„Wann wird endlich das Leiden enden?“

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Im Jahr 2009 übergaben Ruth Elkabets und Miriam Prager die Tagebücher ihrer Großtante Camilla Hirsch, die sie in Familienunterlagen zufällig entdeckt hatten, dem damaligen Direktor von Beit Theresienstadt[1] Oded Breda. Breda erkannte die Bedeutung dieser Dokumente sofort und veranlasste die Herausgabe der zwei Hefte…

Von Monika Halbinger

Camilla Hirsch ist 73 Jahre, als sie gemeinsam mit ihrer Freundin Mila, mit der sie in Wien eine Wohnung teilt, nach Theresienstadt deportiert wird. Der Zeitraum der Berichterstattung umfasst die Zeit ab der Zwangsräumung am 10. Juli 1942 bis 10 Monate nach der Befreiung. Der letzte Eintrag findet sich am 31.12.1945.

Gleich zu Beginn des Tagebuchs schildert Camilla Hirsch die grausame Vertreibung aus ihrer Wohnung (S.36). Während des überhasteten, unter Bewachung ablaufenden Zusammenpackens darf der Abschied von der zu Besuch kommenden, jüngeren Schwester nur mehr durch das Guckloch in der Tür stattfinden. Nach der Überstellung in das Sammellager Malzgasse 16, den Räumlichkeiten der ehemaligen Talmud-Torah-Schule, erfolgen die Deportationen vom berüchtigten Aspangbahnhof im Dritten Bezirk.[2]

Sehr präzise, nahezu nüchtern, mit analytisch scharfem Blick beschreibt sie den Alltag, den Kampf ums Überleben im Ghetto Theresienstadt: die Furcht vor den Transporten nach Osten, die den sicheren Tod bedeuten, Hunger, katastrophale hygienische Bedingungen und die daraus resultierende, sehr reale Angst vor Krankheiten. Durch die beengten Wohnverhältnisse wird jeder nächtliche Toilettengang zur Herausforderung, muss man doch aufpassen, auf niemand anderen zu steigen. Suizide unter den alten Personen sind häufig: „Es hat sich etwas sehr Trauriges ereignet. Nelly, meine liebe Freundin, hat sich mit Veronal vergiftet“, schreibt sie im September 1942 (S. 75).

In der Schilderung des Ghetto-Alltags reflektiert sie die psychischen Auswirkungen, die mit der ständigen Konfrontation mit dem Grauen einhergehen: „Beinahe täglich in dieser Woche ist jemand in unserem Haus gestorben. Man wird so abgestumpft von dem vielen Leid und Elend, dass es einen fast nicht mehr berührt“ (S. 74), und an anderer Stelle meint sie resigniert: „Die Menschen sterben hier wie die Fliegen.“ (S. 75). Die Ausbeutung und Zwangsarbeit bedeuten für viele den sicheren Tod. Camilla ist sich über die auf die Ermordung von Menschen ausgerichteten Lebensbedingungen im Klaren und so heißt es an einer Stelle in ihrem Tagebuch: „Ich denke oft, die Sklaven in Onkel Tom`s Hütte hatten es besser!“ (S. 131)

Die „Verschönerung“ Theresienstadts anlässlich eines Besuchs des Internationalen Roten Kreuzes im Juni 1944, das auf diese Weise über die wahren Zustände und genozidalen Absichten getäuscht werden soll, beschreibt sie folgendermaßen: „Es geschieht zwar nicht für uns arme Gefangene, sondern für eine zu erwartenden Kommission, aber wir haben doch den Nutzen davon.“ (S. 118). Dies ändert sich aber bald und so hält sie in ihrem Tagebuch fest: „Das Essen ist wieder schlechter geworden; die Kommission ist weg und das aufgebesserte Essen auch. Leider.“ (S. 120)

Trotz des unmenschlichen Einpferchens von Menschen auf wenigen Quadratmetern, bei dem verständlicherweise zwischenmenschliche Spannungen nicht ausbleiben, kann Camilla ihre Selbstachtung wahren und hier werden ihre Schilderungen auf menschlicher Ebene besonders wertvoll. Camilla unterstützt Freunde sowie entfernte Familienangehörige und nimmt Anteil, spendet Trost, zeigt sich solidarisch und mitfühlend. Durch die freiwillige Arbeit im Büro, erhält sie Sondergenehmigungen, die es ihr ermöglichen, Freunde und Bekannte in ihren Häusern zu besuchen und ihnen die letzte Ehre auf den Beerdigungen zu erweisen. Trotz aller Verzweiflung lässt sie auch immer wieder Optimismus zu: „Die Hauptsache ist, dass man weiss, man lebt, und dass man gesund ist. Wann wird endlich die Erlösung kommen?“ (S. 121)

Die Sorge um ihre engsten Angehörigen, Sohn Robert und Schwiegertochter Grete, quält sie. Am 9. April 1944 schreibt sie: „Ich bin sehr nervös, weil ich schlechte Nachrichten über Ungarn höre. Meine Befürchtung ist eingetroffen, die Juden dort müssen den Judenstern tragen. Das ist nicht das Schlimmste, daran gewöhnt man sich, aber ich habe so grosse Sorgen, dass die Kinder die Erwerbsmöglichkeiten verlieren, und es war bis jetzt das Einzige, was mich aufrecht erhalten hat, dass ich wusste, dass es meinen Kindern gut geht. Wann wird endlich das Leiden enden?  Wann werde ich die Kinder wiedersehen?“ (S. 114) Ausbleibende Briefe verstärken die Unruhe und knapp einen Monat später heißt es: „Mein Geburtstag, und keine Nachricht von den Kindern. Wenn ich nur wüsste, wie es ihnen geht. Wo wird es ein Wiedersehen geben und wann?“ (S. 115)

Im Februar 1945 verlässt ein Transport mit 1.200 aus dem Ghetto befreiten Juden Theresienstadt in Richtung Schweiz; unter den Insassen befinden sich auch Camilla Hirsch und ihre Freundin Mila.

Recherchen in Schweizer Archiven belegen, dass das Leid mit der Befreiung keineswegs ein Ende hatte. Schon während ihrer KZ-Haft hatte Camillas Gesundheit stark gelitten und ihr war klar, dass ihr Überleben auch davon abhing, inwieweit es ihr gelang, sich zu schonen. Nun verschlechterte sich ihr Gesamtzustand kontinuierlich. Den ursprünglichen Plan, ihrem Bruder Siegfried nach Palästina zu folgen, gab sie auf, da ihr Gesundheitszustand keine Übersiedlung zugelassen hätte. Am 29. Juli 1948 verstarb Camilla Hirsch im Italienischen Krankenhaus in Lugano.

In ihrem letzten Tagebucheintrag vom 31.12.1945 berichtet sie, Nachricht von Robert und Grete erhalten zu haben. Beide haben überlebt und sind in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, wo sie den immer noch grassierenden Antisemitismus beklagen: „Sie sind mit dem Wien von jetzt gar nicht zufrieden, die Zustände und der Judenhass sind schlimmer als früher.“ (S. 149) Camilla kommentiert hierzu: „Die Sorge, ob sie leben, wurde von der Sorge, wie sie leben, abgelöst. Aber ich will nicht undankbar sein. Sie leben! Und das ist die Hauptsache und letztlich kommt auch der Tag, da ich sie wiedersehe.“ Ob es tatsächlich zu einem Wiedersehen kam, ist ungewiss und heute nicht mehr eruierbar. Als Leser kann man ihr dies nur von ganzem Herzen wünschen. Genau diese Hoffnung erhielt sie in Theresienstadt am Leben.

Der historische Kontext der sorgfältig edierten Tagebücher wird in zwei einleitenden Aufsätzen, zum einen über das österreichische Judentum in den Jahren zwischen 1938 und 1945 (Margalit Shlain) sowie zum Überleben in Theresienstadt (Anita Tarsi) kompakt, aber ausreichend und detailliert erläutert.

Camilla Hirschs Tagebuch ist insofern von besonderer Bedeutung, da nur wenige ältere Personen die Konzentrationslager überlebt und darüber berichtet haben. In Theresienstadt war das Augenmerk vor allem auf das Überleben der Kinder und Jugendliche gerichtet. Generell ist über das Leben älterer Menschen in Theresienstadt wenig bekannt. Camilla Hirsch – das vermittelt ihr Tagebuch anschaulich – erfüllt kein Klischee über das Alter und ihr Häftlingsbild aus Theresienstadt, das auf dem Buchcover abgebildet ist und eine weißhaarige, in die Jahre gekommene, etwas bieder wirkende Frau zeigt, mag bei manchem falsche Assoziationen wecken. Sie war keine schwache, vor Angst gelähmte, dem Schicksal ergebene Frau, sondern agierte stark und emanzipiert, was sich schon in ihrem Vorleben zeigte. Camilla Hirsch verfügte über literarische Erfahrung; betrieb vor dem Krieg ein kleines Schreibbüro und verfasste Geschichten für Erwachsene und Kinder, die sie im Eigenverlag herausgab. Mit Freundin Mila lebte sie gewissermaßen in einer Wohngemeinschaft. Unter den unmenschlichen Bedingungen der KZ-Haft gelang es ihr, ein wenig Selbstbestimmung und Würde zu wahren.

Aus Sicht der Forschung sind ihre Tagebücher auch unter einem weiteren Aspekt von nicht zu unterschätzender Relevanz, da sie sehr genau die auf Vernichtung gezielten Lebensbedingungen des Ghettos Theresienstadt zeigen. Dieses wurde lange, sogar in der Wahrnehmung der Forschung, verharmlost. Wolfgang Benz hat eindringlich darauf hingewiesen, wie sehr das heutige Bild von Theresienstadt immer noch von nationalsozialistischem Zynismus geprägt ist. Im öffentlichen Gedächtnis wird Theresienstadt „vielfach als Ort verstanden, an den Juden zwar deportiert wurden, an dem aber vor allem musiziert und gemalt wurde, wo bedeutende Wissenschaftler gelehrte Dispute hielten, wo bewegenden Kinderzeichnungen entstanden und Gedichte geschrieben wurden“.[3] In der deutschen Ausgabe der „Enzyklopädie des Holocaust“, die 1992 erschien, ist zu lesen,  dass Theresienstadt ein „ghettoähnliches Lager“ war, in dem sich die Lebensverhältnisse mit der Zeit verbesserten.[4]

Dokumente wie das Tagebuch von Camilla Hirsch korrigieren das verzerrte Bild von Theresienstadt und verhindern die mit den entstellten Darstellungen einhergehende Verhöhnung der Opfer. Die Nationalsozialisten dürfen mit ihren Verfälschungen und Lügen nicht doch noch gesiegt haben. Aus diesem Grund sei das vorliegende Zeitzeugnis einer großen Leserschaft empfohlen, gerade in Zeiten wie diesen, in denen Geschichtsvergessenheit und –leugnung geradezu epidemisch um sich greifen.

Camilla Hirsch: Tagebuch aus Theresienstadt, herausgegeben von Beit Theresienstadt, Mandelbaum Verlag, Wien 2017, 144 S., Euro 15,00, Bestellen?

Buchvorstellung am Dienstag, 07. November 2017, 18.30 Uhr im Jüdischen Museum Wien
Näheres unter: http://www.mandelbaum.at/veranstaltung.php?id=712&menu=termine

[1] Die Gedenkstätte Beit Theresienstadt wurde 1975 in der Nähe von Tel Aviv auf Initiative von Überlebenden des Konzentrationslagers Theresienstadt gegründet.
[2] Auf dem Areal des ehemaligen Aspangbahnhofs in Wien-Landstraße erinnert seit 7. September 2017  ein Mahnmal an die zwischen 1939 und 1942 erfolgten Deportationen von rund 47.000 Menschen – fast alle Juden – in Ghettos und Vernichtungslager, siehe: Alexia Weiss: Schienen in den Tod, Wiener Zeitung vom 6.9.2017 http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/wien/stadtleben/915306_Schienen-in-den-Tod.html [zuletzt aufgerufen am 18.10.2017]
[3] Wolfgang Benz: Theresienstadt. Eine Geschichte von Täuschung und Vernichtung, München 2013 (Kapitel 16: Mythos Theresienstadt: Das kulturelle Gedächtnis der Nachwelt, E-Book)
[4] Ebd.