„Die Eroberer der Meere“

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Ab 1946 wurden in Niederbayern Überlebende der Shoa zu Matrosen ausgebildet…

Von Jim G. Tobias

„Die Seefahrt und das Fischereiwesen in Erez Israel brauchen uns“, erklärte der Leiter des „Marine-Kibbuz“ mit Stolz dem Reporter der jiddischen Zeitung „Cum Ojfboj“: „Es ist unsere nationale Pflicht, einen jüdischen Matrosen zu erschaffen. Das Meer wartet auf uns.“ Im Herbst 1946 hatte sich am Ufer der Donau, unweit der niederbayerischen Stadt Deggendorf, eine Handvoll junger Zionisten niedergelassen. Sie wollten Matrosen werden. Da der städtische Hafen völlig zerstört war, erhielten die Männer und Frauen von der Militärregierung einige Holzbaracken im Ortsteil Halbmeile zur Verfügung gestellt. Zudem wurde ihnen das Motorschiff „Deggendorf“ aus dem Besitz des örtlichen Reeders Josef Wallner überlassen.

Schon ab dem Jahre 1945 waren in der Region Unterkünfte für Überlebende des Völkermords eröffnet worden, wie etwa das jüdische Displaced Persons (DP) Camp Deggendorf in der „Alten Kaserne“. Hier waren Hunderte von ehemaligen Häftlingen aus Theresienstadt einquartiert. In der nahegelegenen ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen entstand zudem mit dem „Kibbuz LaNegev“ eine Bauernschule, an der junge Juden in Ackerbau und Viehzucht unterrichtet wurden. Im Unterschied dazu erhielten die Mitglieder des Marine-Kibbuz, der sich den programmatischen Namen „Kowszej Hajam“ gab, eine seemännische Ausbildung. Die „Eroberer der Meere“, so die deutsche Übersetzung, sollten sich auf ihre künftige Tätigkeit in der im Aufbau befindlichen israelischen Marine vorbereiten. „Wir wollen uns mit allen Fertigkeiten, die zur Führung eines Schiffes gehören, vertraut machen“, berichtete der Madrich dem jüdischen Journalisten und ergänzte: „Jeden Tag um acht Uhr in der Früh tritt die Mannschaft in Reih und Glied an Bord der „Deggendorf“ an und meldet sich zum Dienstbeginn.“ Neben der praktischen und theoretischen Ausbildung in den Fächern Navigation, Maschinenkunde sowie Ladetechniken lernten die angehenden Seefahrer, darunter auch einige Frauen, zudem die „internationale Matrosensprache“, die aus verschiedenen Hand- und Flaggenzeichen besteht. Die Ausbilder waren „diplomierte Fachkräfte“ der deutschen Reederei; gegen Bezahlung unterrichteten sie die jungen jüdischen Männer und Frauen. Die Kosten wurden von der US-Hilfsorganisation Joint und der Jewish Agency übernommen.

Die Lehrzeit der Kadetten betrug sechs Monate. Zu den seemännischen Fertigkeiten wurden sie auch noch in Iwrit und Geschichte des Zionismus geschult. Der Tagesablauf war streng durchorganisiert und trug mit seinen regelmäßigen Fahnenappellen und Rapporten paramilitärische Züge. So verwundert es nicht, dass nach Erkenntnissen der US-Militärregierung auch Hagana-Offiziere aus Erez Israel an dem Ausbildungsprogramm der Jungmatrosen beteiligt waren. „Wir wollen beweisen, dass wir eine eigene Marine aufbauen können, unsere nationale Schifffahrt braucht noch viele Seeleute – das ist eine nationale Aufgabe!“ Die ersten rund 50 Matrosen beendeten ihre Ausbildung im Frühjahr 1947. Allerdings dauerte ihr Kurs länger als geplant. Schuld war der strenge Winter 1946/47 – nahezu alle deutschen Flüsse waren ganz oder teilweise zugefroren. Auch die „Deggendorf“ konnte nicht auslaufen. Der neue Lehrgang startete daher erst im März 1947. Insgesamt sollten etwa 200 Matrosen in Deggendorf ausgebildet werden. Ob dieses ambitionierte Vorhaben tatsächlich in aller Gänze umgesetzt werden konnte, ist nicht dokumentiert. Sicher ist jedoch, dass die Mitglieder des Kibbuz „Kowszej Hajam“, der im Laufe des Jahres 1948 geschlossen wurde, einen wichtigen Beitrag zum Aufbau der israelischen Marine beitrugen.

Bild oben: Fahnenappell der Matrosen-Schüler an Bord der „Deggendorf“. Repro: Beit Lochamei Hagetaot