Freiheit als kollektive Idee

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Autor Gerhard Haase-Hindenberg im Gespräch mit Rabbiner Tovia Ben Chorin über Freiheit und Pflichten im Judentum und die Existenz des Göttlichen…

Wenige Tage bevor die Christen alljährlich Ostern feiern, gedenken die Juden an ihrem Pessachfest des Auszugs ihres Volkes aus Ägypten. Spielt der Begriff der Freiheit deshalb in der jüdischen Religion eine so zentrale Frage?

Vor allem verstehen wir deshalb die Freiheit in einem kollektiven Sinn. In der Tora gibt es zwei parallele Geschichten. Die Erste ist die von Abraham, Isaac und Jakob. Hier wird bereits der kollektive Gedanke gelegt, der dann diese zentrale Rolle spielt in den Büchern Exodus bis Deuteronomium, in denen der Auszug aus Ägypten beschrieben wird, die Wanderung in der Wüste, wo man sich darauf vorbereitet im Lande Israel zu leben, wo dann die Ideen Gottes über ein Zusammenleben verwirklicht werden sollten. Die Wüste sozusagen als Labor der Gedanken.

Schließlich sind alle drei monotheistischen Religionen in der Wüste entstanden…

Hier kann man sich ganz den Gedanken widmen und man geht dabei mit dem Rhythmus der Wüste mit. Ich habe lange in der Wüste gelebt, erst im Negev und später als Soldat in Kriegen im Sinai. Davon war ich weniger begeistert, aber ich war begeistert, dort spirituelle Erfahrungen zu machen. Warum sind wir als Volk Israel nicht Beduinen geblieben, die mit dem Rhythmus der Wüste gehen, sondern haben dort am Sinai die Offenbarung bekommen? Diese Frage ist mir wichtig, aber überhaupt nicht, wo archäologisch der Sinai anzusiedeln ist. Ich bin bereit diese Diskussion mit den Archäologen zu führen, das ist schließlich auch eine Religion. (lacht)

Lassen Sie mich den Gedanken von der Freiheit als kollektive Idee noch einmal aufgreifen…

Freiheit in diesem konkreten Fall bedeutete, einen Ort der Unfreiheit und der Sklaverei zu verlassen und irgendwann an einem Ort zu sein, an dem der Einzelne verantwortlich ist für ein Verhältnis zwischen dem Göttlichen und der Gruppe, also dem Volk und dem Land Israel. Oder anders ausgedrückt: Das Land kann uns nur tragen, wenn wir uns ethisch benehmen, denn auch das Land hat eine Seele. Das ist der Gedanke und die Erfahrung, bei dem in meinem Leben das Mystische reinkommt…

…sagt ein Rabbiner, der für seinen Rationalismus bekannt ist…

…der aber sehr am Gebet hängt. Und wenn ich in der Gebetssituation bin, schiebe ich viel von der Ratio zur Seite. Ich glaube, dass jeder Mensch über das Geistige verfügt, das zwar mit Ratio einerseits, andererseits aber vor allem mit Emotion zu tun hat. Und die Emotionen haben auch ihre Gesetze, wie ja auch die Poesie ihre Gesetze hat. Da kann ich auch nicht sagen, im historischen Buch stecke mehr Wahrheit als in der Poesie.

Das was sie über das Zusammenleben im historischen Israel sagen, hört sich ein wenig wie die Geburtsstunde der modernen Zivilisation an…

Das Wort Israel heißt ja „der mit Gott und dem Menschen ringt“. Und das ist einer der Gründe, warum ich glaube, dass die jüdische Zivilisation sich immer wieder anpassen kann und wir, da haben Sie recht, der heutigen westlichen Zivilisation viel zu geben haben. Wir wollen nicht missionieren, wohl aber unsere Gedanken mitteilen. Zum Beispiel eben den Gedanken der Freiheit. Und wenn ich sage, dass Freiheit eine Gruppensache und keine individuelle Angelegenheit ist, so sehe ich gleichzeitig, dass im Westen immer das Ich im Zentrum steht, das Ego, das Individuum. Im Judentum steht der Andere im Zentrum, der mir hilft Ich zu sein. Wie Rabbi Elimelech von Lyschansk (1717-1787) mal gesagt hat: „Wärest du nicht du und ich nicht ich, wäre ich nicht ich und du nicht du.“ Und das sehen wir schon in dem Moment, in dem ein Baby zur Welt kommt. Das Selbstbewusstsein – im wahrsten Wortsinne – entsteht, weil es weiß, woher es Nahrung bezieht. Wenn es dabei seine Mutter mit den kleinen Händen ertastet, dann erkennt es sich selbst. Da entsteht ein Dialog zwischen Mutter und Kind, für den es keine Worte braucht.

Mir gefällt der Gedanke der Freiheit als kollektive Angelegenheit, weil er sehr aktuell ist – vom arabischen Frühling bis zu dem, was wir derzeit aus Syrien hören und aus anderen Weltregionen…

Wir bewegen uns in der Tat in einer Zeit großer Revolutionen. Wissen Sie, ich sehe den Rhythmus der Geschichte immer in zwei Richtungen und die sind nicht immer synchronisiert. Es gibt geschichtliche Epochen, in denen der Geist weiter als die Technik ist. Da gäbe es die antike Zeit in Griechenland parallel zur Ära der klassischen Propheten im damaligen Israel, also die Zeit von Jeremia, Jesaja, Micha, Amos… Das war eine Zeit, in der der Geist viel weiter war als die Zivilisation. Dann gab es Zeiten wie etwa im Römischen Reich, als die Zivilisation viel weiter war als das Geistige, welches auf der griechischen Tradition basierte. In unserer heutigen Epoche geht die Technik so weit voraus, dass der Geist hinterherhinkt. Das ist einer der Gründe, weshalb weltweit Fundamentalisten soviel Anklang finden. Weil sie diejenigen sind, die den Menschen das Gefühl einer mentalen Sicherheit geben.

Freiheit existiert im Judentum aber nicht nur als Anspruch nach außen, sondern auch in besonderer Weise nach innen und gilt insbesondere für die Meinungsfreiheit. Es wird sogar oft behauptet, wo zwei Juden sind existieren drei Meinungen…

Es kommt darauf an, wen Sie fragen. Ich stimme mit Ihnen überein, aber ich muss fairerweise darauf hinweisen, dass es im Judentum auch eine orthodoxe Haltung gibt. Sie geht davon aus, dass die Schrift und sogar auch die mündliche Überlieferung bereits am Sinai übergeben wurden. Ja selbst die späteren Interpretationen von Gelehrten, seien bereits am Sinai mitgeliefert worden. Wäre ich ein orthodoxer Rabbiner, und ich führe diese Dialoge gelegentlich auch mit mir selbst, wie könnte ich die von Ihnen genannte Haltung rechtfertigen? Nun ich könnte es folgendermaßen rechtfertigen: So wie Energie sowohl potentiell ist als auch kinetisch, ist auch das Wissen kinetisch und potentiell. Es wurde bereits am Sinai gegeben, aber ich erkenne an, dass durch die Situation in der Menschen sich befinden, es erst später zu interpretieren verstehen. Das ist nicht meine Haltung, aber ich glaube, dass ich damit leben könnte, wäre ich orthodox.

Begeben wir uns mal einen Moment weg von der jüdischen Freiheitsdefinition und lassen wir den Nicht-Juden Albert Camus zu Wort kommen: „Ohne Gesetz keine Freiheit. Wenn das Geschick nicht orientiert ist, wenn der Zufall König ist, dann befindet man sich auf dem Wege in die Dunkelheit, die furchtbare Freiheit des Blinden.»

Damit kann ich mich voll identifizieren. Nun ist Camus Franzose. Vergessen wir nicht, dass in der Französischen Revolution, auch wenn sie sich gegen die katholische Kirche richtete, die neue Zivilisation sehr viel von der Hebräischen Bibel übernommen hat. Darauf wiederum hat der französische Humanismus aufgebaut. Und die drei Säulen dieser Revolution, also Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, haben ihren Ursprung im prophetischen Judentum. Gott wurde zwar dann in der Guillotine geköpft, nicht aber die Werte, in denen man immer wieder das Göttliche entdeckt.

Das Göttliche wurde also nicht nur dem Volk Israel zuteil?

Natürlich nicht! Ich glaube sehr wohl, dass sich Gott auch anderen Völkern offenbart hat. Wir finden das bei einem Propheten, den ich immer gerne zitiere, nämlich Maleachi…

… den die traditionelle Forschung im 4. vorchristlichen Jahrhundert ansiedelt.

Richtig. Übrigens könnte ich ohne die Propheten nicht leben. Wenn ich nur mit den fünf Büchern Mose leben müsste, wäre ich verloren. So, und nun zitiere ich aus Maleachi Kapitel I Vers 11: „Denn vom Sonnenaufgang bis zu ihrem Niedergange ist groß mein Name unter den Völkern. Und an jeglichem Orte wird geräuchert und dargebracht mein Name. Und zwar reine Opfergabe, denn groß ist mein Name unter den Völkern! – spricht der Ewige der Heerscharen.“ Eine solche globale Vision damals in diesem winzigen Dörfchen namens Jerusalem, in das gerade die Leute aus Babylon zurückgekehrt sind – na, wenn das nicht göttlich inspiriert ist!

„Ohne Gesetz keine Freiheit“ – das bringt mich zu den Pflichten, die damit verbunden sind…

Ja, keine Freiheit ohne Pflichten. Die Freiheit in unserem Beispiel eingangs entspricht dem Auszug aus Ägypten und dann 50 Tage später wurde uns die Thora gegeben. Und darin haben wir rationale Gesetze ebenso wie irrationale.

Nämlich?

Nun, wir haben einerseits Kult, aber andererseits auch Ethik. Alle diese Elemente sind da, welche die Menschheit später im Verlaufe der Zivilisation wieder in verschiedene Abteilungen teilt. Deshalb ist mir das Poetische der Religion wichtig, das das alles wieder in eine Einheit bringt. Nicht wie der Hals-Nasen-Ohren-Arzt, der mich untersucht, aber nicht weiß, warum ich im rechten Finger Schmerzen habe. Dafür schickt er mich zu einem anderen Experten. Aber ich bin doch dieselbe Person. Es wird heute zu wenig in Einheit gedacht. Deshalb haben wir so große Probleme in Partnerschaften, deshalb haben wir auch große Probleme im Dialog. Also aus meiner Sicht ist es die Aufgabe der Religionen im 21. Jahrhundert, diese Zerstückelung wieder in eine Einheit und Ganzheit zu bringen.

In jeder Religion gibt es Pflichten, Verbote und Gebote. Die Tora legt einem jeden Juden nicht weniger als 613 davon als Verpflichtung auf. Im traditionellen Glauben des Judentums sind sie dem Volk Israel im Sinai von Gott übergeben worden. Nun gibt es diesbezüglich auch modernere Ansichten – etwa bei Thomas Mann in seiner Erzählung „Das Gesetz“. Diese Deutungen gehen davon aus, dass Mose einer spirituellen Inspiration folgend das Regelwerk selbst verfasste, um eine gegenseitige Verantwortung und Verlässlichkeit zu fördern, wie sie bei der Nationwerdung der Juden auf dem Weg nach Israel notwendig war…

Das ist eine schöne Beschreibung, aber ich bin auch Realist. Wegen solch einer Definition soll ich Shabbat halten oder die jüdischen Feiertage? Denn das wäre ja eine rein historische Beschreibung, die Sie da zitieren. Da könnte ich sagen: Ich lebe nicht mehr in dieser Zeit. Nein, ich glaube, dass ich den Shabbat brauche, wie ihn die Juden in der Wüste gebraucht haben oder im Land Israel oder in Babylon.

Das widerspricht doch nicht einer spirituellen Eingebung?

Akademisch kann man das so beschreiben, das nennt man dann „objektiv“. Ich aber glaube nicht an Objektivität. Ich glaube bestenfalls an etwas weniger Subjektivität. Weil ich nämlich nicht glaube, dass wenn jemand das so beschreibt und damit endet, dann der Imperativ noch gegeben ist, den Shabbat einzuhalten. Aber wir sind auch nicht nur für uns verantwortlich, nicht nur für Leute die bei uns arbeiten, sondern etwa auch für die Landwirtschaft, sogar für den Boden… Ich glaube nämlich, dass auch die Welt eine Seele hat. Da sagt mancher sofort, das klingt nach Buddhismus. Na und? Gott offenbart sich in verschiedenen Formen. Es freut mich, dass es das auch im Buddhismus gibt, es muss nicht immer alles vom Judentum kommen. Das so zu sehen ist auch Freiheit. Nicht wie im paulinischen Determinismus: „Du bist in Sünde geboren und kannst aus der Sünde nur herauskommen, wenn du dich mit der Menschwerdung Gottes identifizierst.“ Das akzeptiert das Judentum nicht. Im Gegenteil. Es ist gerade ein Teil der Freiheit, auch Fehler zu machen.

Mit anderen Worten: Da das Judentum keine Erbsünde kennt, kann der Mensch auch jederzeit den Weg der Umkehr beschreiten…

Ja! Aber er scheint es nicht allein machen zu können und deshalb zählen wir auf das Kollektiv. Es ist viel leichter zu sagen: „Wir haben gesündigt!“ Und da haben wir wieder die Verantwortung, die von der Gemeinschaft getragen wird. Das ist die jüdische Freiheit!

Zu den einfachen Geboten im Judentum gehören das Morgen-, Mittags- und Abendgebet, sowie der Besuch der Synagoge am Sabbat und an allen hohen Festtagen. Kann jemand zur spirituellen Betätigung durch ein religiöses Gesetz verpflichtet werden?

Durch wen?

In diesem Fall durch die Tora…

Und wer akzeptiert die Tora? Der Mensch. Die Tora hat ihren Anfang am Sinai, aber das Überreichen der Tora durch Gott ist ein unendlicher Prozess.

Dann frage ich anders: Kann man jüdisch leben ohne die Mitzwot, also ohne strenge Beachtung der in der Tora formulierten Verbote und Gebote?

Ich kenne sehr wenige Menschen, denen das gelingt. Einer davon war Martin Buber, der jüdische Religionsphilosoph. Als sein Mitarbeiter bei der Übersetzung der Bibel ins Deutsche, Franz Rosenzweig, gefragt wurde, ob er die Phylakterien anlegt…

…die Gebetsriemen und die Gebetskapsel …

… da sagte er: „Noch nicht!“ Buber hingegen hielt sich von jeder ritualisierten Form des Judentums fern. Aber er hat immer wieder in Kirchen, Synagogen und Universitäten seine Vorlesungen gehalten. Ich habe ihn als junger Mensch in einer deutschsprechenden Gemeinde in Jerusalem erlebt – er kam ja aus Österreich. Da erschien nach dem Gottesdienst manchmal „Prof. Buber“ und hielt seine Vorträge. Gelegentlich war der Gottesdienst noch nicht fertig und er saß dann etwas abseits, die Tasche mit dem Manuskript auf seinen Beinen. Man konnte sehen, dass er sich am Gottesdienst nicht beteiligte, sondern lediglich wartete bis er zu Ende war. Dann ging er nach vorn und hielt einen Vortrag zum Thema „Das Gebet in der hebräischen Bibel“. Sie sehen, es geht. Aber es gelingt nur Wenigen buberisch zu leben! (lacht)

Lassen Sie mich abschließend zu einer Frage kommen, die viele, nicht nur gläubige Juden bewegt – das Thema „Engel“. Über deren Existenz gibt es im Judentum sehr unterschiedliche Glaubensgrundsätze…

Ja, das stimmt. Wenn Sie mich fragen, ob ich an Engel glaube, so sage ich Ihnen: Nein, ich glaube nicht an Engel. Ich glaube, dass wir bestimmte Kräfte personifizieren. Und wenn Menschen dadurch glücklicher sind, hat es seine Aufgabe erfüllt.

Das klingt nach dem jüdische Gelehrten Maimonides, der im Mittelalter in einem rationalistischen Weltbild die Engel als eine biblische Umschreibung der Naturkräfte ansah, die Gott einsetze, um seinen Willen in der Welt umzusetzen.

Richtig – in seinem Buch „More Nevuchim“, das auf Deutsch „Führer der Irrenden“ heißt. Wissen Sie, ich denke, es gibt Momente im Leben, in denen wir das Gefühl haben, dass eine Begegnung etwas Besonderes ist. Ein Gefühl, dass ein Mensch dem wir begegnen oder eine bestimmte Situation etwas Engelhaftes hat. Wenn sich beispielsweise zwei Menschen im Gespräch begegnen, so merken sie vielleicht, dass sie einander näher kommen, auch wenn sie sich physisch nicht annähern. Diese magnetische Kraft ist für mich eine Offenbarung des Göttlichen. Manchmal bewirkt eine Begegnung allerdings auch das Gegenteil.

© Gerhard Haase-Hindenberg