Zweisprachigkeit und binationale Idee

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Globalisierung und doppelter Staatsbürgerschaft zum Trotz, die Vorstellung ein Mensch sei qua Herkunft auf eine Kultur oder Nationalität festgeschrieben, scheint bei vielen Deutschen nicht aus dem Kopf zu wollen. Zu beobachten gerade wieder an den Überfremdungsängsten von Pegida und Co. Dabei ist die Idee es existiere so etwas wie eine homogene nationale Identität seit jeher ein Mythos, der eine komplexe Realität verschleiert…

Rezensiert von Albrecht Spranger

Wie uneindeutig individuelle, und das meint auch nationale, Zugehörigkeiten vielmehr stets sein konnten, zeigt ein Blick in die Geschichte – gerade in die jüdische. So waren nicht nur in jüngster Vergangenheit wenig andere Staaten mit der Integration einer solch hohen prozentualen Zahl an Migranten konfrontiert wie Israel, die alle verschiedene kulturelle Zugehörigkeiten mit in ihre neue Heimat brachten, sondern auch die jüdische Existenz vor der Staatsgründung prägten multiple und oft widersprüchliche Zugehörigkeiten, lebten Juden doch als Minderheit in einer nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft und mussten zwischen verschiedenen Zugehörigkeiten vermitteln. Dabei entschieden sich auch Zionisten, wie Historiker immer deutlicher herausarbeiten, keineswegs für eine monokulturelle national-jüdische Zugehörigkeit. Im Gegenteil fühlten viele Zionisten sich ebenso den Ländern verbunden, in denen sie lebten und versuchten dies mit einem partikularistischen Nationaljudentum zu vereinbaren.

Ein besonders eindrückliches Beispiel hierfür nahm der israelische Historiker Dimitry Shumsky mit seiner ursprünglich auf Hebräisch verfassten und 2013 ins Deutsche übertragenen Dissertation in den Blick. In seiner bahnbrechenden Studie Zweisprachigkeit und binationale Idee. Der Prager Zionismus 1900 – 1930 geht er den multikulturellen und -nationalen Zugehörigkeiten Prager Zionisten aus dem Verein Bar Kochba nach – ein 1899 gegründeter Zusammenschluss dem so berühmte Persönlichkeiten wie Franz Kafka (1883-1924) oder Max Brod (1884-1968) angehörten und dessen führende ideologische Köpfe wie Hugo Bergmann (1883-1975), Hans Kohn (1891-1971) und Robert Weltsch (1891-1982) in den 1920er Jahren eine wichtige Rolle im 1925 von Arthur Ruppin (1876-1943) gegründeten Brit Schalom spielten, der für eine binationale Lösung im jüdisch-arabischen Konflikt eintrat.

Ausgangspunkt Shumskys ist dabei zunächst eine kritische Bestandsaufnahme der bisherigen Forschung. Denn wie und ob der Binationalismus in den 1920ern mit dem Zionismus des Bar Kochba aus der Vorkriegszeit zusammenhängt, wurde bisher kaum untersucht. So hätten Forscher zwar die zentrale Rolle von Prager Zionisten im Brit Schalom bemerkt, aber bisher sei noch kein Versuch unternommen worden, ihr gesamtes zionistisches Wirken dazu in Bezug zu setzen. Stattdessen unterscheide man zwischen einem ethnisch-partikularistischen Zionismus in Böhmen vor dem Ersten Weltkrieg und einem universalistischen Binationalismus im Palästina der 1920er Jahre. Diese Trennung möchte Shumsky aufheben. In seiner Untersuchung zieht er deshalb äußerst überzeugend eine Linie vom Prager Zionismus zum späteren Engagement für die binationale Idee.

In einem ersten Schritt wendet er sich dafür zunächst dem von der Forschung bisher erstaunlicherweise vernachlässigten multikulturellen Hintergrund der Mitglieder des Bar Kochba zu und beleuchtet die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen vor denen der Verein entstand. So existierte im öffentlichen Leben des habsburgischen Böhmens eine Polarisierung zwischen deutschen und tschechischen Nationalisten, während sich zugleich auf einer Alltagsebene Tschechen, Deutsche und Juden vielfach begegneten. Die von Shumsky untersuchten Prager Zionisten bewegten sich deshalb zumeist von Kindesbeinen an in einem multinationalen Umfeld. Wie viele Prager Juden, orientierten sie sich zwar an deutscher Kultur, kamen in ihrem alltäglichen Leben aber in Schule, Universität oder Wohnumfeld vielfach mit Tschechen in Berührung. Diejenigen, deren Familien wie bei Kafka, außerdem aus ländlichen Gebieten nach Prag gezogen waren, wuchsen zudem teils mit Tschechisch als Umgangssprache auf. Eine Situation zwischen den Stühlen also, die Shumsky mit dem Begriff „tschecho-deutsche Juden“ zu fassen sucht. Die multikulturelle Erfahrung machten die Mitglieder des Bar Kochba zum Ausgangspunkt ihres Zionismus. So wollten sie sich nicht monokulturell an eine jüdische Nationalkultur binden, sondern aus dem Bewusstsein ihres partikularen Standpunktes heraus einen Dialog zwischen deutscher, tschechischer und jüdischer Kultur anstoßen. Oder anders gesagt: Es ging ihnen darum sich ausgehend von ihrer jüdischen Zugehörigkeit in einer multinationalen Umwelt neu zu verorten, ohne ihre deutsche und tschechische Zugehörigkeiten zu verneinen. Für Shumsky eine paradoxe Gleichzeitigkeit von Multikulturalität und Nationalismus, denn: „Während der tschecho-deutsche Zionismus auf der soziokulturellen Ebene innerhalb des Judeseins die Anpassung an die Nachbarkulturen propagierte, lief er Gefahr, sich auf ein national-ethnisches jüdisches Bewusstsein zu verengen.“ (126)

Forscher nahmen bisher vor allem den national-ethnischen Aspekt in den Blick, während sie den multikulturellen vernachlässigten. Begründet ist dieser Fokus nicht zuletzt im Einfluss Martin Bubers auf den Bar Kochba. Zwischen 1909 und 1910 luden die Prager Zionisten den damaligen Star der zionistischen Jugend zu den drei berühmt gewordenen Vorträgen „Reden über das Judentum“ ein. Diese gelten heute als Ausdruck einer engen Orientierung des Bar Kochba an Bubers Denken. Auf die Prager Zionisten hatten dessen Ideen unbestritten großen Einfluss. Shumsky spricht sich allerdings dagegen aus, das Verhältnis zwischen Buber und den Prager Zionisten als „Monolog in drei Akten“ zu interpretieren. (149) Er arbeitet vielmehr heraus, wie zum Teil untergründig, zum Teil aber auch offen Bedenken gegen Bubers ethnischen Nationalismus geäußert wurden. Vor allem hinsichtlich rassischen und mystischen Elementen bei Buber bestanden Differenzen und die von Bergmann als Anspruch formulierte dialogische Synthese der Nationen sei nur unter Auslassungen mit Bubers Ethnozentrik zu verbinden gewesen.

Möglich war die Verbindung Buber und Bar Kochba jedoch auch, da die Zionisten aus Prag die Multikulturalität erst nach dem Ersten Weltkrieg zur unerlässlichen ideologischen Komponente im Zionismus erhoben, während sie zuvor vor allem eine praktische Reaktion auf die Lebensumstände in Böhmen war. Bergmann, der ideologische Kopf der Gruppe, erklärte nun die bestehende kulturelle Vielfalt zum nationalen Wesensmerkmal der Juden. Die Juden hätten auf Grund dieser besonderen Eigenschaft eine Vermittlerrolle zwischen den Nationen einzunehmen, um ihre kulturelle Sendung zu erfüllen: die „Errichtung eines internationalen, grenzüberschreitenden kulturellen Netzwerkes“. (180) Während des Krieges hoffte der Bar Kochba-Kreis in diesem Sinne, dass ein neues national-jüdisches Kollektivbewusstsein in Böhmen zur Entstehung eines multinationalen Staatswesens beitragen könne. Den Juden sollten wie allen anderen Nationen nationale Autonomierechte zugestanden werden und zwar an jedem Ort an dem sie wohnten. Dass die Geschichte diese Hoffnung nicht erfüllte und sich nach dem Krieg in Osteuropa stattdessen vermeintlich homogene Nationalstaaten auf Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker entstanden, ist hinlänglich bekannt. Eine herbe Enttäuschung für die Prager Zionisten und für Shumsky quasi das Verbindungsstück zum zweiten Teil der Geschichte. Denn die neuen Umstände in Böhmen brachten die Prager Zionisten zunehmend dazu ihre Vorstellung von einem multinationalen föderativen Staatswesen auf Palästina zu übertragen. Hierin emigrierte 1920 zunächst Hugo Bergmann. Hans Kohn folgte 1925. Nachdem die Prager Zionisten zwischenzeitig auf eine Neugestaltung des türkischen Staates gehofft hatten, nahmen sie mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches verstärkt die Araber als möglichen Partner in den Blick. Schon vor dem Ersten Weltkrieg gab es in den Reihen des Bar Kochba erste Überlegungen zum jüdisch-arabischen Verhältnis. Nach dem Krieg entwickelte man nun die Idee eines föderativen Staates, in dem Juden und Araber gleichberechtigte neben- und miteinander leben sollten. Sowie man in Böhmen einen Dialog zwischen deutscher, tschechischer und jüdischer Nationalität für notwendig erachtet hatte, erhob man nun auch hier die Beziehungen von Juden zu ihren nicht-jüdischen Nachbarn zur Grundfrage des Zionismus. Das Ziel war dabei keineswegs eine neue Nationalität aus verschiedenen Elementen zu mischen, sondern ein binationales System, unter dem beide Nationen autonom, aber sich gegenseitig beeinflussend nebeneinander leben sollten.

Mit dem Import dieser „dialogisch zionistischen Ideologie“ (302) nach Palästina endet Shumskys Darstellung. Auf die konkreten Ereignisse um den Brit Schalom geht er nicht ein. Dies braucht es aber auch nicht, um überzeugend den ideologischen und persönlichen Hintergrund des Binationalismus ehemaliger Bar Kochba-Mitglieder in Palästina aufzuzeigen. Shumsky zeichnet mit seiner Studie eine einleuchtende Linie, von der soziokulturellen Situation in Böhmen, über den multikulturellen Zionismus des Bar Kochba, bis zum Binationalismus des Brit Schalom. Seine Studie revidiert damit gängige Forschungsmeinungen über Prager Zionisten. Die immer wieder diskutierte Frage nach dem Realitätsgehalt des Binationalismus beantwortet die Arbeit jedoch nicht. Ihre Stärke liegt vielmehr darin, eine ambivalente Geschichte des Zionismus in den Blick genommen zu haben. Eine Geschichte, die nicht vom Ergebnis her geschrieben wird, sondern die komplexe und oft widersprüchliche Zugehörigkeiten europäischer Zionisten zum Ausgangspunkt hat.

Dimitry Shumsky: Zweisprachigkeit und binationale Idee. Der Prager Zionismus 1900–1930 (Schriften des Simon-Dubnow-Instituts, Bd. 14), Aus dem Hebräischen von Dafna Mach, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, 336 S., Bestellen?