Planlos in Jerusalem

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Israel will seine über 35.000 Flüchtlinge aus dem Sudan und Eritrea los werden. Während sich viele Israelis mit ihnen solidarisieren, kann es anderen mit der Abschiebung gar nicht schnell genug gehen…

Von Ralf Balke

Von einer klaren Linie kann man kaum sprechen. Erst hieß es über Monate hinweg, dass die über 35.000 in Israel lebenden Geflüchteten aus dem Sudan und Eritrea nach Ruanda abgeschoben werden. Das kleine zentralafrikanische Land würde für die Aufnahme von jedem aus Israel abgeschobenen Flüchtling 5.000 Dollar erhalten, erklärte Ministerpräsident Benjamin Netanyahu nach einem Treffen mit seinem ruandischen Amtskollegen Paul Kagame in Kenias Hauptstadt Nairobi im Herbst vergangenen Jahres. Das Geld sollte ein Anreiz dafür sein, die in Israel oftmals als „Eindringlinge“ bezeichneten Menschen aufzunehmen. Den Geflüchteten selbst möchte man die freiwillige Ausreise mit 3.500 Dollar Handgeld versüßen und zudem die Kosten für das Ticket nach Kigali übernehmen. Wer sich nicht auf diesen Deal einlassen will, dem drohen Haft oder zwangsweise Abschiebung. Doch irgendwie sollte das alles nicht so klappen, wie geplant. Zum einen schrecken die vielen negativen Berichte von denen ab, die bereits nach Ruanda sich haben ausfliegen lassen. Offensichtlich wurden sie dort nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen, weshalb sie in andere Länder wie Uganda weiter fliehen mussten, wo sie unter zumeist prekären Bedingungen leben. Last but not least stoppte Mitte März aus all diesen Gründen sowie einer Petition der Oberste Gerichtshof – vorläufig zumindest – diese gesponserten und nicht ganz freiwilligen Ausreisen.

Dann hatte Netanyahu am vergangenen Montag erklärt, dass es in Zusammenarbeit mit dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen nun ein tolles Konzept gäbe, dass es ermögliche, in den kommenden fünf Jahren 16.250 dieser Geflüchteten von Israel nach Europa und Nordamerika umzusiedeln. Im Gespräch seien „entwickelte Nationen wie Kanada, Deutschland und Italien“. Bemerkenswert war nur die Tatsache, dass niemand in Berlin, Rom oder sonst wo etwas davon wusste. Aber nur einen Tag später erfolgte der nächste Schwenk und Netanyahu verkündete, dass das neue Abkommen mit dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen schon wieder Geschichte sei. „Jedes Jahr fälle ich Tausende von Entscheidungen zum Wohle des Staates Israel und den israelischen Staatsbürgern“, sagte der Ministerpräsident auf einem Treffen mit Bewohnern des Südens von Tel Aviv, wo die meisten der Geflüchteten leben, was zu zahlreichen Spannungen zwischen den Alteingesessenen, die oft selbst zu den sozial Schwächeren gehören, und den neu Hinzugezogenen führte. „Da kann es schon mal vorkommen, dass eine einmal getroffene Entscheidung wieder revidiert wird.“

Die überraschende Kehrtwende hat aber andere Gründe als vielleicht nur das Stirnrunzeln der Europäer oder Kanadier über nicht existierende Absprachen. Denn Netanyahus Koalitionspartnern schmeckte das ganze Vorhaben von Anfang an aus einem bestimmten Grund überhaupt nicht: Nur 16.250 der Geflüchteten würden gemäß des Plans mit dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen das Land verlassen, die anderen dagegen ein Aufenthaltsrecht in Israel bekommen. Genau deshalb war Innenminister Aryeh Deri, Vorsitzender der sephardisch-orthodoxen Schass-Partei und bekannt für seine ausgesprochen ablehnende Haltung gegenüber Arbeitsmigranten und Geflüchteten, bereits auf die Barrikaden gegangen. Und auch Erziehungsminister Naftali Bennet, Chef der rechten Beit HaYehudi-Partei, intervenierte. „Das Abkommen mit dem Ziel einer Aufnahme einer bestimmten Zahl von Eindringlingen ist schlecht für Israel“, erklärte er. „Ich appelliere an den Ministerpräsident, es wieder aufzukündigen.“ Auf diese Weise würde ein Präzedenzfall geschaffen, der sich noch zur Hypothek für die kommenden Generationen entwickeln könnte. Außerdem fehle die abschreckende Wirkung. „Israel wird so zu einem Paradies für Eindringlinge.“

Und weil es in seiner Koalition bereits kräftig knirscht, wollte Netanyahu jedem weiteren Streit aus dem Weg gehen. Also cancelte er das lauthals verkündete Konzept, das für einige Stunden doch der Königsweg aus der Krise mit den Geflüchteten sein sollte. Und nun heißt es wieder „Zurück nach Afrika!“ Denn angeblich gibt es jetzt einen „Uganda-Plan“. Die Rede ist von einem ungenannten afrikanischen Drittland, das bereit wäre, die Geflüchteten aus Israel aufzunehmen. Gemeint ist wohl Uganda. Denn dorthin hatte Netanyahu sofort einen Sondergesandten hingeschickt. Doch ob das klappt, dürfte fraglich sein – so hatte der ugandische Außenminister Henry Okello Oryem vor einigen Tagen betont, dass „wir jeden Migranten, der aus Israel kommt, wieder in den Flieger zurück setzen.“ Schließlich gäbe es keinerlei Abkommen darüber, „weder formell noch informell, das es Israel erlaube, seine Flüchtlinge hier abzuladen.“ Von einer Lösung des Problems ist man also genauso weit wie vor einigen Monaten.

Auch innenpolitisch wird die Planlosigkeit der Verantwortlichen sowie das ständige Hin und Her zur Ballastungsprobe. Zum einen wird Netanyahus Vorgehensweise, die Vereinbarung mit dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen via eines nächtlichen Facebook-Postings aufzukündigen als deutliche Führungsschwäche gewertet. „Innerhalb von nur 20 Stunden hat er vier verschiedene Positionen zu der Frage eingenommen“, schreibt stellvertretend für viele Kommentatoren Anshel Pfeffer, der gerade an einer Netanyahu-Biografie arbeitet, in Haaretz. „Netanyahu will ein starker und entscheidungskräftiger Staatsmann sein. Doch was uns in dieser Situation gezeigt wird, ist reichlich armselig, weil er nach jedem neuen Facebook-Kommentar einfach immer wieder umfällt.“ 65 Prozent sahen das in einer Umfrage des TV-Kanals 10 genauso und bewerteten sein Verhalten als „sehr negativ“. Wie dünnhäutig der Regierungschef gerade ist, beweisen zudem seine Reaktionen. Weil alles, was derzeit nicht klappt, in seiner Wahrnehmung die Schuld anderer ist, behauptete Netanyahu, die links-gerichtete amerikanische NGO New Israel Fund hätte Druck auf Ruanda ausgeübt. Deshalb habe man dort die Aufnahme von Geflüchteten aus Israel stoppt.

Zum anderen regt sich bei vielen Israelis Widerstand gegen den ihrer Meinung nach unmenschlichen Umgang mit den Geflüchteten. Nicht wenige von ihnen leben bereits seit über zehn Jahren in Israel, haben Familien gegründet und Kinder bekommen, die an israelische Schulen gehen. Nun kann es passieren, dass der Vater nach Ruanda deportiert worden ist, wie im Falle eines 42-jährigen Mannes, dessen Frau und vier Kinder nach wie vor in Israel sind. Der Grund: Er stammte aus dem Südsudan, weshalb er Israel sofort nach der Unabhängigkeit des Landes verlassen musste, sie dagegen kommt aus dem Sudan selbst und durfte vorerst bleiben. Angefangen von der Bürgerinitiative „Süd-Tel Aviv gegen die Ausweisungen“ bis hin zu einer Gruppe von Rabbinern, die sich Miklat Israel, zu deutsch: Schutzraum Israel, nennt oder der „Anne Frank Home Sanctuary Movement“, einer Organisation mitgegründet von der Reform-Rabbinerin Susan Silverman, Schwester der prominenten US-Comedian Sarah Silverman, reicht das Spektrum quer durch die israelische Gesellschaft. Auch 36 Holocaust-Überlebende protestierten mit einer Petition gegen die Flüchtlingspolitik der Regierung. Piloten von EL Al weigerten sich bereits, im Cockpit von Flügen mit Abgeschobenen Richtung Afrika Platz zu nehmen. Und natürlich bleiben die Geflüchteten selbst nicht untätig, demonstrieren beispielsweise in Ketten vor der Botschaft Ruanda oder der Knesset.

All dieses Aktionen sowie das zivilgesellschaftliche Engagement dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mehrheit der Israelis nicht bereit ist, den Geflüchteten aus Eritrea und dem Sudan ein permanentes Bleiberecht zu gewähren. Laut einer aktuellen Umfrage des Guttmann Center for Public Opinion and Policy Research am Israel Democracy Insitute wären derzeit rund 70 Prozent dagegen. Vor allem unter den nationalreligiös ausgerichteten Israelis dominiert die klare Ablehnung. Sie sehen den jüdischen Charakter des Staates sofort in Gefahr. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. „Denn wenn es um offiziell anerkannte Flüchtlinge geht, bröckelt die Front der Gegner sofort – vorausgesetzt, ihre Zahl bleibt überschaubar und ihr Aufenthalt wäre nur definitiv nur temporär“, so Tamar Hermann, Direktorin des Guttmann Center.

Zum Thema: Unwillkommen in Israel – Rund 35.000 Flüchtlinge aus dem Sudan und Eritrea leben in Israel

Bild oben: Voices of Hope, Screenshot Facebook