Die Mikwe unter dem Hotel

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Das antike jüdische Ritualbad im sizilianischen Syrakus…

Von Jim G. Tobias

„In dem heutigen Syrakus oder dem alten Inselchen Ortigia ist jetzt nichts Merkwürdiges mehr, als die alten Minerventempel“, notierte Johann Gottfried Seume lapidar, als er nach einer viermonatigen Wanderung am 1. April 1802 in der sizilianischen Stadt ankam. „Syrakus kommt immer mehr und mehr in Verfall“, ergänzte er kritisch, „die Regierung scheint sich durchaus um nichts zu bekümmern.“ Dass sich in dem malerischen Städtchen, verschüttet, tief unter der Erde verborgen, eine der ältesten europäischen Mikwaot befand, war dem Reisenden nicht bekannt. Hätte Seume, der sich am 9. Dezember 1801 von Grimma (Sachsen) auf den Weg gemacht hatte, dieses architektonische Kleinod besichtigen können, er hätte das Ritualbad bestimmt ausführlich in seinem Buch „Spaziergang nach Syrakus“ gewürdigt.

Das an der südöstlichen Küste Siziliens gelegene Syrakus, im siebten Jahrhundert v. d. Z. von den Griechen auf der kleinen Insel Ortigia gegründet, galt lange Zeit als eine bedeutende und mächtige Stadt – als wirtschaftliche, aber auch kulturelle mediterrane Metropole. Dichter und Philosophen, wie Aischylos, Platon und Archimedes, lehrten hier. Nachdem die Römer die Stadt einige Jahrhunderte später erobert hatten, siedelten sich vermutlich auch die ersten jüdischen Händler in Syrakus an; weitere wurden nach der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n. d. Z. als Sklaven dorthin verschleppt. Bis zum Ende des Mittelalters entwickelten sich unter römischer, byzantinischer und arabischer Herrschaft nicht nur in Syrakus, sondern auch in Messina, Catania, Palermo, Noto oder Agrigento bedeutende jüdische Gemeinschaften. Die 40.000 bis 50.000 Juden waren als Händler, Bankiers, Goldschmiede oder Ärzte tätig, lebten ihre Religion und Kultur – bis sie durch die spanischen Eroberer vor die Wahl gestellt wurden: Taufe oder Tod! Ihre endgültige Vertreibung von Sizilien erfolgte 1492 durch die spanische Inquisition. Die Synagogen wurden zerstört oder zweckentfremdet, die Ritualbäder zugeschüttet oder einfach vergessen – wie auch die während der byzantinischen Zeit erbaute Mikwe in Syrakus.

Das Hotel „Alla Giudecca“ in der Via Giovanni Battista Alagona 52

Das jüdische Bad befindet sich unter dem Hotel „Alla Giudecca“ im Zentrum des ehemaligen jüdischen Viertels, in dem am Ende des 14. Jahrhunderts bis zu 5.000 Juden lebten und zahlreiche Synagogen bestanden. Ein verheerendes Erdbeben im Jahr 1693 zerstörte viele Gebäude, die jedoch im Barockstil wieder aufgebaut wurden. Vor etwa 25 Jahren hatte die Italienerin Amalia Daniele einen alten Palazzo in der Via Giovanni Battista Alagona 52 gekauft, um ihn zu einem Hotel umzubauen. Bei den umfangreichen Arbeiten wurde eine zugemauerte Tür entdeckt. „Natürlich wollten wir wissen, was sich dahinter versteckt“, erzählt die Hotelbesitzerin. Die Wand wurde eingerissen; dahinter verbarg sich ein Gang, der in den Keller führte. Nachdem Steine und Schutt aus Jahrhunderten entfernt waren, kam ein enges und steiles Treppengewölbe zum Vorschein. Rund 50 Stufen führen 18 Meter hinunter in einen großen Raum mit drei wassergefüllten Becken, gespeist aus einer nahegelegenen Quelle.

Steinerne Stufen führen zur Mikwe

Nicht nur für Hotelbesitzerin Amalia Daniele war es eine große aber auch freudige Überraschung. Für sie war es auch keine Frage, dass dieser Ort, an dem bis zum Ende des Mittelalters die Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft von Syrakus im klaren und kühlen Wasser ihre rituelle Reinheit erlangten, für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden musste. Nachdem Rabbiner und Historiker die archäologisch einzigartige Entdeckung besichtigt hatten, kamen bald auch interessierte Touristen aus der ganzen Welt. Für viele bedeutet der Besuch der Miwke von Syrakus eine unvergessliche Reise in die Vergangenheit. Denn die Stille, die nur vom samtenen Plätschern einzelner Wassertropfen durchbrochen wird, hinterlässt eine intensive Erinnerung an diesen erhabenen und friedlichen Ort.

Ein halbes Jahrtausend lang lebten keine Juden in Syrakus. Doch vor einigen Jahren begann der gebürtige Sizilianer Rabbi Stefano Di Mauro, der über 50 Jahre in den USA verbracht hatte, mit dem Aufbau einer jüdischen Gemeinde. Im Januar 2013 versammelte sich die kleine Schar der Gläubigen in der Synagoge, um mit ihrem Rabbiner die Esther Rolle zu lesen und ein fröhliches Purimfest zu feiern – zum ersten Mal nach 500 Jahren! Auch die antike Mikwe unter dem Hotel wird wieder genutzt: Einige Konvertiten vollzogen hier den endgültigen Eintritt in die jüdische Gemeinschaft – mit ihrem vollständigen Untertauchen in reinem und lebendigem Wasser.

Das Hotel „Alla Giudecca“ liegt im Herzen der Altstadt. Buchungen sind über die einschlägigen Internetportale oder direkt über http://www.allagiudecca.it/en möglich. Die Synagoge befindet sich in der Via Italia 88; weitere Informationen (in italienischer Sprache) über die „Comunita Ebraica di Siracusa e Sicilia“ im Internet unter: http://www.comunitaebraicasiracusa.it/.

Bild oben: Die Mikwe besteht aus drei Becken, die aus einer Quelle gespeist werden
Alle Fotos: (c) Jim G. Tobias

Eine gekürzte Version erschien am 15.12.2016 in der Jüdischen Allgemeinen.