Begegnungen mit Max Weinberg

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Am 18. April ist der Frankfurter Maler Max Weinberg gestorben. Geboren 1928 in Kassel, emigriert 1933 nach Belgien, 1935 nach Palästina, erste Studien in Tel Aviv, 1948 als Soldat im israelischen Unabhängigkeitskrieg, wegen Befehlsverweigerung aus der Armee entlassen, kehrte er 1959 nach Frankfurt zurück, wo er als krasser Außenseiter malte und gegen Ende seines Lebens Kultstatus erlangte. Nach seinem Tod schaffte er es sogar in die Spalten der New York Times: „Eccentric German-Israeli Artist Max Weinberg Dies Aged 90“…

Von Detlef zum Winkel

Seine Kunst charakterisieren zu wollen – expressionistisch, Graffiti-Stil, Pop-Art oder wie die diversen Versuche lauten mögen – ist ein schwieriges Unterfangen, das wir uns zum Glück ersparen können, da man Fotos seiner Bilder leicht im Netz findet. Gern war er bereit, sich bei der Arbeit filmen zu lassen, Anekdoten aus seinem Leben preiszugeben und Meinungen über Gott und die Welt kundzutun. Es gibt also auch eine Reihe von interessanten und amüsanten Clips , die eine Ahnung davon vermitteln, wie der Paradiesvogel, bunt bekleidet, farbbekleckst und immer geschminkt, seine eigene Person inszenierte und wie er seine Besucher in einem Dialekt ansprach, der ein charmantes Hessisch mit ausländischem Akzent war, lokal und global zugleich. Freunde und Bekannte Weinbergs erzählen nun Geschichten, die sie mit ihm erlebt haben, und so soll es auch an dieser Stelle geschehen.

Vor mehr als 20 Jahren veranstalteten die Frankfurter Ateliers der Ostparkstrasse einen Tag der Offenen Tür. Ich unternahm einen Spaziergang mit meiner Tochter, die damals, wie man sagt, noch sooo klein war, und ergriff die Gelegenheit eines direkten Kontakts mit dem künstlerischen Schaffen in unserer schönen Stadt am Main. Wir streiften durch die sperrige Metallwerkstatt des Bühnenbildners Wilfried Fiebig, durch die staubige Baustelle der Bildhauerin Wanda Pratschke und landeten in einem großen, vom Tageslicht nahezu vollständig abgeschnittenen Raum, in dem ein kleiner bärtiger Mann zwischen hunderten oder tausenden bunten Bildern, Skizzen, zwischen Papier, Leinwand, Tischen, Farben, Spraydosen und Stiften herumwuselte. Dazu spielte Musik von Ludwig van Beethoven. Es fiel mir schwer, mich in dem überwältigenden Chaos zu orientieren, und ich nahm als erstes ein riesiges Gemälde an der Wand mit einer furchteinflössenden schwarzen Figur wahr. Das Bild war offenbar nicht jugendfrei und löste eine unmittelbare Assoziation in mir aus. Es erinnerte mich an den Mai 1968, als Charles de Gaulle die revoltierenden Studenten von Paris als „Hundescheiße“ bezeichnet hatte, was diese mit der Parole „le chienlit, c’est lui“ beantworteten. Ihre Flugblätter, Broschüren und Plakate waren mit ebensolchen schemenhaften schwarzen Monstern versehen, welche die polizeiliche Gewalt karikieren sollten.

Würde der harmlose Ausflug meiner Tochter mit einem traumatischen Kulturschock enden? Weinberg schien meine Bedenken zu erahnen. Er drückte der Kleinen ein paar Stifte in die Hand und führte sie zu einem anderen großformatigen Bild, das mit winzigen Motiven übersät war, bunte Krakeleien, Zeichen, Strichmännchen, Hieroglyphen aller Art. „Hier, willst du das weitermalen?“, sagte er, und sie machte sich an die Arbeit, ohne eine Sekunde zu zögern oder eine Frage zu stellen. Nach dieser eindrucksvollen Lektion in Kunsterziehung unterhielten wir uns eine Weile und wechselten ins Du. Max zeigte mir einige Bilder und fragte immer wieder „Wie findest du dieses? Oder jenes? Sag mir, was dir gefällt.“ Ich sah, dass es das dunkle Monster in mehreren Versionen gab und dass sich dort, wo man das Geschlechtsorgan vermutete, ein rosafarbenes Hakenkreuz befand, an dem eine kleine Frauenfigur aufgespießt war. So schwarz die Ungeheuer dargestellt waren, es handelte sich eindeutig um hellhäutige Mitteleuropäer. Mann, Gewalt, Vergewaltigung, Nazi – Max hatte seine Rezeption von Wilhelm Reich gemalt. Es war irre.

In Weinbergs Werk gibt es nur wenige attraktive Männer. Seine schönen Bilder sind weiblichen Geschlechts, meist in den Farben pink und schwarz. Vielgliedrige erotische Wesen, Münder, Brüste, Füße, archaische runde Formen, magische Augen. Er wollte den medienbestimmten Geschmack der Moderne ansprechen und war gleichzeitig glücklich darüber, dass der Fortschritt nicht in der Lage sei, das Grundgesetz der Natur zu ändern. So präsentieren seine Phantasiewesen ihre sinnlichen Reize, um die Aufmerksamkeit der Umwelt zu erregen, während sie gleichzeitig mit ihren leuchtenden Augen neugierig und begierig das Leben der Anderen in sich aufsaugen. Er male, was die jungen Leute auf ihren Smartphones sehen, meinte er einmal – eine Art Resozialisierung der digitalen Welt.

Monate nach unserer ersten Begegnung traf ich einen aufgeregten Max auf der Straße. Er zog ein großes Foto aus der Tasche: „Das musst du sehen.“ Wieder machte er mich fassungslos. Das Foto zeigte drei seiner schwarzen Monster an der Fassade eines klassizistischen Prachtbaus: eine beißende Kritik der sogenannten Hochkultur. „Ist das eine Montage?“, fragte ich ungläubig. „Nee“, antwortete Max, „das ist die Alte Oper. Die stellen mich gerade aus.“ Tatsächlich hatte das Management des Hauses eine Vereinbarung mit einem Verein Frankfurter Künstler getroffen, wonach deren Werke in den Räumen der Alten Oper gezeigt werden sollten. Weinberg machte den Anfang, aber seine Mannsbilder waren für die Foyers zu groß. Also brachte man sie an der Stirnseite an, und da hingen sie nun direkt unter der Inschrift „Dem Wahren, Schönen, Guten“! Schade, dass Goethe das nicht erleben durfte.

„Wieso kriege ich das nicht mit?“, fragte ich, „es muss doch einen Sturm der Empörung auslösen.“ Max bestätigte aufgebrachte Reaktionen einiger Passanten, aber er habe sich unter sie gemischt, mit ihnen geredet und dann hätten sie es besser verstanden. Angst kannte er offensichtlich nicht. Oder hatte er 1933 als Kind schon so viele Ängste erlitten, dass es für den Rest seines Lebens reichte? Ängstlich war freilich die Frankfurter Presse darauf bedacht, das Thema unter Verschluss zu halten. Sie berichteten einfach nicht und saßen es aus. Also bat ich um das Foto und schickte es dem Hamburger Magazin Konkret, für das ich damals schrieb. Das müsse das nächste Titelblatt werden, schlug ich vor, erhielt aber keine Antwort.

Gewollt oder ungewollt wirkt Weinbergs Kunst sehr politisch. Ebenfalls in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts übernahm das Museum Judengasse des Jüdischen Museums Frankfurt eines seiner großen Bilder, wie er stolz berichtete. Dann kam ein Psychopath und zerschnitt das Werk unbemerkt in hunderte kleiner Streifen und Schnipsel. „Der hat es nicht einfach in einem Wutanfall zerrissen“, erzählte Max, „er hat es mit einem scharfen Rasiermesser sorgfältig seziert.“ Ich entgegnete, er müsse an die Öffentlichkeit gehen, das könne nur ein Nazi gewesen sein und wir dürften so etwas nicht hinnehmen. Ach, antwortete er, die Polizei habe einen Psychologen bestellt, der von der Tat eines Irren ausgehe, und das Jüdische Museum wolle Öffentlichkeit vermeiden, um keine Nachahmungstäter zu animieren. Außerdem hätten sie ihn sehr gut entschädigt.

Da hat er einmal einen ordentlichen Preis erzielt. Ich habe nie erlebt, dass es ihm ums Verkaufen gegangen wäre, immer nur um Ausstellungen. Er wollte ausgestellt werden, und er wollte, dass man seine Ausstellungen besucht. „Komm da hin“, sagte er, „es gibt auch Häppchen.“ Und so kamen die Kulturbeflissenen, die Kunstverständigen, die Unternehmensbeauftragten, die Medienvertreter, aber auch Nachbarn, Freunde und der Pächter des Kiosk, bei dem er immer einkaufte, wenn er abends ins Atelier ging, um nachts zu malen. Der nannte ihn auch Max und fand es gut, was er zu sehen bekam.

Weinberg war, wie mir scheint, ein richtiger 68er und das nicht einmal so sehr wegen seiner dezidiert linken Ansichten, sondern weil er eine lebensfreundliche, liebevolle Einstellung praktizierte und in seinem Werk zum Ausdruck brachte. Wikipedia berichtet, dass er als junger Israeli aus dem Militär entlassen wurde, weil er sich geweigert habe, einen palästinensischen Bauern zu erschießen. Diese Erzählung kann eigentlich nur von ihm selbst stammen, obwohl sie in dem Lebenslauf auf seiner eigenen Webseite fehlt. Darüber haben wir nicht gesprochen. Wohl aber weiß ich, dass er die israelische Regierungspolitik gelegentlich mit ungenierter Schärfe kritisierte. Ebenso deutlich ist freilich die Dankbarkeit, die er gegenüber dem Israel der fünfziger Jahre empfand. In jenen Pionierzeiten habe er erlebt, dass man den Kindern nichts aufgezwungen hat, was sie nicht wollten, sondern man habe zugelassen und unterstützt, was in ihnen steckte, ihre einzelnen und individuellen Begabungen. „Intelligenz entsteht nur, wenn man sie nicht autoritär lenkt.“

Max Weinberg wurde auf dem jüdischen Friedhof Frankfurts bestattet. Die Stadt ehrt ihn posthum mit der Verleihung der Goethe-Plakette.

Bild oben: Max Weinberg (2012), (c) HV