Geschichtspolitik mit der Brechstange

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Unbeeindruckt aller Proteste aus Israel sowie anderen Ländern unterzeichnete Polens Staatspräsident Andrzej Duda das umstrittene „Holocaust-Gesetz“ und löste damit eine diplomatische Krise aus…

Von Ralf Balke

Per Dekret unschuldig – das scheint die Absicht hinter der Gesetzesinitiative zu sein, die vor wenigen Tagen vom polnischen Parlament verabschiedet wurde und nun durch die Unterschrift von Staatspräsident Andrzej Duda ihren letzten Segen erhielt. Die Rede ist vom sogenannten Holocaust-Gesetz. Dieses besagt, dass wer „öffentlich der polnischen Nation oder dem polnischen Staat faktenwidrig die Verantwortung oder Mitverantwortung für Verbrechen zuschreibt, die durch das Dritte Reich begangen wurden“, mit einer empfindlichen Geldstrafe oder bis zu drei Jahren Gefängnis rechnen muss. Ziel der Gesetzesinitiative ist der Schutz des Ansehens Polen. Und genau das scheint durch diese höchst umstrittene Maßnahme nun deutlich gelitten zu haben.

Zwar will Duda das Holocaust-Gesetz noch dem Verfassungsgerichtshof zur Prüfung vorlegen, um auch ganz sicher zu sein, dass durch diesen Schritt nicht das Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt werde. „Ich möchte absolut nicht, dass die Überlebenden in irgendeiner Form daran zweifeln, dass sie weiter ihre Wahrheit verbreiten können, ohne sich in Polen strafbar zu machen“, erklärte er. Doch Bedenken sind von dieser Instanz gewiss nicht zu erwarten – schließlich hat die nationalkonservative Regierung dafür gesorgt, dass dort ausschließlich ihr loyal ergebene Juristen das Sagen haben. Worüber Warschau aber keine Kontrolle hat, sind die Reaktionen aus dem Ausland. Und die fielen äußerst negativ aus – vor allem in Israel. Dort herrschte über die Gesetzesinitiative in allen Teilen der Gesellschaft und über die Parteigrenzen hinweg blankes Entsetzen. Es meldeten sich die unterschiedlichsten Stimmen, die darin eine Verschleierung der polnischen Mittäterschaft an vielen Verbrechen sehen, welche während der Zeit der deutschen Herrschaft über Polen und unmittelbar danach gegen Juden verübt wurden.

Dabei hätten wohl auch manche Kritiker des Holocaust-Gesetzes in Israel durchaus Verständnis für die Position Warschaus gehabt. Denn ursprünglich wollte man sich dort nur gegen das immer wieder gebrauchte Begriffspaar „polnische Konzentrationslager“ wehren, weil dieses in den Augen vieler Polen mehr als nur eine geographische Verortung sei, sondern darüber hinaus die Deutung einer aktiven polnischen Beteiligung an der Vernichtungsmaschinerie implizieren würde. Schließlich wurden alle Konzentrationslager auf polnischem Boden von den Deutschen errichtet und betrieben. Regelmäßig intervenierte das polnische Außenministerium deshalb gegen diese Formulierung – seit 2008 allein über 1.200 Mal.

Doch die aktuelle Initiative schießt über dieses Ziel deutlich hinaus. Unter Berufung auf die neue Rechtslage, die bewusst unpräzise formuliert zu sein scheint, könnten all diejenigen belangt werden, die das Thema Antisemitismus in Polen und den vielfachen Verrat an seinen jüdischen Bürgern in dieser Zeit überhaupt thematisieren wollen. Und genau dieser gehört zum Arsenal der individuellen oder familiären Erinnerungen nicht weniger Israelis. David Silberberg, Historiker in Yad Vashem, bringt deshalb die Meinung vieler von ihnen auf den Punkt, wenn er sagt: „Es scheint so, als ob die Polen die Geschichte neu schreiben wollen. Und in diesem nationalistischen Narrativ sind es allein die Polen, die die Opfer waren.“ Niemand würde Zweifel daran äußern, dass die Deutschen Millionen von nichtjüdischen Polen versklavt und ermordet hatten. Aber es gab eben auch zahlreiche Polen, die aus antisemitischen Motiven oder in der Hoffnung auf materielle Vorteile Juden an die Deutschen ausgeliefert hatten. Nicht selten brachten sie wie bei dem Massaker von Jedwabne selbst Juden um. Der polnische Historiker Jan Grabowski schätzt die Zahl der Juden in Polen, die so zu Tode kamen, auf rund 200.000. Genau diese Ambivalenz würde durch das Gesetz ausgeblendet werden und Stimmen wie die von Grabowski zum Schweigen gebracht, lautet der Vorwurf.

Auf der anderen Seite hält man in Israel die Erinnerung an die rund 6.700 Polen wach, die als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt werden, weil sie oft unter Einsatz ihres Lebens Juden vor den Nazis gerettet hatten. Nichtsdestotrotz ist das Gesetz zu einem Politikum geworden. So wurde der polnische Botschafter in Israel in das Außenministerium zitiert und Ministerpräsident Benjamin Netanyahu sagte, dass man keinerlei Versuche akzeptieren würde, „die Geschichte umzuschreiben“. Und Yair Lapid, Vorsitzender der oppositionellen Partei Yesh Atid setzte noch einen drauf, als er folgendes twitterte: „Polen war Komplize im Holocaust. Hunderttausende von Juden wurden auf seinem Territorium ermordet, ohne je einen deutschen Offizier gesehen zu haben.“ Auch Avi Gabbai von der Arbeiterpartei meldete sich zu Wort und erklärte, dass die polnische Entscheidung Holocaust-Leugner in der ganzen Welt zum Weitermachen motivieren würde. Selbst Vertreter der Vereinigten Arabische Liste sagten, dass die Gesetzesinitiative „schändlich und gefährlich“ sei. Und der vom israelischen Polit-Establishment gemiedene arabische Knesset-Abgeordnete Ahmed Tibi forderte die polnische Regierung auf, diesen „beschämenden“ Beschluss wieder rückgängig zu machen. Last but not least sagte Warschau den längste geplanten Besuch des israelischen Bildungsministers Naftali Bennet ab. Der reagierte mit einer heftigen Attacke: „Das Blut polnischer Juden schreit aus dem Boden, und kein Gesetz wird uns zum Schweigen bringen.“

Damit war eigentlich allen klar, dass das Thema längst in der israelischen Innenpolitik angekommen war und jeder sich darin überbot, Polen für seine Geschichtspolitik an den Pranger zu stellen. Das wiederum veranlaßte das Außenministerium in Warschau zu erklären, dass die israelischen Reaktionen nur zeigen würden, wie richtig das neue Holocaust-Gesetz sei, was das rhetorische Pingpong-Spiel zwischen beiden Seiten nur weiter beschleunigte. Die Tatsache, dass daraufhin Netanyahu und sein polnischer Amtskollege Mateusz Morawiecki zum Telefon griffen, um die Angelegenheit irgendwie aus der Welt zu schaffen, zeigt, welche Dimensionen der Streit um das Holocaust-Gesetz mittlerweile angenommen hatte. Und ein Ende ist noch lange nicht in Sicht. Erst am Wochenende behauptete Andrzej Zybertowicz von der Nicolaus Kopernikus-Universität, ein Berater des polnischen Präsidenten, dass die israelischen Reaktionen auf die polnische Gesetzesinitiative nicht anderes als ein Ausdruck „des Gefühls der Scham für die Passivität der Juden während des Holocausts“ sei und Israels Opposition dagegen „antipolnisch“ wäre und zeige, dass der jüdische Staat „nur darum kämpft, das Monopol auf den Holocaust und seine Deutung zu haben“. Ferner behauptete er, dass sich „viele Juden an der Kollaboration während des Krieges schuldig gemacht“ hätten und Israel keine Bereitschaft zeige, dieses Kapitel der Geschichte „aufzuarbeiten“. All das liest sich wie ein klassisches Beispiel der Opfer-Täter-Umkehr und sorgte für weiteres böses Blut.

Kritik an der polnischen Gesetzesinitiative kam aber nicht nur aus Israel. „Das Ganze ist wirklich sehr unklug“, so das Urteil des französischen Außenministers Jean-Yves Le Drian. „Man darf die Geschichte nicht einfach umschreiben. Das ist keine wirklich gute Idee.“ Er hoffe deshalb nicht nur auf einen Meinungsumschwung in Warschau, sondern setze auch auf die polnischen Wähler, die dieser ultranationalistischen Regierung wieder ein Ende setzen könnten. Und der amerikanische Außenminister Rex Tillerson äußerte Befürchtungen, dass das neue Gesetz „ernsthafte Folgen für das Recht auf freie Meinungsäußerung sowie die Freiheit der Wissenschaft“ habe. „Polen ist nur die Spitze des Eisbergs“, erklärt Efraim Zuroff, Direktor des Simon Wiesenthal Centers. „Es gibt im östlichen Europa noch weitere Beispiele für die Verzerrung von historischen Narrativen.“ In der Tat ist Polen nicht das einzige Land, das Gesetze kennt, die die Schoah zu einer exklusiv deutschen Angelegenheit machen wollen. So unterzeichnete bereits  2015 der ukrainische Präsident mit dem Gesetz Nummer 2538-1 eine ähnliche Initiative. Auch Lettland und Litauen beschlossen solche Maßnahmen. Die Motive dafür bringt der ukrainisch-jüdische Journalist Alex Ryvchin auf den Punkt: „Sie alle wollen die große nationale Erzählung von der eigenen Opferrolle gesetzlich verankern und jede Form der Diskussion, die diese in Frage stellen könnte, kriminalisieren.“

Bild oben: Auschwitz, Polen 1945. Eingang nach der Befreiung, Bundesarchiv, B 285 Bild-04413 / Stanislaw Mucha / CC-BY-SA 3.0