Jenseits von Nürnberg

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Das Memorium Nürnberger Prozesse und ihre diesjährige Veranstaltungsreihe…

Von Gerhard K. Nagel

Das Memorium Nürnberger Prozesse der Stadt Nürnberg bietet in diesem Jahr eine interessante Veranstaltungsreihe unter dem Titel „Jenseits von Nürnberg – Die Strafverfolgung von NS-, Verbrechen in Europa“ an. Es wird auf Basis verschiedener Länder, Frankreich, Polen, Jugoslawien, Österreich, Norwegen, Italien und der Sowjetunion untersucht, welchen Stellenwert die Prozesse, die schon vor Beginn des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses begannen, in den jeweiligen Ländern hatten und wie die im Nürnberger Prozess entwickelten Straftatbestände von der Justiz der jeweiligen Länder übernommen und umgesetzt wurden. Ebenfalls im Fokus sind die Institutionen, welche an der Strafverfolgung beteiligt waren und deren jeweilige Rolle im gesellschaftlichen und politischen Zusammenhang. Die Veranstaltungsreihe bietet ein Potpourri an namhafte Referenten, beispielsweise Dr. Kim Christian Primel, Oslo; Andreas Mix, Nürnberg, Dr. Claudia Kuretsidis-Haider, Wien; Dr. Anette Homlong Storeide, Trondheim und Weitere.

Zur Entstehung des Memoriums

Die Museen der Stadt Nürnberg boten ab dem Mai 2000 öffentliche Führungen im historischen Sitzungssaal 600 des Nürnberger Justizpalastes, in dem in der Zeit vom 20. November 1945 bis 1. Oktober 1946 der Internationale Militärgerichtshof den Prozess gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher führte, an. Da die Besucherzahlen mit den Jahren immer weiter zunahmen, stießen die Führungen recht bald kapazitätsbedingt an ihre Grenzen. Als Reaktion darauf entwickelte das Kuratorium des „Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände“ das Projekt „Memorium Nürnberger Prozesse“ und stellte es im Oktober 2005 vor. Prof. Christoph Safferling erarbeitete im Juli 2006 ein wissenschaftliches Gutachten zum Projekt, dem im Oktober 2006 und im Juli 2007 Finanzierungszusagen des Bayrischen Staates folgten. Auf Basis des Entwurfs des Büros Müller-Rieger aus München begannen in der Folge die Arbeiten für die Gestaltung einer Informations- und Dokumentationsstätte. Im Dezember 2008 wurde der gesamte Ostbau des Justizpalastes zu diesem Zweck geräumt und im März 2009 mit den Konstruktionsarbeiten begonnen. Am 21. September 2010 erfolgte mit einem Festakt die Eröffnung der Ausstellung.

Neben der Ausstellung bietet das Memorium Nürnberger Prozesse wechselnde Bildungsangebote an, die Interessierten eine Auseinandersetzung mit dem NS-System ermöglichen und Schlussfolgerungen für aktuelles Handeln in Bezug auf politische, juristische, ethische Themenstellungen ermöglichen.

Ein Teil dieses Bildungsprogramms stellen die jährlichen thematischen Veranstaltungsreihen dar. Detaillierte Informationen zu oben bereits erwähnten Veranstaltungsreihe in diesem Jahr, „Jenseits von Nürnberg“ finden sich hier.

„Das ist nicht Rache, sondern Rechtsprechung“  – Strafprozesse gegen NS-Täter in Polen

In der vergangenen Woche fand im Rahmen der Veranstaltungsreihe ein Vortrag statt, der sich der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Polen widmete. Ein Thema, das besonders bei jüdischen Lesern auf Interesse stoßen dürfte, war Polen doch vor dem Zweiten Weltkrieg und der deutschen Besatzung mit einem Bevölkerungsanteil von 3.350.000 Menschen (nahezu 10% der der Einwohner), das Zentrum jüdischen Lebens in Europa. Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht wurde aus Polen das Zentrum des Genozids an den Juden Europas. Hier entstanden das Warschauer Ghetto und die großen Vernichtungslager der Nazis: Auschwitz, Treblinka, Majdanek, Belzec, Sobibor und Kulmhof.

Die Veranstaltung zu den Strafprozessen gegen die NS-Täter in Polen stand unter dem Motto: „Das ist nicht Rache, sondern Rechtsprechung“. Der Referent, Andreas Mix, ein ausgewiesener Experte der deutsch-polnischen Geschichte ist schon seit vielen Jahren als Mittler zwischen Deutschland und Polen engagiert. In Bielefeld, Krakau und Berlin studierte er Geschichte und Literaturwissenschaft. Sowohl als Wissenschaftler, als auch als Journalist hat er sich mit Beiträgen zur deutsch-polnischen Geschichte profiliert und war auch als Kurator von Ausstellungen tätig, darunter auch die Ausstellung zum Ersten Weltkrieg im Deutschen Historischen Museum in Berlin, im Jahr 2014. Beim Memorium hat er die Aufgabe übernommen die bestehende Dauerausstellung in den kommenden Jahren weiterzuentwickeln.

Florian Dierl, Leiter der Abteilung Erinnerungskultur und Zeitgeschichte des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände begrüßte die zahlreich erschienenen Zuhörer und den polnischen Generalkonsul Andrzej Osiak, der iein Grußwort an die Anwesenden richtete, in dem er darauf hinwies, welche weitreichenden Folgen Krieg und Okkupation durch die deutsche Wehrmacht und die Rote Armee für sein Land hatten. Danach ergriff der Referent des Abends das Wort.

Andreas Mix machte deutlich, dass für Polen die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg von zentraler Bedeutung ist. Die Erfahrung des deutschen und des sowjetischen Überfalls und der anschließenden Okkupation prägen dort bis heute die Politik und Kultur. Mix führte aus, dass „schätzungsweise 5 bis 5,7 Millionen Bürger der zweiten polnischen Republik in den Jahren des zweiten Weltkriegs (starben). Mehr als 95% der Opfer waren Zivilisten. Durch Krieg und Besatzung waren Industrie, Infrastruktur und Landwirtschaft zerstört. 1945 lag das Bruttoinlandsprodukt bei etwa 60% des Vorkriegsniveaus. Museen und Archive waren geplündert und zerstört, Denkmäler geschliffen und zahlreiche Städte verwüstet. Auf den Territorien des zerschlagenen polnischen Staates exekutierte das NS-Regime maßgeblich den Völkermord an den europäischen Juden. Hier lagen „die Vernichtungsstätten für den Völkermord an den polnischen Juden – die Lager Auschwitz, Birkenau und Majdanek. Verfolgt und ermordet wurde aber nicht nur die jüdische Bevölkerung, sondern auch die polnische Führungsschicht, Politiker, Hochschullehrer, Geistliche und andere . Schätzungsweise 40% aller Hochschulabsolventen überlebten Krieg und Besatzung nicht……“

Bis zum Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941 waren die östlichen Landesteile Polens der sowjetischen Besatzung unterworfen. „Die Besatzungspolitik dort verfolgte andere Ziele war aber in der Konsequenz kaum weniger brutal, als die deutsche. Dort kam es zu massenhaften Deportationen von Polen und anderen Bevölkerungsteilen. Symbol für die sowjetische Okkupation ist sicherlich die Ermordung von 20.000 polnischen Reserveoffizieren in Katyn und zwei anderen Orten…….Der Krieg endete, wie in großen Teilen Ost- und Südosteuropas nicht mit der Kapitulation der Wehrmacht am 8/9. Mai 1945. Es kam bis in die späten Vierziger Jahre zu Zwangsumsiedlungen, Pogromen und bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Volksgruppen und politischen Parteien. In Polen etablierte sich eine kommunistische Diktatur, gestützt auf die Rote Armee und die sowjetischen Sicherheitsorgane. In diesem Klima der großen Angst….fand die Strafverfolgung der nationalsozialistischen Verbrechen statt.“ Es bestand Einigkeit zwischen allen gesellschaftlichen und politischen Gruppen Polens, im Wesentlichen der Exilregierung in London und der ihr unterstellten „Heimatarmee“ auf der einen Seite und den Kommunisten auf der anderen Seite, dass die deutschen Verbrechen juristisch aufgearbeitet werden sollten. Dieses einigende Band der polnischen Gesellschaft in der unmittelbaren Nachkriegszeit war „zugleich Legitimationsspender für die neue kommunistische Ordnung.“

Der erste Prozess gegen NS-Verbrecher in Polen fand vom 27. November bis zum 3. Dezember 1944 in Lublin statt, kurz nachdem die Rote Armee das Lager Majdanek, in einem Vorort von Lublin gelegen, befreit hatte, war eine sowjetisch-polnische Untersuchungskommission im Lager tätig geworden.  Der Referent wies darauf hin, dass der Prozess auch in einer Atmosphäre der Lynchjustiz stattfand. „Die Angeklagten wurden vom Gefängnis durch die Stadt auf einen Spießrutenlauf getrieben zum Gericht. Vier Männer des Lagerpersonals von Majdanek und zwei Kapos, also Funktionshäftlinge wurden schuldig gesprochen, zum Tode verurteilt und öffentlich hingerichtet.“ Entsprechende Untersuchungskommissionen zur Dokumentation der deutschen Verbrechen wurden auch nach Auschwitz-Birkenau im Januar 1945 und und in anderer Lagern gegründet.

Im Stutthof bei Danzig fand von April bis Mai 1946 ein Verfahren gegen Angehörige des Lagerpersonals und mehrere Funktionshäftlinge statt. Elf der Dreizehn Angeklagten wurden zum Tode verurteilt, darunter auch fünf Frauen. Die Hinrichtungen waren öffentlich und wurden von ehemaligen Häftlingen des Lagers vollzogen. Sie trugen dabei ihre gestreifte Häftlingskleidung. Andreas Mix: „Die Hinrichtung hatte eine enorme symbolische Dimension….Diese öffentlichen Hinrichtungen geschahen auf Anordnung des Justizministeriums bis zu einem bestimmten Zeitpunkt…..dann war es nicht mehr üblich.“

Obwohl Polen Mitglied der Antihitlerkoalition war, gehörte es nicht zu den Staaten, die am Internationalen Militärgerichtshof vertreten waren. Eine polnische Delegation unterstützte jedoch die sowjetische Anklagevertretung. Sie lieferte Material zu den deutschen Verbrechen in Polen und besonders gegen den Generalgouvaneur Hans Frank. „Der Delegation gehörten Juristen an, die maßgeblich die Strafverfolgung der Verbrechen prägen sollten……Als Mitglieder der sowjetischen Delegation unterstützten sie indirekt deren Anklagen im Fall Katyn. Der Mord an etwa 4000 polnischen Reserveoffizieren, (GKN: darunter mindestens 438 Juden) wurde auf Betreiben der Sowjetunion den Deutschen zur Last gelegt. Tatsächlich ……..wurden die Erschießungen vom NKWD durchgeführt.“ Die Verteidiger in Nürnberg konnten die „Lüge von Katyn widerlegen. Das Thema tauchte dann im Urteil des Internationalen Gerichtshofs nicht mehr auf.“

Im März 1945 – noch vor Kriegsende – wurde die Hauptkommission zur Untersuchung der deutschen Verbrechen in Polen gegründet, die dem Justizministerium unterstand. Mit über dreizehn Bezirkskommissionen war sie im ganzen Land präsent und wurde bei ihrer Tätigkeit von lokalen Amtsträgern unterstützt. Sie leistete wichtige Beitrag zur Aufarbeitung der NS-Verbrechen, aber auch zur wissenschaftlichen Forschung. Eine zweite wichtige Institution war das jüdisch-historische Institut, welches das Schicksal der polnischen Juden dokumentierte.

Andreas Mix erläuterte: „Die Mehrzahl der NS-Täter hatte sich gegen Kriegsende nach Westen abgesetzt und war damit dem Wirkungskreis der polnischen Justiz entzogen. Die 1946 gegründete polnische Militärmission in Berlin war damals damit betraut, diese Personen in den alliierten Besatzungszonen zu finden, zu identifizieren und deren Auslieferung nach Polen zu betreiben. Über die Auslieferung der Deutschen in jene Länder in denen sie Verbrechen begangen hatten, hatten sich die großen Drei, also Großbritannien, die USA und die Sowjetunion auf der Moskauer Konferenz 1943 verständigt. Die Details der Auslieferung regelte das im September 1945 verabschiedete Kontrollratsgesetz Nr. 10.“ Zur Prozessführung und Aburteilung der an Polen ausgelieferte Personen wurde am 8. Januar 1946 das oberste Nationaltribunal gegründet. Bis 1950 überstellten die Alliierten mehr als 1.800 mutmaßliche NS-Verbrecher an Polen. Den Schwerpunkt bildeten dabei die amerikanischen Auslieferungen und die Jahre 1946/47. Danach gingen – wegen des ausgebrochenen Kalten Krieges – die Auslieferungen drastisch zurück. Bei den Ausgelieferten handelte es sich meist um Personal aus Lagern, Gefängnissen und Ghettos. Aber es gab auch zahlreiche Vertreter der Polizei und der Zivilverwaltung.

Im Verlaufe der Prozessserien kam es zu einer beachtliche Zahl Todesurteilen, aber auch zu relativ vielen, vergleichsweise niedrigen Haftstrafen. „Das kam daher, dass viele der Angeklagten wegen Organisationsverbrechen verurteilt wurden, das heißt, sie wurden, wenn keine andere Beweislage vorhanden war „nur“ wegen Mitgliedschaft in verbrecherischen Organisationen, wie der SS oder der SA verurteilt, in der Regel zu Strafen zwischen 1 und 5 Jahren.“ Es gab aber auch zu einigen Freisprüchen. Die Strafprozesse gegen NS-Täter waren keine Schauprozesse, wie sie aus der  Sowjetunion der Dreißiger Jahre bekannt sind, sondern sie stützen sich „auf Beweise in Form von Zeugenaussagen, seltener waren es Dokumengte, in den wenigsten Fällen auf Schuldeingeständnisse der Angeklagten.“ Das trifft besonders auf die Prozesse vor dem Obersten Nationaltribunal zu. „Bis 1948 fanden vor dem Obersten Nationaltribunal insgesamt sieben Verfahren mit 49 Angeklagten statt…….Staatsanwälte und Richter beriefen sich auch außerdem….. auch auf völkerrechtliche Bestimmungen.“ Auch die Urteile der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse hatten unmittelbare Auswirkungen auf das polnische Strafrecht.

Interessant ist, dass diese Prozesse in der Anfangszeit öffentlich und von einem Personal geführt wurden, das zu der juristischen Elite der Vorkriegszeit gehörte. Der Grund für den Rückgriff auf geschultes Personal war, dass man sich keine Blößen geben wollte durch Schwächen in der Verhandlungsführung. .Was die nahezu parallel stattfindende Verfolgung von Personen aus dem polnischen Widerstand in jenereit angeht, muss man im Gegensatz dazu, von politischer Justiz sprechen.

Neben den Verfahren, die über das Oberste Nationaltribunal geführt wurden, gab es eine Vielzahl weiterer Verfahren .“Die meisten der Strafverfahren fanden bis 1945/46 vor Sondergerichten und dann vor ordentlichen Gerichten statt. Die Verfahren waren nicht so gut vorbereitet wie die Verfahren vor dem Obersten Nationaltribunal. Die Qualität der Verfahren schwankte sehr stark und war abhängig von den zur Verfügung stehenden Zeugen und Dokumenten.

Der Referent gab noch einen kurzen Ausblick auf die Zeit nach Auslaufen der Strafverfolgung, Anfang der fünfziger Jahre. Die Hauptkommission wurde verkleinert, die Bezirkskommissionen, mit einer Ausnahme, aufgelöst und der Name der Kommission geändert. Sie hieß jetzt nicht mehr  „Hauptkommission zur Bestrafung der deutschen Verbrechen, sondern Hauptkommission zur Bestrafung der hitleristischen Verbrechen. „Das hatte folgenden Hintergrund: 1949 wurde die DDR gegründet, der antifaschistische Bruderstaat. Infolgedessen sprach man nicht mehr von Deutschland, sondern von Hitleristen. Die Bezirkskommissionen, bzw. die Hauptkommission wurde im Zuge der Entstalinisierung reanimiert, Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre. In den Folgejahren entstanden zahlreiche Dokumentationen und Forschungsarbeiten…..Die Hauptkommission leistete informelle Rechtshilfe für die deutsche Justiz, also nach der Gründung der zentralen Stelle zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen in Ludwigsburg 1958……..Das alles zu einem Zeitpunkt, als es noch keine diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Volksrepublik Polen gab. Es war auf einer informellen Ebene“ Auf der anderen Seite beteiligte sich die Hauptkommission aber auch an Propagandakampagnen der DDR gegen die bundesdeutschen Funktionseliten. Sie griff auch „in Debatten über die Verjährung von NS-Verbrechen ein. Und nach 1970 wurde die Rechtshilfe noch einmal deutlich ausgeweitet……Und ein Großteil, der in den siebziger Jahren und auch schon davor eingeleiteten Ermittlungsverfahren….beruhte auf Material aus der Hauptkommission in Polen.

Interessierten nicht nur aus Franken sei empfohlen, Museum, Bildungsprogramm und die noch folgenden Termine der Veranstaltungsreihe „Jenseits von Nürnberg“ zu nutzen. Der Eintritt zu allen Veranstaltungen ist frei. Eine Anmeldung via Mail über die Adresse memorium@stadt.nuernberg.de ist erforderlich. Die kostenlosen Platzkarten sind spätestens vor der Veranstaltung an der Kasse des Memoriums erhältlich.

© Gerhard K. Nagel