Peter Hayes will Antworten auf das „Warum?“ des Holocaust geben

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Der Historiker Peter Hayes will in seinem Buch „Warum? Eine Geschichte des Holocaust“ immer wieder gestellte Fragen zu den Gründen und Verlaufsformen des Massenmordes an den Juden beantworten. Dies gelingt dem Autor im Sinne einer stärkeren Annäherung an Antworten, aber nicht immer wirkliche überzeugend in Gesamtschau – gleichwohl liefert er eine Fülle von wichtigen Anregungen zu weiteren Forschungen und Reflexionen…

Von Armin Pfahl-Traughber

Auch wenn der Holocaust zu den am besten erforschten Völkermorden gehört, sind noch immer viele Fragen hinsichtlich Ursachen und Verlauf offen. Immer wieder findet man auch Formulierungen wie „unerklärlich“ und „unverständlich“. Angesichts des Grauens sind derartige Zuordnungen mehr als nur nachvollziehbar. Doch lassen sich nicht viele Besonderheiten und Ereignisse vielleicht doch irgendwie erklären? Diese Frage hat sich der US-amerikanische Historiker Peter Hayes gestellt. Er ist emeritierter Professor für Holocaust Studies an der Northwestern University. Mit seinem Buch „Warum? Eine Geschichte des Holocaust“ verspricht er in eigenen Worten „eine gründliche Bestandsaufnahme, die direkt darauf abzielt, die zentralen und anhaltenden Fragen zu beantworten, warum und wie sich das Massaker an den europäischen Juden entfaltete. Genau dies bietet das vorliegende Buch“ (S. 12). Demnach will Hayes auf der Grundlage des aktuellen Forschungsstandes und Analysen zu den gemeinten Themen fern von historischen Legenden einige Antworten liefern.

Diese gelten acht Fragekomplexe, die auch die einzelnen Kapitel bilden: „Warum die Juden?“, „Warum die Deutschen?“, „Warum Mord?“, „Warum so schnell und so radikal?“, „Warum leisteten nicht mehr Juden mehr Gegenwehr?“, „Warum waren die Überlebensraten so unterschiedlich?“, „Warum kam nur so wenig Hilfe von außen?“ und „Welches Erbe? Welche Lehren?“ Der Autor nennt darin die jeweiligen Fakten und erörtert danach die Gründe für das Geschilderte. Auf die Frage „Warum die Deutschen“ antwortet er beispielsweise: „Weil eine schwere, vielschichtige nationale Krise, ein perfekter Sturm aus wirtschaftlichem, politischem, kulturellem und sozialem Aufruhr, den Trägern dieses Hasses den Weg ebnete, die Macht in Deutschland zu übernehmen und andere in derartigen Ansichten zu bestärken oder sie damit zu indoktrinieren“ (S. 366). Hayes geht dabei übrigens nicht davon aus, dass Antisemitismus ein herausragendes Motiv für die NSDAP-Wahl gewesen sei. Die meisten Deutschen seien erst Judenfeinde durch die Nationalsozialisten geworden.

Der Autor beansprucht auch, einige Mythen zu entlarven. Dazu gehört die Auffassung, wonach die Alliierten durch mangelnde gezielte militärische Interventionen den Vernichtungsprozess nicht gestoppt hätten. Es heißt in diesem Kontext: „Angesichts der Tatsache, wo und wann der Großteil des Mordens stattfand, hätten sie nichts zu können. Denn es geschah im nordöstlichen Quadranten des europäischen Kontinents und in den 18 Monaten nach der deutschen Invasion der Sowjetunion, als das Reich sich dauerhaft in der Offensive befand und Siege verzeichnete“ (S. 368). Es wird dabei aber auch immer differenziert. So bemerkt Hayes etwa, dass das Überleben primär von der Einstellung der Bevölkerung gegenüber den Juden in den jeweiligen Ländern abhing. Dazu erläutert er: „Hätten die Nichtjuden mehr Mut aufgebracht, Juden zu helfen, hätte es mehr Überlebende gegeben, aber nicht annähernd so viele, wie durch die zynischen politischen und persönlichen Kalküle von Kollaborationsregimes in Europa am Leben blieben“ (S. 389).

Der Historiker legt ein gut gegliedertes und überaus kenntnisreiches Werk vor. Es enthält viele Anregungen und Einschätzungen, die nähere Reflexionen verdienen. Allein von daher verdient „Warum?“ großes Interesse, wenngleich nicht jede Frage überzeugend beantwortet wird. Darüber hinaus haben sich einige kleinere Fehler und Unstimmigkeiten eingeschlichen, was aber bei einem so umfassenden Untersuchungsgegenstand ein wenig verzeihlich ist. Ausgerechnet bei der Darstellung des Lagersystems ergaben sich außerdem einige Schiefen. Auch wenn Hayes gegen Ende der Kapitel und im Schlussteil seine Positionen inhaltlich zuspitzt, hätte man sich doch insgesamt mehr Analyse gewünscht. Ein Beispiel: Bei der Frage „Warum die Deutschen?“ ist auch die Frage „Warum nicht die Franzosen?“ interessant, zumal diese Ende des 19. Jahrhunderts als besonders antisemitisch galten. Demnach wäre hier ein systematischer Vergleich hilfreich gewesen. Ein derartiger Blick fehlt ab und an. Aber damit gehen auch Anregungen einher, welche die Forschung befruchten können.

Peter Hayes, Warum? Eine Geschichte des Holocaust, Frankfurt/M. 2017 (Campus-Verlag), 445 S., Euro 29,95, Bestellen?

2 Kommentare

  1. „So bemerkt Hayes etwa, dass das Ãœberleben primär von der Einstellung der Bevölkerung gegenüber den Juden in den jeweiligen Ländern abhing.“

    Die Bayern hätten es, und hatten es, in den Händen gehabt – jüdische Leben zu retten.

    Sie bemerkten nämlich bei mindestens zwei Gelegenheiten, dass die Macht der sog. „Nazis“ nicht unbegrenzt war. Daniel Goldhagen hat es in seinem Buch „Die katholische Kirche und der Holocaust“ beschrieben:
    1934 entfernten die Nationalsozialisten den ihnen unbequem gewordenen evangelischen Landesbischof Meiser aus seinem Amt. Die Bayern protestierten derart vehement und regimebedrohlich, dass der (auch noch durch und durch antisemitische) Bischof reinstalliert werden musste.
    Ebenso 1941: Der bayerische Gauleiter Wagner, kein Freund der Kirchen, gab die Entfernung der Kreuze aus Münchner Schulen in Auftrag. Der Sturm der Entrüstung, der sich danach unter den zivilisatorisch zurückgebliebenen Südländern zusammenbraute, ließ bei Hitler derartige Ängste aufkeimen, die Bayern könnten ihm beim geplanten Angriff gegen die Sowjetunion nicht ihre volle Unterstützung leisten, dass er den Auftrag seines voreiligen Gauleiters höchstpersönlich rückgängig machte. Das Holzsymbol kam wieder in die Münchner Klassen, wo es heute noch hängt.

    Was wäre wohl geschehen, wenn die Bayern die Juden nicht derart abartig gehasst hätten, wie sie es taten, sondern sich gleich nach Erfolg des ersten Protestes 1934 mit ihren Juden solidarisch erklärt hätten? Ob dann noch die geplante Rassenpolitik hätte greifen können? Ob dann die Vernichtung immer noch ungehindert hätte ihren Lauf nehmen können? Auch noch 1941, nach Erfolg des zweiten Protestes, da befand sich Auschwitz noch im Bau oder wurde gerade fertig, hätte ein Proteststurm der Bayerischen gegen die Entfernungen (Deportationen) von Juden aus ihrer Umgebung, durchaus zumindest Störung des geplanten Ablaufs der Vernichtung bedeuten können…

    Die Bayern hätten/hatten es in der Hand gehabt. Sie wussten genau wie ihr Hitler tickte, denn der kam ja aus ihrer Mitte.

  2. Zitat:
    Hayes geht dabei übrigens nicht davon aus, dass Antisemitismus ein herausragendes Motiv für die NSDAP-Wahl gewesen sei. Die meisten Deutschen seien erst Judenfeinde durch die Nationalsozialisten geworden.
    :Zitat-Ende

    Hayes ist ein angepasster Historiker, ein Mann des Establishments, jemand, der es sich mit den Eliten nicht verderben will, daher sagt er Dinge, die niemandem weh tun (sollen).

    Aber wie war das doch mit der 1000jährigen deutschen Pogromkultur, von der wir erst kürzlich auf diesem Kanal lesen konnten?
    Hier, zur Erinnerung: http://www.hagalil.com/2017/11/pogrome-in-deutschland/
    Gab es viele Länder die eine vergleichbare judenfeindliche Pogromkultur entwickelt haben?
    Gab es viele Länder in denen der schädliche Einfluss des christlichen Klerus (auch Luthers) derartigen, nachhaltigen, dauerhaften Hass hervorgebracht hat?
    Und wie ist das mit dem heutigen deutschen Juden-/Israelhass? Laut verschiedenen Angaben sind es 20 bis 50 % der Deutschen, die im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts immer noch mehr oder weniger stark antisemitisch eingestellt sind. Trotz einer beispiellosen Aufklärungskampagne seit nun schon drei Generationen. 20-50 % Antisemitismus sind jedenfalls mehr Prozent als in den meisten anderen westeuropäischen Ländern!

    An Hayes guten Absichten sind Zweifel angebracht. Auch er will nicht, dass Deutsche mal angestrengt über sich nachdenken. Denn dann kämen sie auf andere, beunruhigendere Erkenntnisse, Erkenntnisse, die den Herrschenden nicht in den Kram passen könnten.

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