Vatersprache

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Gertrud Seehaus Gedichte über den Lischka-Prozess…

Von Roland Kaufhold

„Herr K
Ob Sie als Nebenkläger
zugelassen werden können
sei dahingestellt
Es ist nicht erwiesen
ob ihr Vater
in Auschwitz nicht an Verkühlung starb.“
Gertrud Seehaus (2017)

Vier lange Monate im Herbst 1979: Gertrud Seehaus, in Köln lebende Lehrerin und Schriftstellerin, besucht „an fast jedem Verhandlungstag“ – es waren insgesamt 29 – den Prozess gegen die NS-Täter Lischka, Hagen und Heinrichsohn. Die Erinnerungen an diesen NS-Gerichtsprozess sind auch knapp vier Jahrzehnte später noch in ihr lebendig: „Junge Franzosen, Abkömmlinge, Sympathisanten und überlebende Verwandte der Opfer kamen (…) von Frankreich nach Köln und machten sich vor dem Gerichtsgebäude durch Gesänge und Sprechchöre bemerkbar. Erst nach Tagen wich die Spannung.“ Dies schreibt Gertrud Seehaus – im Gedicht Ein paar Worte vorab – in ihrem soeben erschienenen kleinen, liebevoll gestalteten Gedichtband mit Stücken aus der damaligen Zeit. Mit Vatersprache hat sie ihr eindrückliches Spätwerk betitelt.

Ihr neuer Band lebte seit vielen Monaten in der 1934 Geborenen: Bei einem Besuch in ihrer Wohnung – sie ist mit dem Journalisten Peter Finkelgruen verheiratet – hängen in ihrem gemütlichen Wohnzimmer an zwei Schnüren knapp 30 Gedichte an einer Leine, zum Ordnen und Wiedererinnern: „Die Gedichte sind meine unmittelbaren Reaktionen auf das Geschehen im Verhandlungsraum, auf die Gespräche auf den Fluren und draußen vor dem Gerichtsgebäude. (…) Zorn, Trauer, Verwirrung ließen sich auf diese Weise einfach besser aushalten“, fügt Gertrud Seehaus in ihrer Einleitung hinzu.

Einige dieser Gedichte publizierte sie seinerzeit in der von Henryk M. Broder und Peter Finkelgruen in Köln im Selbstverlag herausgegebenen Zeitschrift Freie jüdische Stimme (1979-1980); die Zeitschrift existierte 18 Monate lang und war zuvörderst gleichermaßen eine Form der Selbstausbeutung wie auch der Selbstbehauptung der beiden sich seinerzeit als „sehr links“ verstehenden jüdischen Publizisten.[i] Ansonsten blieben die Gedichte überwiegend unveröffentlicht. Erst als Gertrud Seehaus kürzlich ihren Vorlass sichtete stieß sie noch einmal auf diese auch zeitgeschichtlich bemerkenswerten Werke. Nun hat sie sie erstmals in gesammelter Form als erinnerndes Büchlein herausgegeben, hierbei unterstützt durch die befreundete Autorin Nadine Englhart.

Ein langer Weg bis zur historischen „Gerechtigkeit“…

Der Weg hin zu diesem wegweisenden NS-Prozess war lang: Acht Jahre zuvor, im März 1971, Köln-Holweide, unweit der Bergisch-Gladbacher Straße 554, wo Lischka ungestört wohnte. Diese Szene hat sich in das kollektive bundesrepublikanische Gedächtnis eingeschrieben: Wir sehen einen flüchtenden älteren Herrn, er trägt einen Hut und hält sich schützend seine Aktentasche vor den Kopf. Zu sehen ist der in Köln lebende NS-Täter Kurt Lischka, gefilmt hatte ihn der in Köln arbeitende, aber in Israel aufgewachsene 36-jährige Kameramann Harry Zwi Dreifuß. 

Der Entführungsversuch Lischkas vor dessen Kölner Wohnung war wenige Wochen gescheitert. Serge und Beate Klarsfeld wollten den NS-Täter Lischka, Hauptorganisator der Verfolgung und Ermordung der französischen Juden, nach Frankreich entführen und dort vor ein Gericht stellen. Im März filmten sie ihn dann.

Es folgten zahlreiche weitere gezielte Regelverstöße der Klarsfelds und weiterer französischen Juden, darunter zahlreiche Kinder der Verfolgten: 1974 erschienen im Kölner Prozess gegen Beate Klarsfeld wegen der gescheiterten Entführung Zeugen in KZ-Kleidung vor dem Gericht. Ein Jahr später wurden französische Demonstranten vor Lischkas Kölner Büro in KZ-Kleidung abgeführt. Alles schien vergeblich. In Köln führte der Mörder ein ungestörtes Leben. Es dauerte acht weitere Jahre, bis der in Köln wohlgelitten lebende Kurt Lischka – der 1909 in Breslau Geborene promovierte Jurist war seit 1933 Mitglied der SS, machte in der Nazizeit schnell Karriere, war 1940 Gestapochef im Kölner EL-DE- Haus und wirkte ab November 1940 als Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Paris – endlich angeklagt wurde.

Im Herbst 1979, vor dem Prozessbeginn, reisten 1200 französische Juden nach Köln, viele trugen in den Kölner Straßen den gelben Davidstern. In der deutschen Presse fanden sich unzählige antisemitische Reaktionen auf den Prozess. Le Figaro kommentierte: „In Frankreich ehrt man die Opfer des Nationalsozialismus. In Deutschland schlägt man sie.“

Am 13.2.1980 wurden Kurt Lischka und seine Mitangeklagten Hagen und Heinrichsohn wegen „73.000-fachen Mordes“ zu 8, 10 und 12 Jahren verurteilt. Der Prozess dauerte nur vier Monate – für NS-Prozesse eine außergewöhnlich kurze Dauer. Durchgeführt wurde er von dem souverän auftretenden Heinz Faßbender und dem mutigen Staatsanwalt Rolf Holtfort.

Vatersprache

Wer jemals Akten aus der NS-Zeit gesichtet hat weiß um die Förmlichkeit, die Gewalt in einer bürokratischen Sprache verbergende NS-Beamtensprache. Diese Sprache, dieser NS-Geist sollte die junge Bundesrepublik noch für zwei, drei Jahrzehnte lang subtil prägen.

In Gertrud Seehaus´ Gedicht Vatersprache heißt es dementsprechend:

„… in Durchführung einer von mir angeordneten Sühnemaßnahme … / … schnellstens zu einer grundsätzlichen Änderung ihrer Haltung zur Judenfrage gezwungen werden … / … eine entsprechende Haltung der Sicherheitspolizei sicherstellen … / … Zweckmäßigkeit der Maßnahmen gegen Juden im besetzten Gebiet … / … Judenabschub kaum mehr zu bewältigen… / … durch deutschen Einfluss dahingehend aktiviert, sich den getroffenen Maßnahmen anzuschließen.“

Man blättert zu nächsten Seite – und sieht die „Liste Alphabetique du Convoi No 32“: 100 Namen aus der Liste der französischen Juden, sie wurden ausnahmslos ermordet. Serge Klarsfeld, dessen Vater zu den Opfern der Shoah gehörte, hatte diese Listen mit 1049 Namen 1978 in seinem das Grauen dokumentierenden Buch „Le Memorial de la Deportation des Juifs de France“ publiziert. Darunter befindet sich auch ein „Broder, Toba, geb. 3.3.99, Wipskow“.

Im Gedicht Damals noch finden sich die an die Kindheit erinnernde Zeilen: „Da haben wir gelächelt in die Gesichter der Monster / und Hände gereicht in dumpfem Vertrauen / denen die vor uns standen (…) unseren Gehorsam bewachend / im Hochsicherheitstrakt unserer Erziehung.“

Das kurze Stück „Wandel der Dinge“ geht so:
„Da klebt er an der linken Mantelseite / Krätze / Wundmal / löst sich und fliegt / voran dem letzten Grauen / sich unwiederbringlich an den Himmel heftend / Ein Stern ist ein Stern ist…“

Im Gerichtsprozess war Seehaus über zahlreiche Stunden mit den drei NS-Tätern konfrontiert – darunter der Vater ihres Kölner Literatenfreundes Jens Hagen – die doch erschreckend normal wirkten und dementsprechend auch auftraten. In Zeuge der Verteidigung versucht sie ihre tiefe Erschütterung in dieser Weise in Worte zu fassen: „Im Nachtjackenviertel von Paris war das / sagt er / genüßlich die Vokale röhrend / in augenzwinckernder Altherrensüffisanz / Kann er sich erinnern: / die Razzia / nächtliche / aufgestörte Menschen / Gejagte Gehetzte?“

In dem Gedicht Was ist Simon Fainchtein nähert sich Gertrud Seehaus einem der von den Deutschen Bedrohten:

„Hinter meinen geschlossenen Augen / kommt er ins Bild / Simon Fainchtein / Aschenregenkleider / an den Schuhen schwärzlicher Lehm / Was ist Simon Fainchtein / sagt einer / Friß Sand“

Das Gedicht Rechtsfindung spielt unmittelbar im Gerichtssaal. Eine Passage hieraus: „Sie ziehen schwarze Roben an / Es wird dargelegt wo das recht / sich nicht verbergen kann / Im Druck der Straße / Im Nachtzug Paris – Köln / Unter den gelben Ansteckern JUIFS DE FRANCE / hinter den aufsässigen Gesichtern / der FILS ET FILLES DES DÉPORTÉS / In den Liedern die gesungen werden / vor dem Gerichtsgebäude / Könnte er sich verbergen / in den gleichmütigen Mienen der Saaldiener / der Magenschleimhautentzündung / des zuhörenden Herrn Mandelzweig“.

Seehaus spinnt den Gedanken, die Spurensuche, den Begegnungen der so Ungleichen, weiter, um am Ende des Gedichts ernüchtert zu konstatieren: „Am 12. Februar 1980 wird das Recht / nicht auffindbar / trotz neunundzwanzigtägiger Suche / als gefunden verkündet“.

Dann folgt das knappe Kapitel Rechtsfindung II, in dem sie die den NS-Prozess abschließenden Bemerkungen des Richters Heinz Faßbender mit dessen Zustimmung wiedergibt. Es sei „durch einen unerlaubten heimlichen Tonbandmitschnitt eines Spiegel-Redakteurs erhalten“ geblieben. Der couragierte Richter skizziert die menschlichen Abgründe, die juristischen Grenzen dieses Prozesses nach: „Man kann nämlich zu ihnen“ – den drei Angeklagten – „keinen Abstand herstellen. Von jedem anderen Täter, den wir vor dem Schwurgericht hatten, sei es Räuber oder Mörder, kann man sich innerlich distanzieren. Von ihnen dagegen nicht.“

Den Abschluss des Gedichtbandes bilden vier Kindergedichte und eine von Gertrud Seehaus neu angefertigte persönliche Vorbemerkung zu diesen. Es ist nur schwer auszuhalten, diese zu lesen: Serge Klarsfeld hatte im Vorfeld des Prozesses die Liste der von Drancy aus nach Auschwitz Verschleppten 1051 Juden in Paris ausgestellt. Peter Finkelgruen arrangierte es, dass diese mit Einverständnis Klarsfelds vor dem Prozess im Foyer des Kölner Theaters ausgestellt wurden. Unter den Ermordeten waren auch zahlreiche Kinder. Seehaus zeigte diese Ausstellung auch ihren Schülern. Diese machten sich auf die Suche – und fanden ein Mädchen, das am gleichen Tag wie Gertrud Seehaus geboren wurde: Anna Tocynski, geboren in Paris, wie auch ihre Mutter Chana. Seehaus fügt hinzu: „Die Gedichte halten fest, was die Schüler und Schülerinnen sich dazu vorstellen konnten.“

In Späte Verwandtschaft finden sich die Zeilen:

„Heute hab´ ich meine Zwillingsschwester gefunden
Anna Tocynski
geboren am 2. Dezember 1934 wie ich

Am 14. September 1942
als ich mit meiner Puppe spielte, die Katja hieß
ist sie im Konvoi Nummer 32
vom Bahnhof Le Bourget/Drancy aus
nach Auschwitz gefahren (…)

Anna Tocynski meine Zwillingsschwester
ist sofort ins Gas gekommen
vom Zug aus
am 16. September 1942

58 Frauen und 49 Männer
kamen nicht gleich ins Gas (…)

Im September 1942
hab´ ich auf der Schaukel gesessen
und mit meiner Puppe gespielt die Katja hieß
am 16. September 1942

Anna Tocynskis Puppe
so denk´ ich mir
hieß Malka

Auf der Liste nach Auschwitz
ist keine Puppe verzeichnet“

Gertrud Seehaus (2017): Vatersprache, 76 S., gebunden Books on Demand, ISBN: 978-3744835497, Euro 20,00, Kindle Edition 5,99, Bestellen?

 

Links:

Roland Kaufhold (2017): Wo denn und wie?, Lesung von Gertrud Seehaus-Finkelgruen aus ihrem neuen Gedichtband, haGalil: https://www.hagalil.com/2017/10/seehaus-finkelgruen/

Karin Clark (2014): Für Gertrud Seehaus-Finkelgruen. Zum 80. Geburtstag:https://www.hagalil.com/2014/12/gertrud-seehaus/

Wibke Bruhns: Grüße an Gertrud Seehaus-Finkelgruen:https://www.hagalil.com/2014/12/gertrud-seehaus-finkelgruen/

Gertrud Seehaus (2002): Ist die Literatur ein Männerschlachtfeld? Über Günter Grass und seinen Roman „Tod eines Kritikers“:https://www.hagalil.com/antisemitismus/deutschland/seehaus.htm

Nadine Englhart (2014): Zum 80. Geburtstag von Gertrud Seehaus:https://www.hagalil.com/2014/12/gertrud-seehaus-2/

Roland Kaufhold (2013a): Im KZ-Drillich vor Gericht. Ein Sammelband beschreibt, wie Serge und Beate Klarsfeld Schoa-Täter aufspürten und der Gerechtigkeit zuführten, Jüdische Allgemeine, 4.7.2013: http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/16379/

Roland Kaufhold (2013b): „Ich erinnere mich an diesen Deutschen ganz genau, haGalil: http://buecher.hagalil.com/2013/05/lischka-prozess/

Vom Autor dieser Besprechung erscheint im Herbst 2018 ein Buch über Leben und Wirken Peter Finkelgruens; darunter auch eine umfangreiche Studie über die Freie Jüdische Stimme (Psychosozial Verlag).