Die Befreiung der Lager

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Ein neues Überblickswerk beleuchtet die unmittelbare Nachkriegszeit…

„Das ist das beste Buch über die Befreiung der Juden aus den Nazi-Camps“, schreibt der in London lehrende deutsche Historiker Nikolaus Wachmann über das Werk seines Kollegen Dan Stone „The Liberation of the Camps. The End of the Holocaust and its Aftermath“. Saul Friedländer ist ebenfalls voll des Lobes: „Eindrucksvoll im Hinblick auf die Fülle der Quellen“, ist auf dem Buchdeckel der Studie zu lesen, „sie wird für Jahre eine Empfehlung bleiben.“ Auch Geoff Eley wünscht „The Liberation of the Camps“, dass es zum „wichtigsten und weitverbreitetsten Buch zu diesem Thema“ werde.

Früher kam die Fachliteratur ohne diese an Peinlichkeit grenzenden Lobhudeleien aus. Doch der Konkurrenzkampf wird immer schärfer – auch auf dem Markt der wissenschaftlichen Publikationen. Die Sitte, befreundete Kollegen um einen kleinen Gefallen zu bitten, mit dem Angebot verbunden, sich gelegentlich zu revanchieren, ist im englischen Sprachraum weit verbreitet. Und wer keine prominenten Fürsprecher kennt, für den gibt es zumindest in den USA mittlerweile eine Agentur, die sich um knackige und teils fantasievolle Huldigungen kümmert.

Doch hat Dan Stone, Professor für moderne Geschichte an der Royal Holloway University of London, so etwas wirklich nötig? Sein gut lesbares Buch, dieses Urteil sei vorausgeschickt, ist ein idealer Einstieg insbesondere für geschichtlich Interessierte außerhalb der wissenschaftlichen Elfenbeintürme sowie Schüler und Studenten. In fünf Kapiteln beschreibt er kompetent die Befreiung der NS-Lager und die unmittelbare Zeit danach. Im Vorwort weist der Autor daraufhin, dass sein Buch „weitgehend auf Zeitzeugenerinnerungen basiert, Interviews oder Niederschriften, von denen eine Vielzahl überliefert ist“. Dabei bedient Stone sich neben gedruckten Augenzeugenberichten und Memoiren auch packender Online-Ressourcen, wie etwa das auf dem Webportal des „Illinois Institute of Technology“ zu hörende Interview mit dem Direktor der ORT-Berufsschulen aus dem Jahre 1946: Jakob Oleiski beschreibt eindrücklich die Lage der bis zu 200.000 in Deutschland lebenden jüdischen Displaced Persons (DP), die in zahlreichen Camps mitten im „Land der Täter“ auf ihre Auswanderung nach Israel oder Übersee warteten. Die Verfolgung der Juden und ihre verzweifelten Erfahrungen nach der Befreiung stehen im Fokus des Buches. Obwohl Stone auch das Leid der nichtjüdischen Überlebenden thematisiert, vergisst er nicht darauf hinzuweisen, dass sich das Schicksal der Juden deutlich „von den anderen DPs unterschied“.

Die Befreiung der Lager thematisiert der Autor in zwei separaten Kapiteln. Zunächst beschreibt er die Situation im Osten, bei der die Angehörigen der Sowjetarmee nicht nur mit den Gräueltaten in den Todesfabriken konfrontiert waren, sondern vereinzelt auch Überlebende in den Städten und Ghettos des klassischen jüdischen Siedlungsgebiets antrafen, wie etwa Solomon Shapira aus Czernowitz: „Eine Marschkolonne mit vielen jüdischen Soldaten näherte sich uns“, gab er zu Protokoll. „Sie liefen auf uns zu, küssten und umarmten uns und erzählten, dass wir die ersten lebenden Juden wären, die sie auf ihrem Weg von Stalingrad hierher angetroffen hätten.“

Auch die Zeugnisse von Soldaten der westlichen Alliierten über die Befreiung von Dachau, Buchenwald oder Bergen-Belsen sind expressiv und erinnern an die von Hieronymus Bosch entworfenen Höllenvisionen: „Massen von Leichenhaufen, nackt und obszön. Davor eine Frau, sie ist zu schwach, um zu stehen, angelehnt an den Leichenberg kocht sie ihr Essen an einem offenen Feuer“.

Die beiden nachfolgenden Kapitel beleuchten den Übergang von den Konzentrationslagern hin zu den Displaced Persons Camps und deren Auflösung. Anfänglich waren die Menschen zwar befreit, doch der Tod war immer noch präsent: „Wir haben das Lachen verlernt, wir können nicht mehr weinen, wir begreifen unsere Freiheit noch nicht, weil wir immer noch unter unseren toten Kameraden weilen“, erklärte der aus Kowno stammende Arzt Zalman Grinberg.

Weiterhin wirft Dan Stone die Frage auf, ob die Überlebenden nun als „Displaced“ oder „Betrayed Persons“ zu begreifen seien. Die beiden Motive „entwurzelt“ oder „betrogen“ werden anhand der Lagerwirklichkeit, insbesondere in den jüdischen Camps, untersucht. Dabei wird das vielfältige Leben, mit weitgehender Selbstverwaltung, Schulen, sozialen, kulturellen und politischen Organisationen, Sportvereinen sowie zahlreichen Zeitungen aufgeblättert. Auch lange ungeklärte Zukunftsfragen spricht der Autor an, wobei eine Immigration nach Erez Israel für viele DPs die einzige Wahl war, wie die Aussage eines 16-jährigen Mädchen dokumentiert: „In Amerika werden wir uns vielleicht für ein, zwei, zehn Jahre wohlfühlen; doch zum Schluss wird es wie immer sein – wir werden vertrieben. Ich habe in Auschwitz eine Menge gelernt. Solange wir keine nationale Heimstatt haben, werden wir als Nation untergehen. Ich bin zwar jung an Jahren, doch alt hinsichtlich meiner Erfahrungen“.

Dan Stone legt eine quellengesättigte Arbeit vor. Akribisch wertet er die Sekundärliteratur aus und ein großer Pluspunkt: Er nimmt sogar etliche der auf Deutsch verfassten Publikationen zur Kenntnis. Das ist leider bei den Kollegen aus dem englischen Sprachraum oft nicht der Fall. Allerdings wäre es wünschenswert, Stone hätte auch die einschlägigen Standardwerke zur DP-Literatur von Wolfgang Jacobmeyer (1985), Juliane Wetzel (1987), Jacqueline Giere (1993), und Angelika Eder (1998) konsultiert – und nicht nur auf Auszüge ihrer Studien verwiesen – sowie die umfassenden Bestände aus dem YIVO-Institute, des Archivs des American Jewish Joint Distribution Committee oder des UN-Archivs eingesehen. Dabei wäre er sicher über das ein oder andere aufschlussreiche und unbekannte Dokument gestolpert. So ist so manches Altbekannte mit dem Vermerk „zitiert nach“ zu lesen. Denn Stone hat eine Menge Literatur im Anhang aufgeführt – weit über 500 Bücher und Artikel! Darunter fünf Aufsätze der australischen Historikerin Suzanne Rutland zum Thema „Jüdische DPs in Australien“. Doch lediglich eine Erwähnung („immigrated to Australia 17.000“) findet sich dazu in seinem Buch. Auch im Index sucht man das Stichwort „Australia“ vergeblich. Da drängt sich die Frage auf, ob der Autor wirklich alle Publikationen gelesen hat oder über eifrige und hilfreiche studentische Hilfskräfte verfügte?

CoverFazit: In wissenschaftlicher Hinsicht bringt Dan Stones „Liberation of the Camps“ kaum neue Erkenntnisse. Als solides Überblickswerk ist es jedoch zu empfehlen. – (jgt)

Dan Stone, The Liberation of the Camps. The End of the Holocaust and its Aftermath, New Haven/London 2015, 277 Seiten, 32,50 $.

Bild oben: Häftlinge aus dem KZ Dachau/Allach begrüßen die US Truppen. Foto: US National Archives and Records Administration (Public Domain)

Die Rezension erschien zuerst in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 2/2016.