„Die Kerle wollen glücklich sein“

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Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates…

Von Martin Kloke

An Israel scheiden sich die Geister – Gegensätze prallen mitunter hemmungslos aufeinander: Gilt den einen das Land zwischen Jordan und Mittelmeer als Musterstaat in einer nahöstlichen Chaosregion, sehen die anderen in Israel einen Paria. Für die einen ist das jüdische Gemeinwesen die einzige Demokratie im Nahen Osten, für die anderen ein kolonialistischer Aggressor. Wähnen jüdische Westbank-Siedler und evangelikale Aktivisten in Israel einen messianischen Heilsbringer, formiert sich auf der Gegenseite eine internationale Boykottbewegung, die den zionistischen Staat in die Knie zwingen möchte. Seit bald 50 Jahren richtet sich fast die Hälfte aller länderspezifischen Resolutionen der UN-Vollversammlung gegen Israel – aus dem einstigen Außenseitervolk scheint ein Außenseiterstaat geworden zu sein. Während die Bundeskanzlerin Angela Merkel die Sicherheit Israels als einen Teil der deutschen „Staatsräson“ bezeichnet, ist es unter postmodernen jüdischen Intellektuellen wieder schick geworden, einem nostalgisch verklärten antizionistischen „Diasporismus“ zu frönen; in Ländern wie etwa dem Iran ist es gar staatsoffizieller Usus, dem „zionistischen Gebilde“ den Tod zu wünschen. So gegensätzlich sich all diese Deutungen lesen, sie haben eines gemeinsam: Israel wird nirgendwo als „ein ganz normaler Staat“ betrachtet.

Diese Widersprüchlichkeiten sind auch dem innerisraelischen Diskurs nie fremd geblieben: Die Geschichte des Zionismus spiegelt vordergründig den Versuch, die Juden zu einem ganz normalen Volk mit einem ganz normalen Staat zu machen. „Die Kerle wollen glücklich sein“ (8), soll der deutsch-jüdische Philosoph Hermann Cohen gespöttelt haben. Der in der israelischen Unabhängigkeitserklärung verankerte Wunsch, „ein Leben wie jedes andere Volk in einem eigenen souveränen Staat zu führen“, ist schon in der Hebräischen Bibel zu finden, wo das Volk Israel darauf besteht, so sein zu wollen „wie alle anderen Völker“ (1. Sam. 8:5). Doch auch der Wunsch, ein Vorbild für die anderen, „ein Licht unter den Völkern“ sein zu wollen, hat biblische Wurzeln (Jes. 49:6). Dieser gegenläufige Impetus hat das zionistische Selbstverständnis ebenso geprägt wie der Normalitätsdiskurs.

Der renommierte Münchner Historiker Michael Brenner unternimmt in diesem Buch den Versuch, die geschichtlichen Voraussetzungen Israels in ihren Tiefendimensionen neu zu denken und auszuleuchten – entlang der aporetischen Dialektik von Normalität und Exzeptionalität. Seine These ist ebenso schlicht wie überzeugend: Auch die zionistischen Vordenker und späteren israelischen Politiker konnten sich trotz aller Normalisierungsbedürfnisse dem „Bann“ der jüdischen Geschichte nicht entziehen. So sehr hatten sich Vorstellungen von „den Juden“ als den schlechthin „Anderen“ in die europäischen Kulturen hineingefressen, dass im Kontext von Traum und Trauma selbst die zionistischen Protagonisten von derartigen Projektionen beseelt wurden. Angesichts der besonderen Umstände der Gründungsgeschichte Israels, nur wenige Jahre nach der Schoah und nach 2.000 Jahren der Staatenlosigkeit, wäre alles andere womöglich noch erstaunlicher gewesen. So haben im heutigen Israel Protagonisten unterschiedlicher politischer Milieus die Sonderrolle ihres in allerlei religiöse, säkulare und ethnische Parallelgesellschaften zersplitterten Gemeinwesens verinnerlicht – Diversity scheint der kleinste gemeinsame Nenner zu sein. Ähnlich wie Shulamit Aloni, der Mitbegründerin der linken Meretz-Partei, die die „Einzigartigkeit“ Israels mit prosaischer Kühle in der „Verpflichtung“ begründet sieht, „an sich höhere Ansprüche zu stellen als an andere“, spricht Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in poetischer Diktion von Israel als „einem wunderbaren Land, das immer danach strebt, ein ‚Licht unter den Völkern zu sein.‘“ (11)

In der Langzeitperspektive Israels macht Brenner mehr als einen Paradigmenwechsel aus: Während es in den ersten beiden Jahrzehnten Israels galt, den zionistischen Traum in eine realitätstaugliche Praxis zu transformieren, lösten der militärische Erfolg von 1967 und der dadurch befeuerte politische Rechtsruck von 1977 die Rückkehr der Utopie in die israelische Politik aus. Die Rechten träumen die Etablierung eines Groß-Israels herbei, während die Linken einen neuen Nahen Osten herbeisehnen, der das technologisch fortgeschrittene Israel als integralen Bestandteil akzeptiert. Noch immer, so Brenners an zahlreichen Beispielen illustriertes Resümee, ist Israel eine „Gesellschaft der Paradoxe“: „Tel Aviv ist eine Umsetzung der Idee, ein Staat wie jeder (westliche) andere sein zu wollen, Jerusalem dagegen steht in einer Tradition, die das Einzigartige am jüdischen Staat betont. […] Israel ist nicht das utopische Siebenstundenland, von dem Theodor Herzl träumte, und auch nicht der neue Nahe Osten, den Shimon Peres erstrebte, es ist weder zum Kanaan geworden, das mit der jüdischen Tradition bricht, noch zum Zion, das sich als religiöser Staat definiert. Das Israel von heute ist ein bisschen von alledem geworden. […] Es ist ein Staat, der auf der Hut sein muss, dass er nicht von außen zerschlagen wird und das er im Inneren nicht zerbricht. Es ist ein Staat, der trotz seiner äußerst realen Existenz weiterhin Menschen in der gesamten Welt als Projektionsfläche ihrer Ängste, Hoffnungen und Wünsche dient.“ (241f.)

Michael Brenner, Israel: Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates, C.H.Beck Verlag 2016, 288 S., Euro 24,95, Bestellen?
LESEPROBE

Die Rezension erschien zuerst in: JUDAICA. Beiträge zum Verstehen des Judentums. Heft 3, 72. Jg. Zürich: September 2016, S. 439f.

1 Kommentar

  1. Die Tatsache, dass ein so kleiner Fleck wie der israelische Staat so viel Hass und negative Projektionen auf sich zieht ist für mich eine Art Lehre (im Sinne von Messwerkzeug) über die Irrationalität von viel zu vielen Menschen. Dummheit, Ressentiments, Fanatismus und eine besonders intolerante Religion wie der Islam sind die Hauptursachen dieser destruktiven Sichtweisen.

    Fazit: Die Ursache liegt nicht in Fehlern und Unvollkommenheiten Israels. Ansonsten müssten ausnahmslos alle Staaten dieses Planeten dieselben Probleme haben.

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