Jahre der Ungewissheit

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David Jüngers Studien nimmt die Emigrationspläne deutscher Juden zwischen 1933 und 1938 in den Blick. Er skizziert dabei das Denken und Handeln von Jüdinnen und Judenals eine Geschichte des Auswanderns, des Bleibens und zum Teil der Rückkehr ins nationalsozialistische Deutschland…

Eine Rezension von Jakob Stürmann

Aus der Perspektive der jüdischen Bevölkerung stellt er die ersten sechs Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft ohne Bezugnahme auf den kurze Zeit später folgenden Zivilisationsbruch der Shoa dar. Mit der Fokussierung auf diese Zeitspanne wählt Jünger eine in der aktuellen Forschung ungewöhnliche Perspektive, befassten sich die meisten Forschungsprojekte zum deutschen Judentum der letzten Jahre entweder mit der Zeit der Weimarer Republik oder der Judenvernichtung nach 1938. Jünger ist mit dieser zeitlichen Fokusverschiebung in eine neue Generation von Historikerinnen und Historiker einzuordnen, die nach Kontinuitäten und Brüchen zwischen dem Ende der Weimarer Republik und der Machtergreifung der Nationalsozialisten fragen.[1] Den gewählten Betrachtungszeitraum bezeichnet er in seiner als Publikation vorliegenden Dissertation als „Politik der Entrechtung“ und grenzt ihn von der 1938 beginnenden „Politik der Vertreibung“ (S. 24) ab. Die quantitativen Zahlen, hinter denen jeweils individuelle Schicksale stehen, bezeugen die Relevanz der Studie: Bis 1938 emigrierten ungefähr 150.000 der 550.000 im Jahr 1933 in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden, ein Großteil verblieb demnach trotz nationalsozialistischer Machtübernahme in Deutschland. (S. 13) Der Frage nach der Entscheidungsgrundlage für oder gegen eine Emigration geht Jünger in seiner Forschung nach.

Die Arbeit ist in drei Hauptkapitel unterteilt, in denen jeweils zwei Jahre als gemeinsamer Zeitabschnitt betrachtet werden. Der quantitative Schwerpunkt liegt hierbei auf den ersten beiden Kapiteln, die die Entwicklung der Jahre 1933 bis 1936 beschreiben. Betrachtet wird die Debatte um Emigration deutscher Jüdinnen und Juden auf vier Ebenen: den öffentlichen Debatten in Zeitungen und anderen Publikationen, den institutionellen Planungen durch jüdische Hilfsvereine, den Verhandlungsbemühungen zwischen jüdischen Institutionen und Einzelpersonen mit deutschen Behörden, sowie durch die Betrachtung individueller Lebensplanungen, die aus Tagebüchern oder anderen zeitgenössischen Notizen rekonstruiert werden konnten. (S. 15f.) Umrahmt wird die Analyse durch die Beschreibung der politischen Ereignisse auf nationaler und internationaler Ebene.

Im ersten Hauptkapitel zeigt Jünger, dass ein Großteil der deutschen Jüdinnen und Juden den 30. Januar 1933 nicht als eine epochale politische Veränderung des Lebens in Deutschland wahrnahmen. Die nationalsozialistische Machtergreifung wurde von ihnen vielmehr als eine in verschärfter Form auftretende Kontinuitätslinie einer Krise der jüdischen Emanzipation in Deutschland eingeschätzt, die in der Endphase der Weimarer Republik begann. (S. 115) Unterschiedliche jüdische Organisationen und Repräsentanten bemühten sich von Beginn an trotz aggressiver antisemitischer Rhetorik um „Möglichkeiten einer realpolitischen Verständigung“ (S. 143) mit den nationalsozialistischen Staatsstrukturen. Liberale, zionistische und orthodoxe Organisationen versuchten durch Korrespondenz und persönliche Beziehungen einen Kommunikationsweg zu staatlichen Stellen zu finden, um gesetzliche Regelungen in Bezug auf den Umgang mit Jüdinnen und Juden in Deutschland festzuschreiben. Jünger sieht diese Entwicklung im Erfahrungsraum des damaligen jüdischen Lebens begründet, der sich aus den Lebenswelten der vergangenen Jahrhunderte, der „historisch verbürgte[n] Annahme einer Ungleichzeitigkeit von antisemitischer Propaganda und konstruktiver Realpolitik“ (ebd.) und aus der Situation der jüdischen Bevölkerung in Mittelosteuropa seit Ende des 19. Jahrhunderts ergab. Im Gebiet des Russischen Zarenreichs war für die seit den 1880er Jahren durch Pogrome immer wieder bedrohte Judenheit eine dreifache Lösungsstrategie entwickelt worden: materielle Existenzhilfe, diplomatischer Druck sowie Wohlfahrts- und Emigrationshilfe. (S. 323) Auch in Deutschland wurde versucht, ähnliche Strategien gegen die antijüdische Politik und antisemitische Ausschreitungen zu etablieren. Emigration wurde aus dem zeitgenössischen Erfahrungsraum heraus jedoch zunächst nicht als Lösung sondern vielmehr als Niederlage gegenüber der Straßengewalt und dem Nationalsozialismus wahrgenommen. (S. 20)

Im zweiten Hauptkapitel stellt Jünger das Jahr 1935 als ein für die deutsche Judenheit sehr widersprüchliches Jahr dar. Einer zunehmenden offenen judenfeindlichen Gewalt und Propaganda auf den Straßen stand das Eingreifen gegen rechtlose Gewalt durch einige staatliche Stellen gegenüber, die zu dieser Zeit noch personelle Kontinuitäten aus der Weimarer Republik aufwiesen. (S. 201) Teile der deutsch-jüdischen Bevölkerung sahen daher die Nürnberger Gesetze als eine gesetzliche Festschreibung des Status quo und damit als einen Moment der Beruhigung der politischen Lage. Jünger stellt heraus, dass für viele zeitgenössische Jüdinnen und Juden die Gesetze „in der alltäglichen Lebenswelt […] eine viel geringere Bedeutung besaßen, als gemeinhin angenommen wird.“ (S. 224) Nichtsdestotrotz sei ihnen bewusst gewesen, dass die Zeit der jüdischen Emanzipation durch diese Gesetzgebung endgültig beendet wurde. Das darauffolgende Jahr 1936 charakterisiert Jünger als eine Phase der vordergründig existierenden „relativen Ruhe“ (S. 232), in der sich die deutsche Judenheit „in eine[r] Art Dämmerzustand“ (S. 238) befand. Die Trennung zwischen jüdischer und nicht-jüdischer Wirtschaft und Lebenswelt schritt dennoch weiter voran.

Der zweite Teil des zweiten Hauptkapitels beleuchtet größere Emigrationspläne in Bezug auf die deutsche Judenheit, die vor allen Dingen an zwei wesentlichen Aspekten scheiterten. Zum einen entwickelte sich in dieser Zeit eine komplizierte internationale Situation; neben Deutschland verschlechterte sich im Besonderen auch im mittelosteuropäischen Europa die Lage der jüdischen Bevölkerung. (S. 294f.) Die deutsch-jüdische Feststellung, dass Auswanderung im größeren und internationalen Maße geplant werden müsste, ging international mit der Wahrnehmung einher, dass Emigrationspläne nicht auf einzelne Länder beschränkt werden könnten. Zum anderen verfügten jüdische Organisationen schlichtweg über eingeschränkte politische Handlungsmöglichkeiten.

Im dritten Kapitel des Hauptteils betont Jünger, dass individuelle Emigrationsentscheidungen immer „Resultat eines komplexen, individuellen Prozesses“ (S. 333) waren, die sich kaum verallgemeinern lassen. Konnten sich viele Jüdinnen und Juden bis 1937 nicht zum Verlassen der Heimat entschließen, war es nun oftmals zu spät. Jünger begreift 1937 hierbei als Wendejahr, da der Sicherheitsdienst in der SS und die Gestapo nun die vollständige Kontrolle über die antijüdische Politik in Deutschland übernahmen und die bis dato zum Teil noch existierenden Doppelstrukturen in politischen Bereichen ausgeschaltet wurden. Auch anhand von jüdischen Emigrationsplänen lässt sich dieser Wendepunkt aufzeigen. Ein Beispiel sind die Pläne des Industriellen Max Warburg, der bis 1936 versuchte, gesetzliche Regelungen für die deutsch-jüdische Bevölkerung festschreiben zu lassen. Ab 1937 bemühte er sich ausschließlich um die jüdische Auswanderung aus Deutschland. Die diesbezügliche Gesamtplanung wurde ab Ende 1937 der ‚Zentralstelle für die jüdische Auswanderung‘ übertragen, die unter der Leitung der Reichsvertretung der Juden in Deutschland agierte. Im Jahr 1937 konnten noch 23.000 Jüdinnen und Juden emigrieren; in der ersten Hälfte des Jahres 1938 waren es 14.000. (S. 356ff.)

Jünger gelingt es in seiner Forschungsarbeit, die widersprüchliche Entwicklung einer „unumkehrbaren Zäsur“ (S. 376f.) mit langsamen voranschreitenden realpolitischen Entwicklungen innerhalb Deutschlands in den 1930er Jahre nachzuzeichnen und hierin die Wahrnehmungen und Entscheidungsprozesse der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden zu verorten. Fragen nach Emigration waren bis 1938 nicht einfach nur Entscheidungen zwischen einem Bleiben oder Gehen, sondern „Gehen und Bleiben [waren] aufeinander bezogene komplementäre Entscheidungen, die sich nicht diametral ausschlossen.“ (S. 391) Beispielhaft steht hierfür die zionistische Politik der Zeit in Deutschland, die einen Ausgleich zwischen den Interessen des Mandatsgebietes Palästina und der deutschen Judenheit suchte. Kritik ist an Jüngers verengtem Begriff der in Deutschland lebenden Judenheit zu üben. So finden die aus Osteuropa stammende Jüdinnen und Juden in seiner Forschung „kaum Beachtung“ (S. 17), obwohl diese 1933 fast 20% der jüdischen Bevölkerung Deutschlands ausmachten. Irreführend ist hierbei seine Anmerkung, dass diese „keine eigenen politischen Organisationen [gründeten] und […] keine eigenen Zeitungen heraus[gaben]“. (S. 17) Eines von vielen Gegenbeispielen hierfür war die aus Russland stammende Organisation ORT. Gesellschaft zur Förderung des Handwerks und der Landwirtschaft unter den Juden, Abteilung Deutschland, die von 1921 bis 1943 in Berlin existierte.[2] Ebenso betrachtet Jünger die „erste große ‚jüdische‘ Fluchtwelle“ aus dem Jahre 1933 nicht als jüdische, sondern als rein politische Fluchtbewegung. (S. 116, ebenso S. 383) Diese dichotome Wahrnehmung zwischen Judentum und politischer Linken der Zeit erstaunt besonders aufgrund seines differenzierten Blickes auf die von ihm herausgearbeitete bisherige Verengung im Emigrationsdiskurs um Gehen und Bleiben. Jünger wirft in seiner Schlussbetrachtung selbst die komplexen „Fragen jüdischen Seins in der Moderne“ (S. 397) auf, dessen individueller Ausdruck für einige Jüdinnen und Juden in der Teilnahme an politisch linken Bewegungen lag.[3]

Besonders beeindruckend ist der von Jünger gewählte graphische Einstieg in das Thema durch die Karte „Jutopia. H.-V. Kolone. nach neuesten Forschungen gezeichnet„. (S. 9) Die darauf abgebildete fiktive Inselkolonie wird Arthur Prinz, einem langjährigen Vorstandsmitglied des Hilfsvereins der deutschen Juden, im März 1939 vor seiner Auswanderung nach Palästina überreicht. Die Karte, deren Bestandteile in der Einleitung des Buches detailliert erklärt werden, verbindet eine Lebensutopie mit Erinnerungen an Kolleginnen und Kollegen aus dem Hilfsverein sowie wichtigen Orten und Ereignissen des Zionismus. Die konsequente Beschreibung zeitgenössischer Entscheidungen aus damaligen Erfahrungsräumen heraus markiert eine weitere Stärke des Buches, die heutige Leserinnen und Leser jedoch oft irritiert zurück lässt. Besonders die Beispiele von im Exil wirtschaftlich gescheiterten und dann zurückkehrenden Jüdinnen und Juden ins nationalsozialistische Deutschland erscheinen mit heutigem Wissen über die kurze Zeit später folgende nationalsozialistische Vernichtungspolitik kaum vorstellbar. (S. 95ff.) Ebenso ist die Frage, in welchen Fällen Emigration eine tatsächliche Rettung vor der Shoa darstellte und in welchen Fällen nicht, bei der Lektüre eine Allgegenwärtige. Sie muss jedoch aufgrund der Fragestellung des Buches in den meisten Fällen unbeantwortet bleiben.

David Jünger: Jahre der Ungewissheit. Emigrationspläne deutscher Juden 1933–1938. (Schriften des Simon-Dubnow-Instituts Bd. 24), Vandenhoeck & Ruprecht 2016, 440 S., Bestellen? Als Ebook bestellen?

LESEPROBE

[1] Vgl. hierfür: McElligott, Anthony: Rethinking the Weimar Republic. Authority and Authoritarianism, 1916-1936, London, New Dehli, New York, Sydney: Bloomsbury 2014.

[2] Vgl. Ivanov, Alexander: „Nähmaschinen und Brillantringe – Die Tätigkeit der Berliner ORT 1920-1943“, in: Dohrn, Verena/ Pickhan, Gertrud, Transit und Transformation. Osteuropäisch-jüdische Migranten in Berlin 1918-1939, Göttingen: Wallstein Verlag 2010, S. 195-209.

[3] Vgl. Kirschner, Bruno/ Kohn, Hans: Art. „Sozialismus, Anteil der Juden am“ und Tartakower, Arieh: Art. „Sozialismus, jüdischer“, in: Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden, Bd. IV/2, Berlin 1930, Sp. 513-522.