Von Krise keine Spur

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Das Reformjudentum in der Krise“ betitelt Jennifer Neßler ihren Beitrag bei HaGalil. Als „Beleg“ bemüht sie „den Anschein, dass für junge Juden in Deutschland das liberale Judentum keine Option mehr ist“. Laut ihrem „Blick in die Synagogen in Berlin und im Rest des Landes“ würden liberale Gemeinden  „an chronischer Überalterung“ leiden: „Das gefühlte Durchschnittsalter in diesen Gemeinden liegt bei ungefähr 60 Jahren, Familien mit Kindern oder junge Leute, die bald Kinder in die Gemeinde bringen könnten: Fehlanzeige“, schreibt sie…

Jan Mühlstein, Vorsitzender der Liberalen jüdischen Gemeinde München Beth Shalom

Welche liberale jüdische Gemeinden Frau Neßler aus eigener Anschauung kennt, weiß ich nicht. Meine Eindrücke aus den liberalen Gemeinden, die der Union progressiver Juden in Deutschland (UpJ) angehören, sind andere. Für meine eigene Gemeinde Beth Shalom in München, die Ende 2017 die Schwelle von 500 Mitgliedern überschritten hat, kann ich darüber hinaus mit Zahlen belegen, dass Frau Neßler danebenliegt. Als Vergleich beziehe ich mich auf die statistischen Erhebungen der ZWST (Jüdische Allgemeine, online-Beitrag vom 4.5.2017 „Natürlicher Rückgang“), die tatsächlich eine Überalterung der jüdischen Gemeinden in Deutschland belegen.

Während in der Summe aller jüdischen Gemeinden in Deutschland im Jahr 2016 die Zahl der 1.498 Todesfälle (Todesrate 1,5 %) deutlich über der Zahl der 256 Geburten (Geburtenrate 0,25 %) lag, hatten wir bei Beth Shalom im Durchschnitt der Jahre 2012 bis 2017 pro Jahr 0,33 Todesfälle (Todesrate 0,07 %) und 8,5 Geburten (Geburtenrate 1,7 %). Ähnlich der Vergleich der Altersstruktur: Über 60 Jahre alt sind 47 % der Mitglieder aller Gemeinden, aber lediglich 16 % bei Beth Shalom. 51 bis 60 Jahre alt sind 13 % der Mitglieder aller Gemeinden, 9,5 % bei Beth Shalom. Das bedeutet, dass der Anteil der unter 50-jährigen im Durchschnitt aller Gemeinden nur 40 % beträgt, während er bei Beth Shalom bei fast 75 % liegt. Der Altersgruppe der 19- bis 40-jährigen gehören 20 % der Mitglieder aller Gemeinden, aber 29 % bei Beth Shalom (61 % der Mitglieder von Beth Shalom sind nicht älter als 40 Jahre). Das Meridian-Alter (gleiche Zahl jüngerer wie älterer) liegt bei Beth Shalom bei 43 Jahren.

Entsprechend ist das Bild der Gottesdienste und der Feste bei Beth Shalom durch junge Familien und Kinder geprägt, nicht nur an dem speziellen monatlichen Familien-Schabbat-Schacharit und an den sechs bis acht Bat- und Barmizwa im Jahr. Weitere Magnete für junge Familien sind der als außerschulisches Pflichtfach anerkannter Religionsunterricht, den Rabbiner Tom Kučera und Kantor Nikola David erteilen, sowie die Kinder- und Jugendaktivitäten, die von den durch die UPJ ausgebildeten Madrichim geleitet werden. Zusätzlich treffen sich junge Erwachsene in der Gruppe Jung und Jüdisch München, die ein Teil der Organisation Jung und Jüdisch Deutschland ist.

Frau Jennifer Neßler ist herzlich eingeladen, Beth Shalom in München zu besuchen und ihren Eindruck, liberale jüdische Gemeinden in Deutschland seien für junge Familien nicht attraktiv, gründlich zu korrigieren.