Dauerbedrohung gegen Chinesen in Pariser Brennpunktvierteln

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Einwanderer aus Südostasien werden laufend von kriminellen Jugendlichen in Migrantenvierteln überfallen. Nach dem Tod eines chinesischen Schneiders in einem Vorort demonstrierten zehntausende Franko-Chinesen. Junge asiatisch-stämmige Politiker sehen die selben Vorurteile wie gegen die Juden am Werk und erinnern an die Ermordung von Ilan Halimi. Viele Chinesen sind auch in die jüdischen Fußstapfen in der „Schmattes-Branche“ getreten…

Von Danny Leder, Paris

Nur wenige wissen es, aber Paris ist auch die größte so genannte „chinesische Stadt“ Europas: gleich mehrere innerstädtische Viertel und Teile der Vororte wurden von alten und neuen Einwanderungswellen aus China, Vietnam, Kambodscha und Laos geprägt. In der Öffentlichkeit sorgen diese „asiatischen Migranten“ (wie sie in Frankreich bezeichnet werden) meistens für wenig Aufsehen. Neuerdings aber rücken sie ins Rampenlicht, weil sie in einem bisher unbekannten Ausmaß zu Opfern von immer brachialeren kriminellen Angriffen werden.

Am vergangenen Sonntag (4. September) entlud sich ihre Wut und Angst in einem  Mega-Aufmarsch zehntausender Personen in Paris. Die Demonstration stand unter dem Slogan „Sicherheit für alle“. Frankreichs Flagge wurde tausendfach hochgereckt, aber es gab fast nur asiatische Teilnehmer.

„In meinem Bekanntenkreis gibt es niemanden, der nicht schon überfallen wurde, keine Familie bleibt verschont“, erzählt ein Demonstrant, der 25 jährige Informatik-Student Laurent Phung, der wie die meisten Kinder oder Kindeskinder asiatischer Einwanderer einen französischen Vornamen trägt. Eine neben ihm marschierende Ärztin berichtet: „Ich muss täglich Opfer von Angriffen versorgen. Schwangere Frauen, Kinder, alte Leute, die misshandelt wurden. Früher wollten die Angreifer nur an Handtaschen, Handys und vermutetes Bargeld heran. Aber jetzt kommt es zu Gewaltorgien“. Und eine junge Frau ergänzt: „Ich gehe Abends nicht mehr aus und meine Kinder lasse ich auch nicht mehr alleine auf die Straße. Ich kenne auch viele Chinesen, die nur mehr in Begleitung, gruppenweise, zur Arbeit gehen. Unsere nicht-asiatischen Bekannten haben von unseren Ängsten keine Ahnung, die können sich das gar nicht vorstellen.“

Tödliche Vorurteile

Das Fass zum Überlaufen brachte der Tod eines 49 jährigen Schneiders, Zhang Schaolin, Anfang August. Der Mann war mit einem Freund im Vorort Aubervilliers zu Fuß unterwegs, als sie von drei – inzwischen festgenommenen – Jugendlichen angegriffen wurden. Diese schlugen auf den Freund ein und versuchten ihm seine Umhängetasche zu entreißen. Zhang ging dazwischen, ihm wurde ein Fußtritt gegen das Brustbein versetzt und er schlug hart auf dem Boden auf. Er verschied nach fünf Tagen im Koma. In der erbeuteten Umhängetasche befanden sich eine Packung Bonbons, Brillen und Zigaretten. Der Sohn von Schaolin war seit seiner Ankunft in Frankreich 2004 bereits vier Mal überfallen worden, das letzte Mal entriss ihm eine fünfköpfige Gruppe seine Brieftasche, die zehn Euro enthielt.

Laut Behördenauskunft hat sich in Aubervilliers innerhalb eines Jahres die Zahl der Diebstähle mit Gewaltanwendung, die sich gegen Asiaten richteten, verdreifacht: die Zahl stieg von 35 auf 105. Tamara Lui, vom Unterstützerkomitee für die Familie von Zhang Schaolin, betrachtet diese Zahlen als „grobe Unterschätzung“: die Chinesen von Aubervilliers würden in ihren sozialen Netzwerken „sechs Aggressionen pro Tag“ vermelden.

„Wir sind Opfer eines rassistischen Klischees, das besagt, dass wir alle reich wären. Wir würden allesamt viel Bargeld mit uns tragen. Aber die meisten, die in den Vororten wohnen sind arm, sonst würden sie wegziehen“, erklärt Rui Wang, Vorsitzender „Vereinigung der jungen Chinesen Frankreichs“. Tatsächlich sind etliche der Überfallsopfer Ersteinwanderer, die kaum Französisch sprechen und oft über keine Aufenthaltsgenehmigung verfügen und daher den Weg zur Polizei scheuen. Aber auch jene, die versucht haben, Anzeige zu erstatten, wurden in Kommissariaten oft hingehalten und entmutigt.

Chinesisches „Schmattes-Viertel“

Der Tatort, die Vorstadt Aubervilliers, ist zu einem europa-weit bekannten, dynamischen Zentrum für Konfektion geworden, das vornehmlich Migranten aus der Region um die chinesische Stadt Wenzhou hochgestemmt haben. Damit traten die asiatischen Einwanderer vielfach in die Fußstapfen jüdischer Migranten und ihrer oft bevorzugten Berufszweige. Aubervilliers hat nämlich das einst dominante innerstädtische Textilviertel, den „Sentier“, weitgehend abgelöst. Von der Vorkriegsperiode bis in die 1990er Jahre war der „Sentier“ das wichtigste Pariser „Schmattes-Viertel“, geprägt von jüdischen Migrationsströmen erst aus Osteuropa und später aus Nordafrika.

Jetzt reihen sich in Aubervilliers zahllose Läden von Grossisten aneinander, im Hintergrund gibt es Schneiderwerkstätten. Einige Einwanderer sind zu Reichtum gelangt, aber vor Ort befinden sich hauptsächlich Kleinunternehmer, Angestellte und Tagelöhner.

Der vormalige SP-Bürgermeister von Aubervilliers hat die Partnerschaft mit Wenzhou gezielt vorangetrieben, und so aus dem Pariser Vorort eine wichtige Handelsplattform gemacht. Aber die nunmehrige Kriminalität bedroht den Standort, es kommen immer weniger Chinesen. Auch die jetzige KP-Bürgermeisterin, die Franko-Maghrebinerin Meriem Derkaoui, die an der Pariser Demonstration der Franko-Chinesen teilgenommen hat, bestätigt: „Gewisse Verbrecher nehmen gezielt die asiatische Community ins Visier“. Derkaoui beklagt einen allgemeinen Mangel an Polizeipräsenz, der alle Einwohner treffe: „In Aubervilliers haben viele Menschen schon seit Monaten keinen Polizisten mehr zu Gesicht bekommen“. Innenminister Bernard Cazeneuve hat inzwischen eine Aufstockung der Sicherheitskräfte zugesagt. Auch die Zahl der Dolmetscher in den örtlichen Kommissariaten wurde erhöht.

„Keine Brüderlichkeit ohne Sicherheit“

Dass sich aber die asiatischen Migranten derartig bedroht sehen und dabei fast ausschließlich von Jugendlichen und Halbwüchsigen aus maghrebinischen und afrikanischen Familien (ihre Nachbarn) angegriffen werden, öffnet die Tore für eine besonders gefährliche Art kollektiver Spannungen. Der  „Front National“ liegt bereits auf der Lauer. Die nationalpopulistische Partei umwirbt die asiatischen Migranten und bescheinigt ihnen eine „erfolgreiche Integration“ – will heißen: im Gegensatz zu anderen Einwandergruppen.

Die asiatischen Demonstranten vom Sonntag hatten einen Slogan, der die Devise der französischen Republik (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) leicht abwandelte: „Keine Brüderlichkeit ohne Sicherheit!“. Das kann auch als eine Art letzter Warnung aufgefasst werden. Einige – bisher wenige – asiatische Einwanderer haben Ansätze für ihre Selbstverteidigung geschaffen. Drei Franko-Chinesen stehen erstmals vor Gericht: sie hatten einen Angreifer, der mit zwei Komplizen einer asiatischen Familien in einer Tiefgarage aufgelauert war, Messerstiche beigefügt und ihn erst anschließend der Polizei übergaben. Die drei Helfer waren vom Familienvater, der die Angreifer rechtzeitig erspäht hatte, per Handy herbeigerufen worden.

An der Pariser Demonstration nahmen Politiker der Linken und Mitte-Rechtsparteien teil. Auch die etablierten Anti-Rassismus-Bewegungen, darunter „SOS-Rassismus“ und die LICRA (Liga gegen den Rassismus und Antisemitismus“), waren mit Spitzenpersönlichkeiten vertreten, aber es gab keine relevante Teilnahme aus ihrem (sowieso geringen) Aktivistenmilieu oder aus den Reihen anderer Gruppen, die sich als ethnische oder konfessionelle Minderheiten verstehen und über Vorurteile und Diskriminierungen klagen.

„Zhang Schaolin starb aus dem selben Grund wie Ilan Halimi“

Das erinnert an die meisten Kundgebungen in Frankreich, die auf anti-jüdische Attacken in den letzten Jahre folgten: auch da gab es außer Spitzen-Vertretern von politischen Parteien und Vereinen kaum eine Mobilisierung von Personen, die nicht aus jüdischen Milieus stammten. Der wichtigste, wenn auch meistens nicht ausgesprochene Grund dafür ist wohl, dass die Täter junge Muslime waren und aus maghrebinischen oder afrikanischen Migrantenfamilien stammten. Also aus jenen Bevölkerungsgruppen, die sich selber oft als Zielscheibe der Vorurteile und Diskriminierungen seitens des „Mehrheits-Rassismus“ sehen und von einem Teil der linken, gesellschaftskritischen Öffentlichkeit fast ausschließlich als Opferkategorie eingestuft werden.

Und wie im Fall der Peiniger der Juden in Vorstädten, die sich an der Schnittstelle zwischen Jugendkriminalität und antijüdischen Hass-Ideologien bewegen, handeln die meisten Täter von Überfällen auf Asiaten aus einer Mischung aus kriminellen Beweggründen und anti-chinesischem Ressentiment.

Gegen ihre Einsamkeit und die Vorurteile, die einen Teil der Anti-Rassismus-Szene eher zum Wegschauen veranlassen, versuchten fünfzehn Lokalpolitiker „asiatischer Abstammung“ anzuschreiben. Sie veröffentlichten im populären Wochenblatt „Journal du Dimanche“ einen Aufruf gegen den „Anti-asiatischen Rassismus“. Darin heißt es: „Zhang Schaolin starb, weil er Chinese war. Er wurde zum Opfer des Vorurteils, wonach Chinesen viel Bargeld bei sich hätten. Genau wie Ilan Halimi starb, weil er Jude war. Weil die Familie eines Juden notwendigerweise reich wäre und das geforderte Lösegeld zahlen würden können“.

Ilan Halimi, ein 23 jähriger, jüdischer Angestellter eines kleinen Pariser Telefonladens, wurde in Frankreich zum ersten Opfer des neu erwachten und muslimisch beeinflussten Judenhass. Er wurde Anfang 2006 von einer Bande junger Vorstädter aus muslimischen Migrantenfamilien entführt und während seiner fast vier wöchigen Gefangenschaft im Keller eines Sozialbaus zu Tode gefoltert. Der Anführer der Bande, ein Franko-Afrikaner, der sich als radikaler, pro-arabischer Islamist präsentierte, hatte seinen Komplizen erklärt, die jüdische Familie Halimis sei selbstverständlich reich und würde daher ein hohes Lösegeldzahlen. Alle Beteiligten konnten später gefasst und vor Gericht verurteilt werden.