Die älteste Pariserin ist eine Wiener Jüdin

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Ilse Weiszfeld beging soeben ihren 112. Geburtstag. Die gebürtige Wienerin zog 1932 mit ihrem Mann Fritz nach Paris. Das jüdische Paar und ihre rechtzeitig aus Wien nachgeholte Familie überlebte die Nazi-Besetzung versteckt bei Lyon und in den Alpen. In Paris schufen sie einen Textil-Betrieb, der mit ausgeklügelten Herstellungsmethoden und bahnbrechenden Modellen Furore machte…

Von Danny Leder, Paris

Es ist eine der üblichen Geburtstagsfeiern in einem Altersheim des 13.Pariser Arrondissement – aber mit zwei Besonderheiten: neben Verwandten sind auch Kommunalpolitiker erschienen, um der ältesten Pariserin zu gratulieren. Und diese 112 jährige Dame wird vom Pflegepersonal „Mutti“ genannt und spricht Deutsch mit Wiener Akzent. Wenn ihr etwa eine ihrer Enkeltöchter einen Urenkel, die dunkelhäutige Emily (der Vater des Kindes stammt aus Kamerun) entgegenhält, sagt sie: „Wie reizend, dieses Kind“.

Aber auch der gelernte Wiener vermag nicht mit Gewissheit zu sagen, welchen Grad an echtem Entzücken über den jüngsten Familiennachwuchs diese Formulierung enthält. So dürfte sie es ihr langes Leben lang gehalten haben, die Ilse Weiszfeld, geborene Russ, die in Wien 1904 zur Welt kam, als Tochter eines Spirituosenverkäufers bei einer Kutschenhaltestelle in Schönbrunn und einer Standlerin für Milchwaren am Naschmarkt. „Eine eiserne Faust in einem Samthandschuh“, sagt über sie ihre Tochter, Monique, und rätselt: „Hat Mutti die Hautfarbe von Emily nicht bemerkt oder wollte sie nichts dazu sagen?“

Tochter Monique, eine pensionierte Uniprofessorin (für englische Zivilisation), ist auch schon 80. Aber ausschauen tut sie wie 60 und reden wie eine 20 jährige – und das ebenfalls in perfektem Wiener Deutsch. Dabei ist Monique in Paris geboren und kennt Wien nur von vereinzelten Besuchen und den Erinnerungen ihrer Mutter, die ihr ein gemischtes Österreich-Bild vermittelte.

Die Lehrerin nennt sie „Sarah“ statt Ilse

Und das kam so: die kleine Ilse, die in Wien in der Märzstraße aufwuchs, bekam manchmal in der Schule zu spüren, dass sie doch nicht ganz dazugehörte. Eine Zeichenlehrerin nannte sie immerzu Sarah, bis Ilse drohte, sie werde das der Direktorin melden. Das wollte die Zeichenlehrerin dann doch nicht riskieren, alles war damals noch nicht erlaubt. Und so es kam zu einem Arrangement: Ilse, die fürs Zeichnen keine Begabung hatte, durfte fortan bei Prüfungen Zeichnungen vorlegen, die ihre Lehrerin angefertigt hatte.

Es gab aber in ihren Erinnerungen auch viel Schönes: einen Park, in dem Ilse Schule schwänzte, um „Babys zu sehen“ – bis die Eltern dahinterkamen. Der viertel Liter Milch, den sie der Großmutter heimbringen sollte, und den sie unterwegs zur Hälfte austrank und dann mit Wasser nachfüllte. Sie sah den  Kaiser in einer Kutsche vorbeifahren. Später kam die Oper mit ihren Stehplätzen. Und noch später der jüdische Sportklub „Hakoah“, das Schifahren und Schwimmen. Da lernte sie Fritz Weiszfeld, einen feschen Amateur-Fußballer, kennen.

Steinmetze und Rabbiner als Vorfahren

Geheiratet wurde 1928 im jüdischen „Tempel“, der größten Wiener Synagoge in der Seitenstettengasse. Ilses Familie, die Russ aus Trebitsch in Mähren, die auf eine lange Ahnenreihe von Grabsteinmetzen und Rabbinern zurückging, nahm es mit der Religion ernst – Ilse sollte auch noch später in Paris ein „Gebetsbuch für den Alltag“, eine Übersetzung hebräischer Gebete ins Deutsche in gotischer Schrift, bei sich bewahren. Bei den Weiszfelds hingegen, die aus Ungarn stammten und sogar den Gründer der ungarischen liberalen Partei in ihren Reihen zählten, hielt man nicht viel von religiösen Vorschriften. Vater David pflegte ausgerechnet am jüdischen Fastentag, dem Jom Kippur, Schweinshaxen mit Sauerkraut zu speisen.

Heirat mit Fritz 1928 in Wien
Hochzeit 1928 im Wiener Stadttempel

Als Ilse heiratete – sie hatte inzwischen ein Examen in Französisch und Englisch bestanden – war ihr ursprünglicher Berufstraum, selber an einer Schule Sprachen zu unterrichten, bereits zerstoben. Im darbenden Wien der Zwischenkriegszeit schlug sie sich auch als Sekretärin mehr schlecht als recht durch. Da traf es sich gut, dass Fritz ihr eine Anstellung im Betrieb seiner Eltern verschaffte. Doch auch in der Firma Weiszfeld und Co., die „Damenwäsche aller Art“ im dritten Bezirk Wiens, am Rennweg, erzeugte, langte es bald nicht mehr für alle. Fritz war eine Art frühreifer Tausendsassa, der die Schule mit 14 beendet und bloß im elterlichen Unternehmen das Handwerk gelernt hatte. Mit 16 war er bereits als Vertreter losgezogen. Vier Jahre nach seiner Hochzeit mit Ilse wagte er den Sprung nach Paris.

Die ersten Erfolge in Paris

In einem Kämmerchen in Paris legte das Paar den Grundstein für eine betriebliche Erfolgsgeschichte. „Mein Vater,“ erzählt Monique, „kaufte eine Rolle Stoff und schnitt sie zu, meine Mutter nähte, sie hatten eine Stickerei-Technik für Unterwäsche und Nachthemden aus Wien mitgebracht, die damals in Paris noch nicht bekannt war. Mein Vater bot das den großen Kaufhäusern an, den „Galerie Lafayette“ und dem „Printemps“, die waren begeistert. Kaum hatte er die ersten Lieferungen abgesetzt, rannte er los, um Stoff nachzukaufen.“ Ein florierendes Unternehmen entstand. „Meine Mutter bekam in Paris auch viel weniger Antisemitismus als in Wien zu spüren“, ergänzt Monique.

Aber Fritz ahnte die Gefahr für die Juden in Österreich. Er bestach einen Pariser Beamten, um seinen engsten Verwandten ein „Familien-Visum“ zu verschaffen. Alle zogen nach Paris bis auf einen Bruder, einen ehemaligen Frontsoldaten des ersten Weltkriegs. Der Bruder wurde in Dachau umgebracht. Alle nach Paris gezogenen Verwandten sollten hingegen die Vernichtungsmaschinerie der Nazis überleben.

Das Versteck in den Bergen

Denn Fritz reagierte abermals vorausschauend. Als Hitlers Truppen 1940 in Frankreich einmarschierten, brach die Familie in die so genannte freie Zone auf.  Bis 1942 blieb dieser südöstliche Teil Frankreichs unbesetzt und unterstand ausschließlich dem französischen Kollaborationsregime.

Die Weiszfelds machten sich aber keine Illusionen über dieses Regime, das den Besatzern bei der Judenverfolgung schnell zur Hand ging. Monique und ihre Tante Irma, die Schwester von Ilse, wurden in ein entlegenes Alpenmassiv geschickt, das Ilse und Fritz bei ihren Skitouren entdeckt hatten. Es handelte sich um die Bergkette des Vercors südlich von Grenoble – die Ironie der Geschichte: die Gegend, die die Weiszfelds wegen ihrer vermeintlichen Abgeschiedenheit und Ruhe als Unterschlupf für ihre Tochter ausgewählt hatten, wurde zu einer Hochburg der Résistance. Widerstandskämpfer und die Miliz des Kollaborationsregimes lieferten sich dort erbitterte Kämpfe. 1944 wurde die natürliche Bergfestung von einem Großaufgebot an deutschen Boden-Luft-Truppen eingenommen und die Überlebenden hingeschlachtet. Aber Monique und Irma durchlebten diese Wirren unbeschadet, weil ein beträchtlicher Teil der Bergbevölkerung gegenüber den Kollaborationsbehörden Stillschweigen bewahrte und zusammenhielt.

Die betagten Eltern von Ilse wiederum wurden in einem psychiatrischen Sanatorium untergebracht, ein ideales Versteck. „Meine Großmutter wollte partout nicht verstehen, warum sie im Narrenhaus ihre Wiener Mehlspeisen nicht weiter zurichten konnte“, erzählt Monique.

Ilse mietete eine Wohnung in einem Vorort von Lyon. Aber Fritz, der seinen österreichischen Akzent nicht zu verbergen vermochte, musste ständig in einem kleinen Raum versteckt bleiben. Die perfekt französisch-sprachige Ilse hingegen konnte mit dem gefälschten Ausweis einer nicht-jüdischen Freundin und ihrer üblichen Nervenstärke die häufigen Straßenkontrollen passieren und Schwarzmärkte nach Essbarem abklappern.

Fritz – ein genialer Maschinenbastler

Nach der Befreiung Frankreichs gebar Ilse, die in Wien „lieber Babys im Park anschauen als in die Schule ging“, in Paris 1946 das zweite Kind, ihren Sohn Alain. Und wieder schufen Ilse und Fritz einen Betrieb, „Le Fleuron“ (das Prunkstück), der mit Damen-Unterwäsche und später sogar mit den ersten Bodys Furore machen sollte.

„Meine Eltern waren derartig zusammengeschweißt, das es für uns Kinder schon wieder schwer war, weil man ja keinen von Beiden weich klopfen konnte“, bedauert Monique: „Aber im Betrieb war das perfekt. Ilse leitete die Werkstatt, sie konnte mit den jungen Näherinnen bestens umgehen, noch Jahre später bekam sie von ehemaligen Mitarbeiterinnen Grusschreiben. Mein Vater aber konnte buchstäblich alles: verkaufen, die Modelle entwerfen und das Wichtigste, er schuf mit eigenen Händen die Metallstücke für die Maschinen, um die Modelle präzise herzustellen. Wie oft kauften Konkurrenten unsere Waren und konnten doch nicht die Herstellungsmethoden entschlüsseln.“

Wie bei vielen jüdischen Migranten war nach dem Krieg – allen scheußlichen Erinnerungen zum Trotz  –  Österreich-Nostalgie angesagt: bei den Eltern von Ilse gab es regelmäßig Abende mit Wiener Liedern für die ganze Familie.

Mit der Zeit kamen neue, harmlosere Erschütterungen: der Sohn, später ein erfolgreicher Forscher auf dem Gebiet der Zahnmedizin, war als Gymnasiast ein rebellischer Maoist – und wurde dafür von seiner Tante enterbt.

In älteren Jahren fühlten sich Ilse und Fritz mehr denn je der jüdischen Schicksalsgemeinschaft verbunden. Was Fritz allerdings nicht daran hinderte, in der Tradition seiner liberal engagierten ungarisch-jüdischen Familie, religiöse Orthodoxie und Vorschriften mit ironischer Skepsis zu betrachten – im Keller ihres Hauses im Pariser Vorort Le Vésinet, so erinnert sich Monique, hatte ihr Vater stets einen „wunderbaren Paprika-Speck“ aufgehängt. Das hinderte ihn freilich nicht daran, als großzügiger Spender die örtliche Synagoge zu unterstützen.

Afrikanische Geburtstagslieder

Einer Enkelin, die sie zur Situation der Frauen im Rückblick befragte, sagte Ilse vor wenigen Jahren: „Es ist eine neue Welt. Die Berufstätigkeit der Frauen, die Entbindung im Spital, die Empfängnisverhütung, das Recht auf Abtreibung. Aber dann kamen die vielen Scheidungen. Die Jungen machen heute Kinder ohne Heirat. Und dann diese Mischung der Kulturen. Wenn man so viel Unterschiede hat, wie soll man dann noch zusammenhalten? Aber es ist jetzt alles so sehr im Fluss, das ist nicht leicht. Ihr werdet schon wissen, was gut für Euch ist. Mein Kram ist das ja nicht mehr.“

Im Vorjahr, bei Ilses 111. Geburtstag, sangen die – überwiegend afrikanischen – Pflegerinnen Glückwunschlieder in afrikanischen Sprachen – eine nette Revanche für die vielen Anreden auf Deutsch, die „Mutti“ ihnen gegenüber ständig gebraucht. Wenn es zur Sache geht, kann Ilse aber auch wieder auf Französisch schnippisch werden. Als ihr eine Bezirksrätin ein Buch übergab, ätzte sie: „Mademoiselle, Sie schenken mir seit Jahren immer das gleiche Buch. Jetzt könnten Sie sich aber zur Abwechslung etwas Neues einfallen lassen“.

Erstveröffentlichung in der österreichischen Tageszeitung KURIER.
Fotos: (C) Meier-Weiszfeld