Ein Leben voller Irrtümer?

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Wolf Wagner, der Autor des „Uni-Bluffs“, legt eine Autobiografie vor…

Von Roland Kaufhold

Der Politikwissenschaftler Wolfgang Wagner hatte sich mit einem Buch einen Namen gemacht: „Uni-Angst und Uni-Bluff“. Es erschien 1977 beim Westberliner Rotbuch-Verlag, erreichte bis heute eine Auflage von 200.000 und gilt als ein Klassiker. Insbesondere Studienanfänger wollte Wagner hierdurch ermutigen, sich nicht durch akademische Rituale und akademische „Geheimsprachen“ einschüchtern zu lassen.

Nach dem Ende der DDR erlang Wagner, der bereits vieles ausprobiert und einige „linke“ Bestseller publiziert hatte, eine Professur an der Fachhochschule Erfurt. Bald war der 1944 in Tübingen Geborene Unipräsident. 2009 ging er in den Ruhestand.

Nun hat Wolf Wagner ein leicht lesbares autobiografisches Buch vorgelegt, überschrieben mit „Ein Leben voller Irrtümer“. Hinzugefügt hat er den kokettierenden Untertitel „Autobiografie eines prototypischen Westdeutschen“.

Wagner spricht in einer für einen Wissenschaftler ungewohnten Direktheit von sich selbst, seinen eigenen „Irrtümern“, seinen politischen und biografischen „Irrwegen“. Aufgewachsen in der Universitätsstadt Tübingen der Nachkriegszeit erinnert er sich an eine gleichermaßen durch Nazis wie auch durch einen evangelischen Pietismus geprägte Atmosphäre. An dieser arbeitete er sich zeitlebens, in scheinbar distanzierender Weise, ab.

„In meiner Kindheit machten wir sonntags Ausflüge mit mehreren dieser Nazifamilien, häufig Witwen oder geschiedene Frauen von Altnazis mit vielen Kindern“, erinnert sich Wagner an die Nachkriegszeit. Die Kirchen hatten seinerzeit noch einen sehr großen Einfluss. Die pietistische Grundeinstellung der evangelischen Kirche prägt ihn nachhaltig: Während es den Katholiken die Möglichkeit des Beichtens erlaubt, sich moralisch „daneben“ zu benehmen – schließlich wurde man die „Untat“ rasch wieder los“ – befeuerte die Botschaft der evangelischen Pietisten den Kampf gegen „die Sünde“. Der spätere 68er Rebell Wagner erlebt eine „karge, lustfeindliche Welt“, gegen die auf immer neuen Wegen und Irrwegen ankämpft. Als er in der Schulzeit über die Lektüre von den Verbrechern der in seiner Jugend allgegenwärtigen Nazis erfährt, rebelliert er gegen diese „Schandtaten meiner Vätergeneration“ in der ihm einzig möglichen Weise: Er entwickelt einen „moralischen Rigorismus“, verweigert sich in der Schule, entwertet die vorherrschende Moral.

Am Gymnasium und bei der Elterngeneration dominierte ein Antiamerikanismus. Als Wolf Wagner 1960, gegen den Willen seiner Schule, für ein knappes Jahr als Austauschschüler in die USA geht eröffnet sich ihm eine ganz neue Welt: Er erlebt Gleichheit, die Kraft der amerikanischen Utopie: Jeder habe die Chance, aber auch die Pflicht, sich selbst zu verwirklichen. Amerika empfindet der 16-Jährige „von Anfang an“ als eine „Befreiung“. Das amerikanische Bildungssystem erlebt er als inklusiv, das an einer kleinen Elite orientierte Bundesdeutsche hingegen als exklusiv: „Es war keine Schande zu stürzen. Es war eine Schande, nicht wieder aufzustehen und für seine Selbständigkeit zu kämpfen. Das war der amerikanische Geist.“ Die Rückkehr in das pietistische Tübingen ist für ihn ein Schock. Es folgte ein Studium in Tübingen und Bonn. Rolf Wagner durchlebt Monate der Einsamkeit, der Beziehungslosigkeit. Man siezt sich, trägt Krawatten. In der Uni der 60er Jahre „fühlte ich mich dumm, einsam und verlassen.“ Er war als Student keine Spitze, erlebt Überforderung und Orientierungslosigkeit. Dann die Teilnahme an ersten Demonstrationen, Tübinger Asta-Vorsitzender ist der vier Jahre ältere Hermann Gremlitza.  

Dann geht Wolf Wagner nach Westberlin, hat eine erste Stelle am Otto-Suhr-Institut. Dem Aufbegehren der 68er Zeit schließt er sich an, er liest Marx: „Meine Amerikaliebe verkehrte sich ins Gegenteil“ – was er im Rückblick als eine „prototypisch westdeutsche“ Reaktion interpretiert. Bald versteht er sich als „antiautoritär“ – und vermag dies doch mit seinem Privatleben kaum zu verbinden. Die Euphorie führt ihn und viele seiner Generation zu einer Selbstüberschätzung, einer Grenzüberschreitung. Die vor einigen Jahren aufgedeckten Missbrauchsfälle in der Odenwaldschule überraschen ihn deshalb im Rückblick nicht mehr. Anfangs schließt er sich den undogmatischen radikalen Gruppen an. Als er erlebt, dass selbst leisester Widerspruch, Selbstreflexion nicht zugelassen sondern entwertet wird stellt er seine „revolutionäre Praxis“ ein.

1969 schließt Wolf Wagner sich der „sozialistischen Assistenten-Zelle“ am Otto-Suhr-Institut an: Der Zwang zur Teilnahme an Demonstrationen, die allgegenwärtigen Selbstinszenierungen der verschiedenen radikalen Gruppen widern ihn bald an: „Wer das radikalere, „konsequentere“ Argument vortrug, hatte gewonnen.“

1973 legt er seine wachsende Skepsis, seine Enttäuschung unter dem Titel „Der Bluff“ in der Studentenzeitung Prokla nieder. Es war das für alle Zeiten bestverkaufte Heft: „Von da an war ich der „Bluff-Wagner““. Vier Jahre später erweitert er seine Einsichten zu seinem legendären „Uni-Bluff-Buch“. Hunderte von Studenten schreiben ihm im Laufe der Jahre, dass das Buch sie vor schwersten Krisen bewahrt habe. Nun ist er die „Feindfigur der Kaderorganisationen“.

Wagner promoviert, sucht aber zunehmend Zuflucht auf griechischen Inseln. Dort findet er mehr Leben, Ruhe, als in der akademischen Tätigkeit, der „Begriffsklauberei ohne Bezug zur Wirklichkeit“.

Bis 1982 hat er eine Stelle als Assistenzprofessor – und vermag doch immer weniger Sinn in dieser Tätigkeit zu finden. Seine Selbstzweifel werden übermächtig. Es folgen radikale Fluchtversuche: Wagner schreibt zwar noch einige erfolgreiche Bücher – so 1976 bei Rotbuch über Zypern: „Im Fadenkreuz der NATO“. Seine eigenen konkreten Erfahrungen vor Ort vermag er mit seinen „linken“ Theoremen kaum noch zu verbinden. 

Es folgt für mehr als ein Jahrzehnt eine Reise in die „Psychowelt“: Die Stellen an der Uni sind vergeben, und er traut sich diese wohl auch nicht mehr zu. Wagner erlernt verschiedenste „alternative“ Behandlungsversuche, wird Reiki-Lehrer – und beschreibt diese, wieder in Tübingen ausgeübten, Tätigkeiten im Rückblick als schwerste Form von Scharlatanerie und Inkompetenz. Heute erscheinen ihm diese Jahre wie ein Leben in einer Sekte. Man möchte nicht hoffen, dass einer seiner früheren Patienten ihm heute noch einmal über den Weg läuft.

Mit seiner Freundin bricht er immer wieder zu langen Reisen auf griechische Inseln auf: Anfangs empfindet er dieses einfache Leben als die „Erfüllung eines Traums“. Bald jedoch erlebt er im dörflichen Leben nur noch Enge, sieht überall Intrigen, Entwertungen, Stillstand. Vermutlich war es seelisch einfach die innere Wiederholung seiner pietistischen Kindheit der Nachkriegszeit.

Eine Freundin rät ihm, dem – wie er sehr offenherzig beschreibt – feste Beziehungen zu Frauen nie lange gelingen, endlich zu einer „ordentlichen“ Psychoanalyse. Parallel hierzu findet die DDR ein Ende. Seine ökonomische Perspektive erscheint dem Mittvierziger als zunehmend bedrohlich. Seine Therapeutin empfiehlt ihm, sich auf die Realität einzulassen und hierbei an seine akademische Vorbildung anzuknüpfen. Wolf Wagner hat Glück: 1991 erhält er eine Professur für Sozialarbeit, obwohl er von deren Praxis eigentlich nichts versteht. Die meisten Kollegen sind ehemalige West-68er, darunter durchaus nicht wenige Anhänger doktrinärer Welterklärungen. Als den größten Erfolg seiner Psychotherapie beschreibt Wagner, dass er sich durch die immensen Widersprüche beim Wiedervereinigungsprozess, die er in Erfurt tagtäglich erlebt, wie auch durch seine zunehmenden körperlichen Handicaps nicht deprimieren lässt: Er nimmt die Beschwernisse als Herausforderung an, fühlt sich sogar aufgemuntert. Und er schreibt zunehmend stärker in der Ich-Form.

Wolf Wagner: Ein Leben voller Irrtümer. Autobiografie eines prototypischen Westdeutschen, dgvt Verlag, Tübingen 2017, 288 S., 19,99 Euro, Bestellen?