Grenzen-los? Deutsche in Israel und Israelis in Deutschland

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Wie nehmen Israelis in Deutschland und Deutsche in Israel die israelisch-deutschen Beziehungen und die jeweiligen Gesellschaften wahr? Was bedeutet das Leben im anderen Land für ihr eigenes Gefühl von Identität? Anita Haviv-Horiner geht diesen und anderen Fragen in Interviews mit Ausgewanderten nach…

Die Beziehungen zwischen Israel und der Bundesrepublik Deutschland haben sich seit dem „Wiedergutmachungsabkommen“ von 1952 in erstaunlicher Weise entwickelt. Heute gilt Deutschland in Israel als zweitwichtigster Partner nach den USA. Dabei haben sich die Gesellschaften in beiden Ländern dramatisch verändert; hier wie dort kann man inzwischen von Mosaikgesellschaften sprechen, in denen eindeutige Zuweisungen von nationaler Vergangenheit, ethnischer Zugehörigkeit, Religion und der Wahrnehmungen in der Bevölkerung nicht mehr verfangen.

Anita Haviv-Horiner beleuchtet diese Differenzierung der gesellschaftlichen Realitäten durch Interviews mit je acht Israelis und Deutschen, die mit sehr unterschiedlichen Biografien im jeweils anderen Land leben. Sie spiegeln die komplexen Wahrnehmungen, die das Verhältnis zwischen Israel und Deutschland heute prägen. Den historischen und sozialpsychologischen Kontext der Gespräche arbeitet der Jerusalemer Historiker Moshe Zimmermann heraus. Wolfgang Sander gibt Hinweise auf die Verwendung der Interviews in der Bildungsarbeit.

Anita Haviv-Horiner, Grenzen-los? – Deutsche in Israel und Israelis in Deutschland, Bundeszentrale für politische Bildung 2016, Schriftenreihe (Bd. 1744), 4,50 Euro zzgl. Versandkosten, Bestellen?

Grenzen-los? Persönliche Erfahrungen im deutsch-israelischen Dialog
Auszüge aus dem Vorwort von Anita Haviv-Horiner

Ich bin 1960 in Wien als Tochter von Holocaustüberlebenden zur Welt gekommen. Obwohl Österreich sich auch aktiv an der Judenvernichtung beteiligt hatte, assoziierte ich in meiner Jugend in erster Linie Deutschland mit dem Massenmord, der die großen Familien meiner Eltern fast ganz ausgelöscht hatte. So kam es, dass ich, solange ich in Wien lebte, Deutschland nie besuchte.
Während meiner Schulzeit wurde mir die Mitschuld meines Heimatlandes an der Schoah immer klarer. Diese Erkenntnis veranlasste mich, Österreich 1979 zu verlassen. Ich wanderte in Israel ein. Das war für mich persönlich die logische Konsequenz aus dem Schicksal meiner Eltern.

So wohl ich mich in Wien bis heute fühle, habe ich die Stadt verlassen, da ich nicht in demselben Land leben wollte, in dem mein Vater 15 Jahre vor meiner Geburt aus dem Konzentrationslager Mauthausen befreit worden ist. Dazu stehe ich auch heute.

Israel ist das Land, das mir ein Zuhause gegeben hat, nachdem meine Familie in jeder Generation aus ihrem jeweiligen Herkunftsland in Europa vertrieben worden ist.

Paradoxerweise bin ich erst in der neuen Heimat zum ersten Mal Deutschen begegnet. Meinen beruflichen Werdegang begann ich im Museum der Jüdischen Diaspora. Dort moderierte ich Workshops für deutsche Jugendliche und Erwachsene. Bis heute erinnere ich mich daran, wie sehr mich ihre Sprachfärbung befremdete. Immer wieder fiel mir das in Wien so oft gehörte Wort »Piefke« ein, eine in Österreich umgangssprachlich verwendete, meist abwertend gemeinte Bezeichnung für Deutsche. Als ich überlegte, warum ich diese reflexartige Assoziation hatte, wurde mir bewusst, dass ich den Klang mit Nazideutschland assoziierte. »Wohin auch immer das israelische Auge blickt, sieht es die Schatten der Nazis«, schreibt Gad Yair in seinem auf Hebräisch erschienenen Buch »Die Deutschen – ein israelisches Porträt«.

Mit der Zeit erkannte ich, wie irrational meine Reaktionen waren, und beschloss, mich nicht länger von ihnen leiten zu lassen. Ich traf mithin die bewusste Entscheidung, und eine solche war es, offen auf die Deutschen, denen ich begegnete, zuzugehen. Meine neu gewonnene Identität als Israelin ermöglichte es mir, diesen Schritt auch umzusetzen, und verhalf mir zu einem freieren und normalen Umgang mit ihnen.

Diese Annäherung gestalte sich allerdings als ein langsamer, nachgerade sehr langsamer Prozess. »[…] in jeder Geschichte, so persönlich sie auch sein mag, [steckt] die blutige Vergangenheit, jenes schreckliche Loch, in das man unvermeidlich hineinblicken, jedoch nicht unbedingt hineinfallen muss«, schreiben Norbert Kron und Amichai Shalev. Damit beschreiben sie auch treffend den Wandlungsprozess, den ich selbst durchgemacht habe.

Als ich Deutschland 1990 zum ersten Mal als Mitglied einer israelischen Delegation des Bildungsministeriums besuchte, war ich überrascht, wie vertraut es mir war.

Ein Jahr später moderierte ich zusammen mit der inspirierenden und leider viel zu früh verstorbenen Pädagogin Ursula Pfender (1950-2009) einen Workshop in Berlin. Dort hörte ich die Lebensgeschichten der Teilnehmenden, ihre Auseinandersetzung mit der Geschichte ihrer Familie. Besonders bewegte mich die Erzählung einer jungen Frau, die den Kontakt zu ihrem geliebten Vater völlig abgebrochen hatte, nachdem sie aus der Zeitung über seine Nazivergangenheit erfahren hatte. Da ich auch eine sehr innige Beziehung zu meinem Vater hatte, konnte ich ihren Schmerz gut nachvollziehen. Allerdings war meine eigene Öffnung nicht nur von positiven Erfahrungen, sondern auch von verletzenden Begegnungen geprägt.

Diese standen immer in direktem Bezug zum Nahostkonflikt. Es ist in meinen Augen vollkommen legitim, dass Deutsche die Politik Israels kritisieren, vorausgesetzt, dass diese auf einer fundierten und multiperspektivischen Auseinandersetzung mit der Realität, der ich mich stellen muss, beruht. Allerdings habe ich des Öfteren den Eindruck, dass dies nicht immer der Fall ist, sondern viel eher die Sehnsucht nach dem berüchtigten Schlussstrich hinter der harschen und Zusammenhänge ignorierenden Verurteilung Israels steht. Esther Schapira beschreibt dieses Phänomen in dem Buch »Israel ist an allem schuld« mit folgenden Worten: »Menschen, die weder über militärisches Wissen noch über existenzielle Erfahrungen verfügten, in denen ein solches Wissen nötig war, wussten ganz genau, das alles, was Israel tat, falsch und unverhältnismäßig war.« (Hafner/Schapira 2015)

Diesen Eindruck habe auch ich öfter in Diskussionen mit deutschen Multiplikatorinnen und Multiplikatoren gewonnen. Deshalb habe ich lange gezögert, meine Kritik an der israelischen Regierungspolitik der letzten Jahre auf Deutsch öffentlich auszusprechen, denn ich hegte die Befürchtung, vereinnahmt zu werden.

Doch heute sehe ich meine Vorträge und Workshops über die israelische Realität so, wie ich sie wahrnehme als Chance. Denn sie ermöglichen es mir, den deutschen Zuhörenden zu vermitteln, dass die Realität wesentlich komplexer ist, als der Blick von außen sie zumeist wahrnimmt. Das bedeutet keineswegs, problematische und beunruhigende Entwicklungen wie die Auswirkungen der Besatzungspolitik auf die palästinensische und auch die israelische Gesellschaft schönzureden. Es geht mir darum, zu erklären, warum Israelis – übrigens zu Recht – Angst haben.

Islamistische Organisation wie Hamas und Hisbollah bestreiten das Existenzrecht meines Landes. Angst ist ein miserabler Ratgeber, insbesondere, wenn sie von vielen Entscheidungsträgern Israels systematisch geschürt wird. Das beweist in meinem Augen der Rechtsruck der israelischen Gesellschaft. Doch entsteht diese beunruhigende Entwicklung vor dem Hintergrund existenzieller Gefahren, die Deutsche seit 1945 zu wenig kennen, um ihre emotionale Tragweite erfassen zu können.

So kommt es in meinem Innern zu einem Wechselspiel zwischen Erweiterung und Verengung von Grenzen, das mein Engagement für die israelische-deutsche Verständigung auch heute noch prägt. Denn ich kann und will mein berufliches Engagement nicht von meiner Familiengeschichte trennen. Im Grunde genommen ist sie der Motor, der hinter vielen meiner Projekte der politischen Bildung steht. Durch den Austausch lerne ich, meine eigenen Vorbehalte kritisch unter die Lupe zu nehmen, doch impliziert diese Aussage keineswegs, dass meine inneren Grenzen ganz gefallen sind. Es gibt immer wieder Rückschläge, die von mir intensive Arbeit erfordern, um diese wieder Stein für Stein abzubauen.

So bildet das Bekenntnis zur Existenz sich konstant wandelnder Grenzen die Grundlage für meine Arbeit; ich sehe es als die Voraussetzung für eine konstruktive und ehrliche Kommunikation auf Augenhöhe.

Anita Haviv-Horiner, Grenzen-los? – Deutsche in Israel und Israelis in Deutschland, Bundeszentrale für politische Bildung 2016, Schriftenreihe (Bd. 1744), 4,50 Euro zzgl. Versandkosten, Bestellen?

Lesetermine:
5.9.: VHS Aachen
6.9.: Mahn- und Gedenkstaette Dortmund
7.9.: Jüdisches Museum Westfalen, Dorsten
8.9.: Villa Merlaender, Krefeld
9.9.: Gedenkstätte Bonn