„Eine Fassade der Legalität“

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Eine neue Studien über die Rolle der Polizei und Justiz in den Ghettos…

„Die jüdische Polizei hat ein trauriges Kapitel in der Geschichte des jüdischen Volkes geschrieben, da sie das Werkzeug der herrschenden Ordnung war“, beklagte 1946 die jiddische Zeitung „Undzer Wort“. Mit Schrecken erinnerten sich viele Shoa-Überlebende noch an die verhängnisvolle Rolle der Ghettopolizei, die ein perfides Instrument zur Durchsetzung der deutschen Vernichtungspolitik war. Als ausführender Arm des „Judenrates“ sollten Polizeikräfte und Lagergerichte die Sicherheit und Ordnung im Ghetto gewährleisten sowie die Anordnungen der Deutschen ausführen: Neben der Bewachung und Abriegelung des „jüdischen Wohngebietes“ musste der „jüdische Ordnungsdienst“ die Menschen zur Zwangsarbeit begleiten, willkürlich auferlegte Bußzahlungen verhängen und eintreiben, vermeintliche Gesetzesverstöße ahnden sowie schließlich bei der Durchführung von Deportationen mitwirken. Hannah Arendt konstatierte deswegen in ihrem Buch „Die Banalität des Bösen“ nicht von ungefähr, dass die Rolle der jüdischen „Ordnungsdienste“ bei der Vernichtung der Juden das „dunkelste Kapitel in der ganzen dunklen Geschichte“ gewesen sei.

In ihrem mit dem „Immanuel-Kant-Forschungspreis“ ausgezeichneten Buch „Tanz auf Messers Schneide“ untersucht die junge Historikerin Svenja Bethke das Verhalten und die Bedeutung von Judikative und Exekutive in den Ghettos von Warschau, Litzmannstadt und Wilna, die angesichts der nationalsozialistischen Mordpläne den bis dahin bekannten menschlichen Vorstellungen widersprachen. Wie in allen diesen Zwangsgemeinschaften mussten die „Judenräte“ und ihre Organe die Definitionen von Recht und Ordnung der Nationalsozialisten durchsetzen, die der Auffassung waren, „dass Juden schon als Kriminelle geboren wurden“.

Im Mittelpunkt ihren Quellen stehen dabei u. a. jüdische Dokumente, die der Nachwelt erhalten blieben, wie beispielsweise die von Herman Kruk verfasste Wilnaer Ghetto Chronik oder das Ringelblum Archiv aus dem Ghetto Warschau. „Man weiß nicht, was man darf, und meist erfährt man, dass man nichts darf“, notierte etwa ein Bewohner des Warschauer Ghettos. Gleichwohl versuchten die „Judenräte“, ihre vermeintlichen Handlungsspielräume zum Wohl der Ghettobewohner einzusetzen. Mittelst ihrer Rechtsinstanzen waren sie bestrebt, eigene Sanktionen zu verhängen, um damit das Eingreifen der Deutschen zu verhindern, deren Bestrafung für den Delinquenten oft den Tod bedeutete. Weil die „Judenräte“ davon ausgingen, dass die Arbeitsfähigkeit der Ghettobewohner und die damit verbundene Erfüllung des Pensums eine Garantie für das Überleben sein könnte, unterstützten sie auch das brutale System der Zwangsarbeit.

In einigen Ghettos versuchten der „Judenrat“ und seine Organe zudem, den jüdischen Untergrund auszuschalten, wobei einige Funktionsträger nachweislich die Widerstandsbewegung unterstützten und sogar aktiv im Untergrund tätig waren. Außerdem glaubten manche, dass durch die, freilich erzwungene, Zusammenarbeit mit den Mördern Schutz vor Deportation und eine bessere Versorgung ihrer Familien garantiert würden.

CoverSvenja Bethke stellt die große Frage, was in einer Gemeinschaft von Entrechteten gut und was böse ist? Dabei beschreibt sie sachkundig das Dilemma, in dem sich die Mitglieder der „Judenräte“ befanden, ihr unlösbares Anliegen, zumindest einen Teil der Menschen zu retten, ein Versuch, der mit rationalen Kriterien nicht zu realisieren war, denn es galt über „Belange zu urteilen in einem Raum, in dem die dort zwangsweise lebenden Individuen von der Besatzungsmacht bereits völlig entrechtet worden waren.“

Die Autorin zeichnet das multiple und komplizierte Geflecht einer Zwangsgemeinschaft nach, die ums Überleben kämpfte und trotz Hunger, Krankheit und Todesangst nicht nur Opfer, sondern auch Akteur war. Ein aufschlussreiches und interessantes Buch über ein menschenverachtendes Kapitel der jüngeren deutschen Geschichte. – (jgt)

Svenja Bethke, Tanz auf Messers Schneide. Kriminalität und Recht in den Ghettos Warschau, Litzmannstadt und Wilna, Hamburg 2015, 317 Seiten, 28,00 Euro, Bestellen?

Bild oben: Appell des jüdischen Ordnungsdienstes im Ghetto Warschau. (Foto: Bundesarchiv 101I-134-0792-27 / Knobloch, Ludwig – Wikipedia)