Moralischer Eiertanz

0
55

Israel hat den Genozid an den Armeniern bis heute nicht anerkannt. Nun will die Knesset darüber debattieren. Moralische Überlegungen dürften dieser Entscheidung wohl weniger zugrunde liegen…

Von Ralf Balke

Geschieht es endlich oder passiert doch wieder mal gar nichts? Die Rede ist von der Anerkennung des Genozids an den Armeniern durch Israel, dem ersten systematischen Völkermord des 20. Jahrhunderts. Schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen kamen 1915 und 1916 bei Massakern und Todesmärschen ums Leben. Verantwortlich dafür waren Regierung und Militärs des mit Deutschland im Ersten Weltkrieg verbündeten Osmanischen Reichs, dessen Rechtsnachfolger die heutige Türkei ist. Spätestens seit der Unabhängigkeit Armeniens infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion im Jahr 1991 stand das Thema immer wieder auf der Tagesordnung in der Knesset. Konkrete Ergebnisse gab es jedoch keine. Denn sobald in Jerusalem darüber gesprochen wurde, kam sofort aus Ankara die Warnung: Fällt man in Israel eine offizielle Entscheidung, die Massaker an den Armeniern als Völkermord anzuerkennen, dann bliebe das nicht ohne Konsequenzen für die israelisch-türkischen Beziehungen. Deshalb tat man sich von offizieller israelischer Seite aus stets schwer, das Kind beim Namen zu nennen. „Ich glaube, Israel möchte keinen weiteren muslimischen Staat in der Region als Gegner haben“, skizzierte kürzlich Roman Smbatyan, ein armenischer Historiker, der an der University of California in Irvine lehrt, die israelischen Motive dahinter. „Aus rein strategischen Gründen besteht also ein klares Interesse, die Türkei nicht als Partner zu verlieren.“

Nun gibt es einen erneuten Anlauf. Am Mittwoch beschloss das israelische Parlament, die Frage zum Gegenstand einer Debatte zu machen. Ein Datum steht aber noch nicht fest. Die Initiative dazu ging diesmal von Tamar Zandberg aus. „Viele Jahre bereits hat Israel die Anerkennung des Genozids an den Armeniern vermieden“, erklärte die Vorsitzende der linkszionistischen Meretz-Partei bereits am Dienstag. „Dabei handelt es sich doch um eine der abscheulichsten Mordtaten des 20. Jahrhunderts. Diese Versäumnis ist für Israel sowie für jedes andere Land, das aus Rücksicht vor realpolitischen Interessen das Leid anderer ignoriert, ein moralischer Makel.“ Ihre Partei war es denn auch, die in der Vergangenheit regelmäßig den Völkermord zur Sprache bracht. So wurde beispielsweise 2008 auf Anregung von Chaim Oron, einer von Zandbergs Vorgängern an der Spitze von Meretz, ein parlamentarisches Komitee eingerichtet, das sich mit dem Thema beschäftigen sollte. Doch auch damals konnte die türkische Regierung erfolgreich intervenieren. 2011 war es dann die Meretz-Abgeordnete Zahava Gal-On, die eine entsprechende Eingabe in der Knesset machte. Das Vorhaben sollte aber an Gilad Erdan scheitern, einem engen Vertrauten von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und heute Minister für öffentliche Sicherheit. Die Mavi Marmara-Affäre – 2010 hatte die israelische Marine das gleichnamige Schiff, das die Blockade des Gazastreifen zu durchbrechen versuchte, geentert, wobei acht türkische Staatsbürger zu Tode kamen – lag gerade erst ein Jahr zurück und man wollte die ohnehin problematischen Beziehungen zur Türkei nicht noch weiter belasten. So lautete das Kalkül dahinter. Damit verlief ein weiterer Versuch im Sande.

Dabei nehmen die Israelis selbst durchaus Anteil am Schicksal der Armenier, wie beispielsweise auf einem eigens von der Hebräischen Universität schon vor zehn Jahren organisierten Symposium konstatiert wurde. Zugleich verwies man auf die vielen Anstrengungen, die Ankara unternehme, damit der Völkermord nicht als solcher von anderen Nationen anerkannt wird. So drohte man in der Vergangenheit immer wieder damit, den türkischen Luftraum für amerikanische Kampfflugzeuge zu sperren oder die Teilnahme an NATO-Manövern abzusagen. „Die Türkei hat Israel deswegen mehrfach bereits unter Druck gesetzt und bedauerlicherweise gab unsere Regierung stets klein bei“, merkte schon damals Chaim Oron an. „Aber die viel mächtigeren Vereinigten Staaten handelten ja nicht viel anders.“ Washington spricht nämlich ebenso wie Jerusalem im Fall der Armenier noch nicht von einem den Völkermord. Das sollte eigentlich überraschen. Denn die alte Redewendung von den Hunden, die bellen, aber nicht beißen, bewahrheitete sich mehrere Male, wenn man sich die Reaktionen der Türkei auf entsprechende Entscheidungen anderer Länder anschaut. 2001 bereits hatte Frankreich, wo je nach Schätzung über 250.000 Menschen armenischer Herkunft leben, den Genozid an der Armeniern als einen solchen anerkannt. Damals schäumte die Regierung in Ankara vor Wut und kündigte Wirtschaftssanktionen an. Wirklich geschehen ist aber Nichts. Auch eine Debatte dazu im Bundestag wurde von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan & Co. mit viel Schaum vor dem Mund kommentiert. Man beschränkte sich jedoch auf Verbalattacken auf Berlin, konkrete Schritte gab es ebenfalls keine.

„Es ist einfach unakzeptabel, dass wir als Juden in dieser Sache nicht unsere Stimmte erheben“, sagte Chaim Oron 2008. Schützenhilfe erhielt er dabei vom heutigen Staatspräsidenten Reuven Rivlin, damals Sprecher der Knesset. „Als Jude und Israeli ist es meine Pflicht, die Tragödien anderer Nationen anzuerkennen.“ Zugleich sicherte er einer Delegation israelischer Armenier – ihre Community in Israel zählt rund 3000 Personen – zu, sich für eine jährliche Zusammenkunft in der Knesset stark zu machen, um ihrem Genozid zu gedenken.“ Es blieb bei dem Versprechen.

Es gibt neben den israelisch-türkischen Beziehungen aber noch einen weiteren nicht ganz unwesentlichen außenpolitischen Faktor, der die langjährige Zurückhaltung Jerusalems in dieser Frage ebenfalls erklären mag: die enge Zusammenarbeit mit Aserbaidschan. Der muslimische Binnenstaat ist nicht nur ein finanzkräftiger Abnehmer von Rüstungsgütern >Made in Israel<, sondern zugleich ein wichtiger Partner auf sicherheitspolitischer Ebene. Das Land liegt direkt neben dem Iran, weshalb es quasi als israelischer Hörposten dient und ein großer Teil der israelischen Ölimporte stammt von dort. Aserbaidschan liegt aber seit über zwei Jahrzehnten wegen des Streits um die Enklave Nagorno-Karabakh im Clinch mit Armenien. Auch deswegen neigt man in Jerusalem zur Zurückhaltung, wenn es um armenische Belange geht. Man will es sich mit Baku nicht verübeln.

Aber wenn es um die Türkei geht, scheint ein Stimmungswandel stattzufinden – zumindest in der Rhetorik der politischen  Akteure und für den Moment. Stein des Anstoßes dafür waren die Proteste im Gazastreifen im Grenzgebiet zu Israel vom 14. Mai. 62 Palästinenser kamen dabei ums Leben. Daraufhin sprach Erdogan von einem „Genozid“, den Israel dort begehen würde und sein Ministerpräsident Binali Yildirim legte noch einen drauf, als er der israelischen Regierung attestierte „Hitler und Mussolini“ nachzuahmen. Der israelische Botschafter wurde des Landes verwiesen – aber nicht ohne vorherige öffentliche Demütigung: Vor laufenden Kameras musste der Diplomat am Flughafen einen peinlichen Sicherheitscheck von türkischen Beamten über sich ergehen lassen. „Ich glaube nicht, dass er uns Moral lehren kann“, kommentierte Netanyahu Erdogan Erdogans Ausfälle.

Nun meldeten sich mit Itzik Schmuly von der Zionistischen Union und Amir Ohana vom Likud erste Stimmen in der Knesset zur Wort, die der Türkei mit gleicher Münze heimzahlen wollen. „Wir werden die moralisierenden Äußerungen des antisemitischen türkischen Schlächters, der jeden Tag tausende Kurden im Nordwesten Syriens bombardiert und dessen Land verantwortlich ist für den Genozid an den Armeniern und den historischen Verbrechen an den Assyrern, nicht akzeptieren“, so Shmuly. Das sind starke Worte. Doch bei der Entscheidung vom Mittwoch waren gerade einmal 16 von 120 Parlamentariern anwesend, ganze zwei davon Mitglieder der Regierungskoalition. Und sollte wirklich eine Entscheidung über die Anerkennung des Genozids in der Knesset positiv ausfallen, dann gewiss nicht aus moralischen Gründen, Empathie oder einem Bewusstsein für die Geschichte der Armenier. Viel mehr würde es sich um eine ziemlich billige Retourkutsche handeln. Man täte das Richtige aus den falschen Gründen.

Aber ob es wirklich so weit kommt, darf bezweifelt werden. So erklärte Tzipi Hotovely bereits im Fernsehen, dass man zwar über „eine ganze Palette von Maßnahmen“ nachdenke, worunter auch die Anerkennung des Genozids an den Armeniern falle. Eine Entscheidung sei jedoch keinesfalls gefallen, betonte Hotovel, schließlich will Israel „seine Beziehungen zu Ankara aufrecht erhalten.“ Das klingt nach einem ersten Zurückrudern. Der moralische Eiertanz in dieser Frage könnte also weiter gehen.

Bild oben: Armenier werden im April 1915 von osmanischen Soldaten aus Karphert (türkisch: Harput) in ein Gefangenenlager im nahen Mezireh (türkisch: Elazığ) geführt. Published by the American red cross. [Aus: Politisches Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes. Bestand: Konstantinopel 169.] wiki commons