Der israelische Nationalstaat

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Politische, verfassungsrechtliche und kulturelle Herausforderungen…

Eine Rezension von Michael A. Rinast

Dieses Buch werden einige Menschen aus Überzeugung sicher nicht lesen: jüdische Messianer und evangelikale Christen, zionistische Revisionisten, Moschiach-Beschleuniger, Groß-Israel-Befürworter. Und auch BDS-Sympathisanten, Anti-Imperialisten und israelkritische, antijüdische Singekränzchen auf der Schwäbischen Alb oder Post-Feministinnen werden es angewidert weglegen.

Und sie sind gut beraten mit dieser Entscheidung. Dieses Buch dürfte gefährlich sein für ihre psychische Gesundheit oder den Wahn, den sie dafür halten, weil es die Sicherheit festgefügter Ideologien erschüttern könnte.

Natürlich nur könnte. Das Buch „Der israelische Nationalstaat“, herausgegeben von der Geschichtsprofessorin Fania Oz-Salzberger und dem Juraprofessor Yedidia Z. Stern, versammelt drei Historiker, sechs Juristen, zwei Politologen, einen Kommunikationswissenschaftler, zwei Philosophen und eine Professorin für Englische und Amerikanische Studien. Es soll laut Klappentext den LeserInnen den aktuellen Forschungsstand und zugängliche Analysen von Israels öffentlichen Debatten, juristischen und kulturellen Dramen, seinen Gräben und seinen Gemeinsamkeiten vermitteln. Und das tut es auch.

Die einzelnen Beiträge gehen auf internationale Konferenzen in den Jahren 2010 bis 2012 zurück und sind naturgemäß unterschiedlich im Blickwinkel, im Duktus und in der Tendenz. Die AutorInnen sind Wissenschaftler. Ziemlich hochkarätige, soweit ich das beurteilen kann. Und sie haben wie jeder Wissenschaftler auch eine politische Agenda und ein von dieser Agenda nicht unberührtes Forschungsinteresse: Sie sind im weitesten Sinne VertreterInnen des eigentlichen Zionismus. „Eigentlicher“ Zionismus à la Herzl, Ben-Gurion und Schimon Peres, der nicht nostalgisch mit Kibbuz-Sehnsucht und sozialistischen Träumen verbunden ist, aber eben ein linker, emanzipatorischer Zionismus. Gemeinsam ist ihnen weiterhin, dass sie eher problemorientiert und analytisch sind.

Sie gehören also nicht zum in Deutschland und Österreich so geschätzten post-zionistischen Lager, das zum Teil einfach ein brackiger Aufguss antizionistischer und zuweilen einfach antisemitischer Positionen ist. Und sie gehören genauso wenig zum religiös-zionistischen Lager, das in einem historischen und religiösen Kontext natürlich zu Recht von Samaria und Judäa spricht, in einem aktuell-politischen aber besser schweigt.

Die Themen decken ein breites Spektrum von Fragen ab.

Es geht um die nationale Identität des jüdischen Volkes (Am Israel) und der jüdischen Nation (Le’om Israel) und die unabdingbare Verbindung von Demokratie und Zionismus. Fragen der Einwanderungspolitik und des Rückkehrrechts werden ebenso erörtert wie die zwar weder den Zionismus noch den Staat Israel begründende, aber zu seiner Gründung doch beitragende Scho’a. Zwei Beiträge befassen sich mit der Situation der palästinensisch-arabischen Minderheit und dem arabischen Bildungssystem. Verfassungsrechtliche Aspekte der jüdischen Identität Israels werden ebenso erörtert wie der Einfluss der Religionen auf den Staat und die daraus erwachsende Gefahr eines Auseinanderdriftens der israelischen Gesellschaft. Ein Kapitel beschreibt die relativ gelungene Integration der verschiedenen Einwanderergruppen, ein anderes die rechtlichen Besonderheiten der verschiedenen religiösen Gruppen.

Die Themen, nicht der Stil der Beiträge, sind fast genauso sperrig wie die israelische Gesellschaft, voller offensichtlicher Widersprüche. Und voller überraschender Gemeinsamkeiten.

Besonders die beiden Herausgeber, Fania Oz-Salzberger, Professorin für Geschichte an der Universität Haifa, und Yedidia Z. Stern, Professor an der juristischen Fakultät der Bar-Ilan Universität, begründen ausführlich und überzeugend den Zusammenhang von demokratischem und jüdischen Staat. Der Politologe Gadi Taub und die Menschenrechtsjuristin Ruth Gavison argumentieren für einen demokratischen und jüdischen Nationalstaat eines übrigens nicht „erfundenen jüdischen Volkes“ in Teilen von (dem auch nicht „erfundenen“) Erez Israel. Sie beschreiben den Bogen von der in der Aufklärung und der Haskala erkämpften individuellen Souveränität zu einer nationalen wie kulturellen Identität im Werden.

Sie weisen nach, dass es nur ein Staat sein kann , in dem die Menschenrechte für jeden und jede gelten. Abgesehen von der säkularen Mehrheit, der überlauten Orthodoxie und den arabischen Minderheiten z.B. auch für liberale Denominationen.  Ein Israel, in dem nicht prophetische Landverheißungen, Raschis Kommentare zum gerechten Krieg oder sich religiös nennende Rackets die Politik und die Justiz bestimmen. Und schon gar nicht verrückte ausländische Politiker oder gar evangelikale „Zionisten“, die langfristig die endgültige Vernichtung des jüdischen Volkes (durch Konversion und Himmelfahrt) anstreben.

Es ist wahrlich ein ziemlicher Rundumschlag, ein „Rundumblick“, den dieses nicht nur lesenswerte, sondern bei aller Diversität der Beiträge auch gut lesbare Buch bietet. Na gut, ich muss zugeben, dass es mir als Sozialpsychologen leichter fiel, die Beiträge von HistorikerInnen und PolitologInnen zu lesen als die juristischen, die sich z.B. mit den Urteilen des obersten Gerichtshof oder der verfassungsrechtlichen Bedeutung des jüdischen Charakters Israel befassen. Und das sehr spannende Kapitel von Shira Wolosky über „Kosmopolitismus vs. Normative Differenz: Von Habermas zu Levinas“ war wirklich kein Page-Turner. Aber gerade dieses hat sich wie fast alle anderen gelohnt.

Fast, weil der letzte, Gott sei Dank kurze, Beitrag über die Zukunft der nationalen Identität in meinen Augen sehr überflüssig ist. Eine Rezension soll ja auch Kritik enthalten: Eine Ansammlung von Modebegriffen aus der Marketingpsychologie der letzten zwanzig Jahre wie Mission und Alleinstellungsmerkmal einerseits und gefühlt tausend historischen Klitterungen wie „Jahrtausende währende Geschichte Israels seit Abraham und Joshua“ mag differenziert und sophisticated, vielleicht auch dynamisch klingen, nervt aber. Und bei Begriffen, die eine „Volksmentalität“ herbeischwurbeln, stehen meine Nackenhaare stramm. Das ist allerdings die einzige, sehr kleine Kritik.

An dem Tag, an dem ein Freund mich auf dieses Buch aufmerksam machte, hatte ich gerade nach einem anderen Buch von Fania Oz-Salzberger geschaut. „Juden und Worte“, gemeinsam mit Amos Oz verfasst. Ein völlig anderes, fast konträres Thema. Eher etwas für Nicht-Territorialisten. Gelesen hab ich jetzt erst einmal viele teils kontroverse Statements, und einige plausible und auch sehr bestimmte Argumente für ein jüdisch-demokratisches Israel. Es hat sich gelohnt.

Ich linksliberaler, in der Spannung von religiös-orthodoxem Antizionismus und atheistischem, post-scho’a Pro-Zionismus aufgewachsener, manchmal religiöser und manchmal agnostischer „Diasporist“ bin von diesem Buch sehr berührt (Oh Gott, was für ein Ausdruck!). Es liefert mit seiner differenzierten Analyse, die auch Widersprüchliches und Unangenehmes benennt und aushält, und wegen seiner vorsichtigen Lösungsangebote sowohl einen Einblick in gegenwärtige innerisraelische Debatten als auch ein ziemlich überzeugendes Plädoyer für die zionistische Sache. Zionisten und dem Zionismus nahestehende Nichtjuden und auch jüdische wie nichtjüdische Nicht-Zionisten werden dieses Buch mit Gewinn lesen. Natürlich muss man kein Jude sein, um von diesem Buch zu profitieren. Aber ich kenne manche Juden, die davon sehr profitieren würden.

Dieser Band gibt Denkanstöße für jede*n, der sich für die aktuelle innerisraelische wissenschaftliche Debatte über die Situation der israelischen Gesellschaft interessiert. Angesichts der zum Teil tendenziösen und zum Teil ahnungslosen Berichterstattung in den meisten deutschen Medien kann dieses Buch ein Gegengewicht sein.  Es hält auch den einen oder anderen Brocken bereit, an dem man ein paar Tage kauen muss.

Und: Es wäre schön, wenn einige von den am Anfang dieses Textes Erwähnten, jedenfalls die unter ihnen, die ein wenig bereit sind, auch Argumente außerhalb ihrer eigenen Deutungsblase zu hören, dieses Buch lesen und darüber nachdenken würden.

Der kleine Verlag „Edition Critic“ und die beiden Übersetzer Clemens Heni und Michael Kreutz seien dafür gelobt, dass dieses Buch im deutschen Sprachraum erscheint. Ich hoffe, dass es weite Verbreitung findet und der Verlag bald gezwungen sein wird, wegen der großen Nachfrage eine zweite Auflage herauszubringen.  Es ist ein wirklich gutes Buch.

Fania Oz-Salzberger und Yedidia Z. Stern (Hg.), Der israelische Nationalstaat. Politische, verfassungsrechtliche und kulturelle Herausforderungen, Verlag Edition Critic Berlin 2017, 456 S., Euro 28,00, Bestellen?

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