500 Jahre Ghetto von Venedig

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„Chatzer“, Einzäunung, nannten die venezianischen Juden ihr Ghetto, das erste der Geschichte, das vor 500 Jahren, am 29. März 1516 gegründet wurde. Die Bezeichnung „Ghetto“ findet ihren Ursprung in der Aussprache des Wortes  „Geto“ seiner allerersten Bewohner, Ashkenazim aus dem deutschsprachigen Raum. Geto (Guß), das für eine ehemalige Gießerei  steht, die sich im so genannten Ghetto Novo befand. Ein Gebiet am Stadtrand mit dicht übereinander gestapelten Wohnungen, die mit dem Edikt vom Dogen Ludovico Dolfin den Juden zu drei Mal so hohen Mietpreisen zugewiesen wurden. Eine heute noch abgesonderte Ecke Venedigs jenseits stets wachsender Touristenströme, die sich – etwas versteckt – dem Besucher wie eine Oase der Ruhe entgegen öffnet…

Von Anna Zanco-Prestel

Für Rainer Maria Rilke, der ihm eine herrliche „Szene“ aus seinen „Geschichten vom Lieben Gott“ widmete, galt das Ghetto  mit seinen in die Höhe schießenden Bauten als ein Ort der Spiritualität, was es auch dank eines sich dort abspielenden regen geistig-religiösen Austausches  mit  herausragenden jüdischen Gelehrten wie dem Humanisten Leone da Modena oder Rabbi Shemuel Aboàf gewesen war.

Während der „Serenissima“ lebten im Ghetto  – wie der Präsident des Jewish World Congress Rolando Lauder  im Laufe der offiziellen Gedenkveranstaltung im Teatro la Fenice sagte – etwa 5000 Juden  auf engstem Raum eingepfercht und nächtlich von Wächtern bewacht, für deren von der Republik erzwungene  Bezahlung sie selbst aufkommen mussten.

venedigVenedig war aber auch der erste Ort auf der Welt, der Juden erlaubte, sich auf städtischem Boden anzusiedeln. Die Tore, die am Abend  geschlossen wurden,  grenzten sie aus und boten ihnen zugleich Schutz vor Übergriffen.  Ein Leben unter widrigen Umständen, dem die Juden durch ein Übermaß an Erfindungsgeist und Kreativität zu trotzen lernten. Ein kreativer Elan, der sich in einer schätzenswerten literarischen Produktion, nicht zuletzt auch in der Errichtung von fünf prächtigen Synagogen materialisierte, eine davon  von Baldassarre Longhena , dem Erbauer der“ Chiesa della Salute“, restauriert.

Neben dem florierenden Handel  mit Lumpen,  später mit edlen Kleidungsstücken, war die hebräische Kunstbuchdruckerei  eine der durch Juden verrichteten Aktivitäten, die den Ruhm vom  Ghetto von Venedig begründeten. Dort wurden der erste Talmud und auch der erste Koran gedruckt, die nun  – dank dem Orientalisten und Sammler Johann Albrecht von Widmannstetter –  zu den wertvollsten Schätzen der Bayerischen Staatsbibliothek in München zählen. Juden unterschiedlicher Herkunft  lebten im Ghetto friedlich nebeneinander. Deutsche, italienische, spanische, orientalische Juden, die mit Venezianern und  Fremden – darunter Griechen, Türken, Armeniern –  zusammentrafen. Deshalb kann es – in den Worten des Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Venedig Paolo Gnignati   – als Modell für eine neue Art  weltoffenen, toleranten  Zusammenlebens im Spiegel der neuen Migrationsflüsse dienen.

Das Ghetto an sich  ann aber selbstverständlich nicht  als „positives Beispiel“ betrachtet werden,  denn es steht an erster Stelle als Synonym für Trennung und Ausgrenzung. Es behält dennoch im Kollektivgedächtnis seine wegweisende Funktion als Schnittpunkt für Menschen unterschiedlicher Herkunft, Erfahrung und Glauben, als Kreuzweg der Kulturen schlichtweg.

Heute leben kaum noch Juden im venezianischen Ghetto, das in den letzten Jahren durch die Etablierung von zwei  koscheren Restaurants und  kleinen Läden revitalisiert wurde. Das kleine jüdische Museum mit  Bibliothek und Buchhandlung wird derzeit restauriert und erweitert. In Venedig selbst leben nicht mehr als 400 Menschen jüdischer Erfahrung überall verstreut.

Überschattet  war die Gedenkveranstaltung vor Vertretern der höchsten staatlichen und religiösen Institutionen und prominenten ausländischen Gästen durch die jüngsten Attentate in Pakistan und im Herzen Europas, die in Venedig noch nie gesehene Vorkehrungen durch italienische und israelische Sicherheitskräfte erforderten. Höhepunkt war die Aufführung von Mahlers „Titan“ mit Omer Meier Wellberg auf dem Dirigentenpult.  Vorausgegangen war im überfüllten Vortragssaal vom „Ateneo Veneto“ die Präsentation des beim Verlag  Bollati-Boringhieri erschienenen Bandes „ Venezia e il Ghetto“  von Donatella Calabi, die die Ausstellung „Venedig, die Juden und Europa“  (19.06.- 13.11.2016) im Dogenpalast kuratiert.  Die Universität Ca‘ Foscari beteiligte sich dazu mit der  Podiumsdiskussion „Rewriting the Ghetto von Venice for the 21. Century “ im Auditorum Santa Margherita im Rahmen der zehnten Edition der Reihe “Incontri di Civiltà – Festival Internazionale di Letteratura  a Venezia”. Auf dem Podium der in Tel Aviv geborene Wiener Autor Doron Rabinovici und der auch sehr bekannte australische Romancier und Menschenrechtsaktivist Arnold Zable, Graziano Graziani (Rai Radio 3) und für die Universität Ca’Foscari  Stefania Sbarra und Shaul Bassi, der auch das Venetian Centre for International Jewish Studies BEIT VENEZIA vertritt.

Die Erinnerung an die Errichtung vom Ghetto, die zunächst lokale Bedeutung hätte haben sollen, hat inzwischen ein  Ausmaß erreicht, das über die Stadtgrenzen hinausgeht. Ein umfangreiches internationales  Veranstaltungsprogramm begleitet  die Besucher über das ganze Jahr u.a. mit der erstmaligen Inszenierung  von Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ auf dem Campo del Ghetto vom 26. bis 31.07.2016, einem Symposium über das“ Hebräische Buch“  am 28.07. 2016 in der Biblioteca Marciana in Zusammenarbeit  mit der National Library of Israel und einer Tagung am 12. u. 13. 12.2016 über „Jüdische Musik“ im 19.Jht. bei der Stiftung Olga Levi.

Mehr unter:  www.veniceghetto500.org