Das Bauhaus als Prozess der Moderne verträgt sich scheinbar mühelos mit dem aktuellen Zeitgeist und der Architektur weltweit. bau1haus ist eine Hommage an eine Ära und eine bestimmte Art, Häuser zu bauen. Die Moderne hat sich auf der ganzen Welt und unter unterschiedlichen Namen verbreitet, wie zum Beispiel als Internationaler Stil in den USA, Art déco in Frankreich oder Bauhaus, Neue Sachlichkeit, Neues Bauen, Klinkerexpressionismus, Funktionalismus in Deutschland. Die Häuser selbst und die Bilder von Jean Molitor stehen über Bezeichnungen, Definitionen und Schubladen.“

Ausstellung in der BOX Freiraum

Mitten in Friedrichshain in der Boxhagener Straße 96 befinden sich im Hof die ehemaligen Stallungen von Otto Pohl, der als der „Kutschenkönig von Berlin“ bekannt wurde. Der renovierte Pferdestall ist seit 2008 dank der Architektin Carolina Mojto ein Ort für Ausstellungen geworden. Beim Betreten des Raumes erkennt man das von Walter Gropius gebaute Bauhaus Archiv in Berlin am Ende der Stirnwand. Die Ausstellung umfasst dreißig Fotografien. Neben bekannten Gebäuden wie der Bauhausschule in Dessau, dem „Schiffshaus“ in Tel Aviv oder dem Haus Schminke in Löbau zeigen die Fotografien auch unbekanntere wie die „Panjab University“ in Chandigarh in Indien, eine Autogarage in Guatemala City oder die „Atatürk-Seevilla Florya“ in Istanbul.

Ein Schwerpunkt liegt auf Berlin mit verschiedenen Gebäuden wie dem Titania Palast in Steglitz von Schöffler, Schlönbach & Jacobi, die Weiße Stadt in Reinickendorf von den Architekten Bruno Ahrends, Wilhelm Büning und Otto Rudolf Salvisberg sowie das Cinema „Outpost“ in Zehlendorf von Arnold Blauvelt. Ein anderer Schwerpunkt liegt auf Havana auf Kuba.

Ein besonderes Kleinod

Als besonderes Juwel bezeichnet Molitor die 1935 im Bauhausstil entworfene historische Präsidentenresidenz und den Amtssitz des Staatsgründers der Türkei, Kemal Atatürk am Marmarameer. Der Architekt Seyfi Arkan, Schüler vom Hans Poelzig von 1929 bis 1932, hatte diese im Auftrag der Istanbuler Stadtverwaltung entworfen. Ein ca. 70 m langer Holzsteg verbindet die schlichte, einstöckige, L-förmige Villa, die auf Stahlpfählen über dem Wasser steht. Das Gebäude wird heute als Beispiel der „Frühen Architektur der Türkischen Republik“ betrachtet.

Das Fabrikschiff von Leningrad

Anfang der zwanziger Jahre verwirklicht der noch unbekannte Erich Mendelsohn die streng symmetrisch komponierte Fabrikanlage für die Hutfabrik Friedrich Steinberg, Herrmann & Co.in Luckenwalde. Eine Delegation des russischen Textil Trust war von der futuristisch-dynamischen Architektur Erich Mendelsohns so angetan, dass er 1925 als erster ausländischer Architekt eingeladen wurde, den Erweiterungsbau der Textilfabrik „Rotes Banner“ zu übernehmen. Mendelsohn war immer auf die Gesamtwirkung seiner Gebäude bedacht. Das Kesselhaus mit seiner abgerundeten Form auf dem breiten Sockel sollte, so der Architekt „ein Schiff, das die ganze Fabrik hinter sich herzieht“, sein. Die Trikotagenfabrik gilt heute als Aushängeschild Leningrads, heute St. Petersburgs, Avantgarde-Architektur.

In die Welt verstreut

Mit der Machtübernahme durch die NSDAP 1933 erfolgten politischen Repressalien und Entlassungen, bis am 20. Juli 1933 der Lehrkörper die Selbstauflösung beschloss. Viele Bauhaus-Lehrende und -Studierende trieb es ins Exil nach Israel, England, Japan, die Türkei, Ungarn, Australien, USA, die Sowjetunion oder in die innere Emigration. Sie sorgten für die Verbreitung der Bauhaus-Idee. Dr. Kaija Voss hält fest: „Viele der größtenteils deutschstämmigen jüdischen Architekten haben am Bauhaus studiert oder sind auf andere Weise mit den Ideen der Moderne in Kontakt gekommen. Sie gestalten als Zeichen politischen Neuanfangs moderne Stadtviertel. Mit mehr als viertausend Bauten ist Tel Aviv die weltweit größte Ansammlung von Häusern im Bauhausstil.“

Der Katalog bietet viele Anregungen, die sich mit dem Bauhaus, seiner Architekten und den Erben der Moderne beschäftigen. Das Buch wendet sich sowohl an ein Fachpublikum als auch an Architektur- und Architekturgeschichte Interessierte. Die Publikation bietet eine gute Chance, viele neue Aspekte über das Bauhaus und die Architektur der Moderne zu entdecken.

Jean Molitor, geboren 1960 in Berlin, studierte künstlerische Fotografie an der Leipziger Hochschule für Grafik bei Arno Fischer. Seit 1994 ist er freischaffender Fotograf für Magazine, Zeitungen und Industrie. 2009 startete er sein Projekt bau1haus, für das er durch Afrika, Nord- und Südamerika, Europa und den Nahen Osten reiste.

Auf einen Blick
Was: Jean Molitor, bau1haus – die moderne in der welt
Wann: 20. Juni bis 28. Oktober 2018
Öffnungszeiten: Mittwoch bis Samstag zwischen 14:00 und 18:00 Uhr
Wo: Box Freiraum
Eintritt: kostenfrei
Adresse: Box Freiraum, Boxhagener Straße 96 (Im Hof), 10245 Berlin Tel. 0151-4016 0444

Weitere Informationen zur Ausstellung und zum Begleitprogramm finden Sie hier.
https://www.box-freiraum.berlin

Danach noch zu sehen

Henry van der Velde-Museum, Haus Schulenburg, Gera
13.10.–22.12.2018

Willy-Brandt-Haus, Berlin
15.1.–3.3.2019
www.visitberlin.de/de/event/bau1haus-die-moderne-der-welt

Katalog:
Jean Molitor, bau1haus – die moderne in der welt
Hrsg. Nadine Barth, Text(e) von Kaija Voss, Gestaltung von Julia Wagner grafikanstalt
Deutsch, Englisch
Hatje Cantz Verlag, 2018, 160 Seiten, 100 Abb., Hardcover, 29,00 x 25,00 cm
ISBN 978-3-7757-4468-3

Website: http://www.bau1haus.de/

Bild oben: Cinema Barikot in Kabul, Afganistan und das „Schiffhaus“, ein Wohnhaus in Tel Aviv, Israel