Das bemerkenswerte Tagebuch der 14-jährigen Rywka Lipszyk

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„Ich halte das alles nicht mehr aus, ich habe keine Kraft mehr. Ich schreibe das stehend an einem kleinen Tisch. Deshalb kritzle ich so. (…) Ach, wann kommt die Befreiung? Denn ich verliere wirklich den Verstand!“…

Von Roland Kaufhold

Rywka Lipszyk war 14 Jahre alt, als sie dies am 24.11.1943 in ihrem Tagebuch niederschrieb. Sie lebte im Getto Litzmannstadt, mit einigen Jugendlichen, für die sie sich verantwortlich fühlte. Ihre Eltern waren von den Nationalsozialisten ermordet worden. Auch Rywka sollte die Schoah nicht überleben. Ihr bemerkenswertes Tagebuch jedoch schon. 2014 erschien es erstmals auf englisch, nun liegt es auf deutsch vor.

Das Erscheinen dieses Tagebuchs von Rywka Lipszyk ist eine wirkliche Sensation. Im Frühjahr 1945 wurde es bei der Befreiung von Auschwitz von einer russischen Ärztin gefunden. Ihre Versuche, die knapp 200 handschriftlich geschriebenen Seiten übersetzen zu lassen, scheiterten. Als sie 1983 in Omsk starb gelangte es 1995 auf Irrwegen zu einer Enkeltochter, die es mit San Francisco nahm, wo sie lebte. Von amerikanischen und polnischen Forschern wurde der Wert der Aufzeichnungen erkannt, 2014 erschien das Werk nach einer langen Forschertätigkeit in den USA. Judy Janec bemerkt im Vorwort: „Das Tagebuch, ein Schulheft mit handschriftlichen Einträgen in polnischer Sprache, befand sich in relativ gutem Zustand. Die ersten beiden Seiten hatten sich vom Rest gelöst, die Schrift war stellenweise unleserlich geworden, es gab Wasserflecken und Rost. Für sein Alter und seine Herkunft – die Krematoriumsruinen in Auschwitz – war es jedoch erstaunlich gut erhalten.“  

Rywka Lipszyk wurde am 15.9.1929 in Lotz als Kind einer orthodoxen jüdischen Familie geboren. 1940 kam sie ins Getto, ihr Vater starb verfolgungsbedingt im Juni 1941, ihre Mutter im Juli 1942. Sie lebt im Getto mit einer Schwester, ihre anderen Geschwister sterben, sowie mit zwei Cousinen, Mina und Esther. Diese überlebten mit Glück und gingen später nach Israel. Ihre Erinnerungen an Rywka – von deren Wiedergefundenem Tagebuch sie absolut überrascht waren – sind im Buch wiedergegeben. Die Forschungen zu Rywka Lipszycs furchtbarem Ende – sie wurde von Lodz nach Auschwitz-Birkenau verbracht, wo ihr Tagebuch gefunden wurde, dann folgte der Todesmarsch nach Bergen-Belsen – dauerten von 2008 bis 2013 und werden im Buch dargeboten. Wo sie gestorben ist konnte nicht festgestellt werden.

Rywkas geistige und persönliche Hauptbezugsperson im Ghetto ist ihre Lehrerin Surcia. Immer wieder erzählt sie in ihren privaten Aufzeichnungen von ihr, bewundert sie, selbst oder gerade in der tiefsten Not: „Gestern fiel der erste Schnee (…) Ich konnte nicht zur Schule, Cipka auch nicht, und außerdem sind meine Schuhe furchtbar undicht (…) Ach, ich habe Surcia einen Brief geschrieben. Ich liebe sie mehr und mehr“, notiert sie am 4.11.43. Surcias Rückmeldungen sind sehr wichtig für ihre Selbstwahrnehmung: „Surcia hat mein Tagebuch gelesen. Sie sagt, ich soll mehr schreiben. Auf diese Weise könnte ich meinen Stil finden.“ (S. 82)

In ihrem Tagebuch spiegeln sich ihre alltäglichen Sorgen, ihre jugendliche Eifersucht, ihre Verzweiflung – aber auch ihre tiefe Religiosität, ihre Freude über jüdische Feste wie das Laubhüttenfest wieder. Trotz der enormen Belastungen findet Rywka Zeit zum Lesen, ist begeistert von einer Novelle. Sie schließt sich einem Literaturzirkel an. Einmal in der Woche kann sie einige gleichaltrige Freundinnen treffen, später sucht sie Kontakt zu Älteren. Immer wieder bedauert sie, dass sie kaum Zeit zum Schreiben findet. Einmal bemerkt sie: „Ich habe das Bedürfnis zu schreiben, aber zu meinem Unglück gibt es in der Schule keine Tinte.“ Dann spürt sie den Verlust ihrer Eltern, Ängste überrollen sie: „Mein Gott! Mein Gott! Was wird geschehen? Die Welt ist mir zu eng, ich finde keinen Platz für mich, und doch sitze ich ganz ruhig auf meinem Stuhl, ich lasse mir meine Gefühle nicht anmerken.“ (S. 72)

Im Januar 1944 berichtet sie von einer „kleinen Zeitung“ – „wunderbar, wirklich wunderbar“ – , die ihr Literaturzirkel herausgibt. Dort veröffentlicht sie zwei Gedichte, die im Tagebuch niedergeschrieben sind. Eines endet so: „Ich schreie und schreie! / (Aber stumm bleibt mein Schrein) / Was wird? Was wird werden? / Das weiß der Teufel allein! / Doch bis jetzt habe ich / Keine Antwort gefunden / Außer dieser vielleicht: / „Wir Juden! Wir Juden!“…“ (S. 101)

In einem langen Tagebucheintrag vom 26.1.1944 wird die existentielle Verzweiflung der 14-Jährigen, ihre Überforderung und Verlorenheit mehr als deutlich: Sie antwortet auf die Frage, was für sie Glück bedeute: „Meiner Meinung nach ist eine Person glücklich, die sich aufrichten kann. (…) Aber Glück gibt es auch in einem anderen Sinne, zum Beispiel als inneren Frieden.“ (S.110) Und bei diesem Sinnieren muss sie im Getto an ihre ermordeten Eltern denken, ihr seelisches Abwehrsystem zerfällt: „Eine Stimme flüsterte: … Papa! … Er stand mir wie lebendig vor Augen … Eine Stimme flüsterte: … Papa ist tot … Papa ist tot … Nein, das kann nicht sein … er lebt, er lebt … Die Stimme flüstert wieder: … Drei Jahre sind es nun schon bald.“ (S. 111) Eine Seite weiter und noch am gleichen Tag notiert sie: „Oh Gott! Und dann ist Mama gestorben, und was sie mir nicht mehr sagen konnte, bleibt für immer ein Geheimnis. … Nach ihrem Tod kam ich den Geschwistern näher. (…) Ich wollte ihnen die Mutter ersetzen, aber … es sollte nicht sein … nur Cipka und ich sind übrig geblieben.“ (S. 112) Und fügt am Ende dieses Tages hinzu: „… ich halte es nicht mehr länger aus … ich habe doch bis jetzt schon genug gelitten!“

Immer wieder schreibt sie über ihr tiefes Vertrauen zu Gott: „Wie sehr ich Gott liebe! (…) Ach, wie gut, dass ich Jüdin bin, und wie gut, dass man mich gelehrt hat, Gott zu lieben.“ (S. 116f.) Dann, unvermittelt, Bemerkungen über ihren bitteren Hunger im Getto, ihren Durst, die Kälte, die Krankheiten. Am 13.2.44 endet ihre Aufzeichnung so: „Ich habe solche Sehnsucht!!! … Gott … Die Wörter brechen auseinander…“ (S. 130)

Anfang April, mit Einbruch des Frühlings, verspürt Rywka noch einmal Hoffnung: „Gott sei Dank, hundert- und tausendfach Dank für diesen wunderbaren Wetterwechsel! Der Balkon war gestern schon geöffnet. Ach man hat Lust zu leben! notiert sie.“ Und fügt hinzu: „Am Freitag habe ich ein Gedicht über den Frühling geschrieben. (…) Ich weiß nur, dass ich jetzt leben will! Ich will leben!!!“

Rywka weiß von der Ermordung ihrer Eltern. Ab und zu vermag sie das Wissen nicht mehr zu verdrängen. Am 5.4.44 notiert sie: „Aber den lebenden Papa, den lebenden Papa werde ich nie … nie wieder anschauen. Gott! Wie schrecklich! Das ist jetzt der dritte Seder ohne Papa, der zweite ganz ohne Männer.“ Der letzte Tagebucheintrag datiert vom 12.4.44. Sie hat weiterhin Hoffnung auf eine Zukunft, beschreibt aber auch ihre ausweglose Situation, notiert „dass wir Sklaven sind“. Dennoch kämpft sie um ein Weiterleben: „Wie schwer das aber ist! Gott, wie lange noch? Ich glaube, erst wenn wir befreit werden, wird es wirklich für uns Frühling. Ach, ich sehne mich so sehr nach diesem großen und lieben Frühling…“  Sechs Zeilen später bricht ihr Tagebuch mitten im Satz ab.

Ein wichtiges Buch in Zeiten, in denen die letzten Zeitzeugen der Schoah uns verlassen.

Rywka Lipszyk: Das Tagebuch der Rywka Lipszyk. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2015, 237 S., 22,95 € , Bestellen?

Eine leicht gekürzte Version erschien im Neuen Deutschland, 15.03.2017.