„Macht Platz für die Parade“

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Der Unabhängigkeitstag fällt in diesem Jahr auf den 2. Mai, Theodor Herzls Geburtstag. Ein guter Anlass, an die ersten Jahre des Staates zu erinnern, in denen das Gedenken an Herzl mit dem Formierungsprozess des kollektiven Gedächtnisses Israels verknüpft war und in denen die Bedeutung des Herzl-Berges, wo heute Abend die Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag stattfinden, manifestiert wurde…

Von Andrea Livnat
Gekürzte Version des Beitrags in: nurinst 2010. Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte. Schwerpunktthema: Leben danach – Jüdischer Neubeginn im Land der Täter, Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts

»Mit Freude und Begeisterung empfingen die Massen in Tel Aviv die erste Truppenparade des jungen Staates Israel; mit Stolz und Liebe wurden die Reihen der Volksarmee bei ihrem Vorübergehen durch Tel Avivs Straßen empfangen.« Große Begeisterung spricht aus dem Bericht in der Tageszeitung Al ha-miscbmar über die erste Militärparade Israels, die am 17. Juli 1948, dem Staatstag stattfand. »Die Kämpfer von Haifa, die Eroberer von Lod und Ramie, […] die Helden vom Negev, die Verteidiger der Mauern Jerusalems« zogen durch die Straßen Tel Avivs, die von Fahnen schwenkenden, winkenden und rufenden Zuschauern gesäumt waren.

Der Staatstag und die Parade waren nach kurzfristigem Beschluss, knapp sechs Wochen nach Staatsgründung und inmitten der Kampfhandlungen des Unabhängigkeitskrieges, anberaumt worden. Als Termin wurde ein bestehender Gedenktag gewählt und umgedeutet, das hebräische Datum des 20. Tamus, der Todestag von Theodor Herzl. In seiner Ansprache im Maccabi-Stadion der Stadt zitierte Ministerpräsident David Ben Gurion aus Herzls Tagebuch den berühmten Satz zum Kongress in Basel: »In Basel habe ich den Judenstaat gegründet […].« Tatsächlich seien nur wenig mehr als 50 Jahre vergangen, bis sich diese Vision erfüllt habe und zum ersten Mal könne nun das Andenken an Herzl im »kämpfenden Staat Israel« geehrt werden. Trotz der jüngsten Errungenschaften sei der Weg aber noch weit und schwer. Herzl habe gesagt, »die Juden, die wollen, werden ihren Staat haben, und sie werden ihn verdienen«, schloss Ben Gurion, »lasst uns also alle unsere Pflichten im Glauben erfüllen und wir werden den Staat verdienen.«

Die Parade leistete einen wichtigen Beitrag für das Selbstbewusstsein und die Identifikation der Bürger des jungen Staates. In den schweren Tagen der kriegerischen Auseinandersetzung, die das mühsam Errungene zu zerstören drohte, demonstrierten die vorüber ziehenden bewaffneten Soldaten und Soldatinnen, sowie die beteiligten Einheiten der Luftwaffe und Marine Stärke und Stolz und setzten die Armee als zentrales Element des Staates im Bewusstsein der Zuschauer fest. Dass ausgerechnet Herzls Todestag als passender Termin gewählt wurde, zeugt von der Symbolkraft des Begründers des politischen Zionismus. Bereits am Vorabend der Staatsgründung war Herzl zum wichtigsten Symbol der Zionistischen Organisation geworden, sodass noch vor dem 14. Mai 1948 die Grundlagen für einen Nationalhelden und eine nationale Erinnerungskultur geschaffen wurden, die sich jedoch im Laufe der Jahrzehnte grundlegend ändern sollten.

Herzl selbst war sich zu Lebzeiten bewusst, dass er zu einem »lebendigen Symbol« geformt wurde. Seine Verehrung ging so weit, dass viele in ihm den lang ersehnten Messias sahen. Herzl verkörperte alles, was der Zionismus zur Schaffung eines neuen Menschen und eines eigenen Nationalstaates forderte und hatte als Symbol die Kraft, die unterschiedlichsten Strömungen zu einen, West- und Ostjuden, säkulare und religiöse Juden, traditionelle und aufgeklärte — auch wenn sich die Politik der zionistischen Bewegung bald von Herzls Vorgaben entfernte, seine Person war der gemeinsame Nenner. Der unter seinem Pseudonym »Baal Machschoves« bekannte Arzt und Schriftsteller Isidor Eliaschoff formulierte die tiefe Trauer in der Bewegung mit dramatischen Worten: »Mit dem Tode Herzls haben wir den einzigen konkreten Juden verloren; das lebende Symbol unserer ehemaligen bodenfesten Vergangenheit, unserer schwankenden, weitabliegenden Zukunft. Wir haben ein herrliches lebendiges Symbol begraben müssen.«

Bis zur Staatsgründung Israels war das Gedenken an Herzl bereits zu einem institutionalisierten Ritus geworden, sowohl in den Diaspora-Gemeinden wie auch im Jischuw, der jüdischen Gemeinschaft in Palästina. Bei der Suche nach einem geeigneten Termin für die erste Militärparade des Landes 1948 war also Herzls Todestag eine naheliegende Wahl. Im Jahr darauf wurde der 20. Tamus erneut umgedeutet. Der erste Unabhängigkeitstag, der kurz zuvor, im Mai 1949, mit einer großen Parade der siegreichen Armee begangen werden sollte, ging als »Marsch, der nicht marschierte« in die Geschichte ein. Die Begeisterung der Zuschauer am Straßenrand war so groß, dass sich die Menge nicht zurückhalten konnte und den Soldaten entgegen strömte. Die Straßen waren blockiert und die Parade konnte sich nicht in Gang setzen. Das Bedauern über den missglückten Aufmarsch war so groß, dass die Regierung den Herzl-Tag 1949 kurzerhand zum Armeetag umdeklarierte. Ben Gurion erklärte die Verbindung zwischen Herzl und der Armee damit, dass der Tag des Verkünders der zionistischen Vision, also Herzl, auch der Tag der Umsetzer, der Vollender dieser Vision, also der Armee sei.

Die Parade am Armeetag wurde mit großer Begeisterung angekündigt und betont, dass sie vom ganzen Volk gewünscht werde, sogar die Opposition habe in der Knesseth, trotz der hohen Kosten, keinen Widerspruch angemeldet, berichtet die Tageszeitung Jediot achronot. »Macht Platz für die Parade«, lautete die Überschrift, »denn diese Armee ist unser Retter und Verteidiger, denn diese Armee vollbrachte das Wunder, sie veränderte uns von kranken Pazifisten zu einem normalen und gesunden Volk.« Die Feierlichkeiten des Armeetages begannen mit einem festlichen Appell im Stadion am Stadtrand von Tel Aviv, bei dem etwa 8.000 geladene Gäste und weitere 40.000 Zuschauer anwesend waren. Im Anschluss setzte sich die Parade in Gang, die größte Militärparade, die das Land bisher gesehen hatte. In der Tageszeitung Palestine Post berichtete Monty Jacobs, dass die Parade genau 92 Minuten brauchte, um an ihm vorbeizuziehen, nach Polizeiangaben seien in den Straßen der Stadt 150.000 Menschen versammelt gewesen.

Trotz der allgemeinen Begeisterung, tauchten in den Medien auch kritische Anmerkungen zu den Feierlichkeiten auf. Die schärfste Kritik erschien in Ha-aretz unter dem Titel »Lasst den 20. Tamus für Herzl«. Der Autor des Artikels, der bekannte Journalist Arie Gelblum, fragte, warum Herzl, der im Leben kein Glück und eine Tragödie durchlebt hätte, nun auch, Jahrzehnte nach seinem Tod, noch immer kein gutes Schicksal widerfahre: »Warum kommt gerade mit der Gründung des Staates der endgültige Anschlag auf die Erinnerung an ihn?« Gelblum äußerte seine Verwunderung über die schon seit einigen Jahren ärmliche Form des Gedenkens an Herzl, die lediglich einen Film des Jüdischen Nationalfonds, Keren Ka-jemeth le-Israel (KKL), und hier und da eine Veranstaltung im Lande beinhaltete, denn Herzl sei doch »lebendig in uns in einer seltsamen Verbindung aus Legende und Realität«. Aber plötzlich habe die Regierung, ohne das Volk, ohne die zionistische Bewegung zu fragen, ohne eine Entscheidung der Knesseth, den Herzl-Tag gestrichen und stattdessen den Armeetag gefeiert. »Über dem 20. Tamus wird nicht die königlich messianische Figur Herzls schweben, sondern die Figuren der khakifarbenen Reihen und Panzer«, so Gelblum besorgt.

Tatsächlich wurde jedoch der Armeetag, genau wie zuvor der Staatstag, nur einmal gefeiert.  In der Rückschau erscheint es so, wie die Zeitung Davar am Tag vor der großen Militärparade im Juli 1949 konstatierte: Der Armeetag markierte »das Ende einer kurzen historischen Periode, die das Schicksal des Volkes für Generationen festlegte«. Er stand nicht nur am Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen, sondern auch am Ende eines Formierungsprozesses der Feiertage im kollektiven Gedächtnis des jungen Staates.

In Bezug auf Herzl stand das große Ereignis, die Überführung seiner Gebeine nach Israel, noch bevor. 1904 auf dem Döblinger Friedhof in Wien beigesetzt, hatte er in seinem letzten Willen festgehalten, man möge seine Leiche nach Palästina überführen. Die Zionistische Organisation bemühte sich Jahrzehnte um die Umsetzung dieses Wunsches; die unsichere politische Situation in Erez Israel und schließlich der Aufstieg des Nationalsozialismus machten jeden Ansatz zunichte. Von Beginn an drehten sich die Diskussionen innerhalb des extra gegründeten Komitees zur Überführung und den Zuständigen der Zionistischen Organisation um den passenden Ort des Grabes. Adolf Böhm, der vom 19. Zionistenkongress als Experte für die Frage der Überführung gewählt worden war, legte im Mai 1935 ein ausführliches Gutachten vor. Darin plädierte er für Haifa als Ort des Herzlgrabes. 

Nach der Staatsgründung, als die Überführung schließlich ausgeführt werden konnte, fiel die Entscheidung innerhalb des zuständigen Komitees jedoch auf Jerusalem: “It was the majority opinion of the […] Committee that Herzls last resting place should be in Jerusalem, the Capital of Palestine, and that furthermore, both national sentiment and the political, national and historic moment made Jerusalem the only choice.” Die Entscheidung für Jerusalem war eine klar politische. 1948 war der Status der Stadt noch im Unklaren und die Wahl des westlichen Teils Jerusalems als letzte Ruhestätte sollte einmal mehr Israels Anspruch auf die Stadt unterstreichen. Herzls Grab sollte als nationale Gedenkstätte dienen und dadurch der Bedeutung Jerusalems als »ewige Hauptstadt« der Juden auch in der Gegenwart zusätzliches Gewicht verleihen. Nicht nur der spätere Herzl-Berg, also ein Ort des nationalen Gedenkens, und die Universität, auch die im Aufbau befindlichen Regierungseinrichtungen und das Israel Museum sollten die Bedeutung des westlichen Teils Jerusalems für den jüdischen Staat bestärken. Am 5. Dezember 1949 erklärte die Regierung Jerusalem zum Teil des Staates Israel, fünf Tage später gab Ben Gurion bekannt, dass »Jerusalem ein untrennbarer Teil des Staates Israels ist und dessen ewige Hauptstadt. Kein Votum der UN kann diese historische Tatsache ändern.«

Herzls Grab sollte auf einem Hügel im Westen der Stadt angelegt werden, der mit 835 Höhenmetern der höchste Punkt Jerusalems ist und Ausblick auf große Teile der Stadt und die umliegenden jüdischen Siedlungen bietet. Die Knesset behandelte und verabschiedete das Gesetz zur Überführung der Gebeine Theodor Herzls am 10. August 1949. Die Überführung begann am Montag, den 14. August 1949 in Wien, mit der Öffnung des Familiengrabes auf dem Döblinger Friedhof. Die Überreste Herzls und seiner Eltern wurden umgebettet und gemeinsam mit dem Sarg seiner Schwester in der Synagoge in der Tempelgasse aufgebahrt. Nach einer bescheidenen Militärzeremonie wurden die Särge am folgenden Tag nach Israel geflogen, wo am Flughafen Lod ein Staatsempfang stattfand. Der Sarg Herzls wurde dann zunächst in Tel Aviv auf dem Platz vor der Knesseth aufgebahrt, damit die Öffentlichkeit Abschied nehmen konnte. Ha-aretz berichtete, dass Tausende kamen und großes Gedränge herrschte. Tatsächlich waren es wohl etwa 200.000 Menschen, die Herzl in Tel Aviv die letzte Ehre erwiesen.

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Unterdessen wurden in Jerusalem die Vorkehrungen für das formelle Begräbnis getroffen. Der Sarg wurde von einer Patrouille nach Jerusalem begleitet, wo er, im Innenhof der Jewish Agency, erneut aufgebahrt wurde und für die Öffentlichkeit zugänglich war. Am Begräbnis selbst waren 6.000 geladene Gäste zugegen. Der Sarg wurde von den Ehrenwachen und einem Teil der Gäste von der Jewish Agency zum »Herzl-Berg«, wie der Hügel im Westen der Stadt nunmehr genannt wurde, begleitet. Tausende säumten die Straßen. Rund um das Grab, das genau auf dem Gipfel des Hügels angelegt worden war, wurden 44 Fahnen, die 44 Lebensjahre Herzls symbolisierend, auf Halbmast gesetzt. Die Ehrengarde trug Abzeichen mit einem Vers aus Exodus: »nehmt dann meine Gebeine von hier hinauf«. Repräsentanten der jüdischen Siedlungen des Landes streuten mitgebrachte Erde in das Grab, ein Chor trug Psalmen vor und zu Trommelwirbel und Schofar-Klängen wurde der Sarg in die Erde gesenkt. Nach dem Kaddisch, dem jüdischen Totengebet, wurde zum Abschluss der Zeremonie die Staatshymne Ha-tikwa gesungen. Herzls Eltern und seine Schwester Pauline wurden nur wenige Meter von Herzls Grab entfernt bestattet. Die Zeremonie stellte in ihrer gesamten Symbolik den Anspruch des jüdischen Volkes auf das Land in den Vordergrund und erhob Jerusalem zum Sinnbild der Einheit des jungen Staats und das Grab Herzls als dessen symbolische Mitte. 

Der Herzl-Berg fungierte von Beginn an als Ort der Identifikation der jungen Nation. Jerusalem wurde durch die Symbolkraft des Herzl-Berges zu seiner bisher rein geistigen Bedeutung für das jüdische Volk um eine säkulare Bedeutung ergänzt, die nationale Wiederherstellung zur Basis hatte. Diese Konnotation wurde durch den Entschluss zum Bau der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem 1953 noch verstärkt. Der Herzl-Berg befindet sich seitdem geographisch zwischen dem Symbol für die Zerstörung der Souveränität und der Vertreibung in die Diaspora, der Klagemauer in der Jerusalemer Altstadt, und der Gedenkstätte Yad Vashem, die für die Zerstörung des jüdischen Lebens in der Diaspora steht.

Der Berg wurde bald zu verschiedenen Anlässen als Legitimationsgrundlage genutzt, immer mit der Intention, die eigene Souveränität zu bestätigen und Israels Anrecht auf einen Teil Jerusalems zu betonen. So fand beispielsweise Anfang Dezember 1949 eine Demonstration gegen Überlegungen der UNO, Jerusalem aus dem Hoheitsbereich Israels auszuklammern, ihren Höhepunkt am Herzl-Berg. Nur wenige Wochen später organisierte die paramilitärische Jugendorganisation Gadna eine Chanukka-Feier am Herzl-Berg, die sowohl den jüdischen Heroismus huldigte wie auch die Entscheidung der Regierung, Jerusalem zur Hauptstadt zu erklären. Auch für die Feierlichkeiten des Unabhängigkeitstages rückte Herzls letzte Ruhestätte ins Zentrum des Interesses: Obwohl die Bauarbeiten und die Ausgestaltung des Hügels noch nicht abgeschlossen waren, wurde schon 1950 beschlossen, die Eröffnungs-Zeremonie des Unabhängigkeitstages auf dem Herzl-Berg abzuhalten.

Die Symbolkraft des Ortes wurde durch dessen Ausbau weiter gestärkt. Noch vor dem Staatsbegräbnis wurde der Beschluss gefasst, dass an den Hängen des Berges ein Militärfriedhof errichtet werden sollte. Die Gründung eines Nationalfriedhofs auf dem Herzl-Berg war nötig, um die Gefallenen des eben zu Ende gegangenen Krieges begraben zu können und ihnen gleichzeitig ein Denkmal zu setzen, einen Ort der Besinnung, der gleichzeitig Heldentum, Stärke und Unabhängigkeit ausstrahlen sollte. Der dritte Teil des Herzl-Berges, der die Gräber der »Großen der Nation« beherbergt, wurde von Ben Gurion anlässlich des Todes von Finanzminister Eliezer Kaplan im Juli 1952 angeregt. Hier sollten hohe israelische Politiker und deren Angehörige ihre letzte Ruhe finden.

Gekürzte Version des Beitrags in: nurinst 2010. Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte. Schwerpunktthema: Leben danach – Jüdischer Neubeginn im Land der Täter, Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts