An einem Erew-Pessach

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Dieser mit „Jugenderinnerungen“ untertitelte Beitrag erschien im April 1908 in der Zeitschrift „Ost und West“, die sich als „Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum“ verstand und im Kontext der „Jüdischen Renaissance“ dem westjüdischen Publikum die kulturellen Leistungen der sog. „Ostjuden“ vorstellte…

Autor war der unter dem Pseudonym Ben Ami (Sohn meines Volkes) schreibende Mordechaj Rabinovich. Ben Ami wurde ca. 1854 in Weißrussland geboren, studierte in Odessa und machte sich als Autor, der die Welt des Schtetl erinnerte, einen Namen. Er gehörte zu den begeisterten Unterstützern von Theodor Herzl und half den Ersten Zionistenkongress in Basel zu organisieren. Ben Ami sah die Rolle eines zukünftigen Staates jedoch in Verbindung mit spirituellem jüdischen Leben. 1905 emigrierte er zunächst nach Genf und 1924 weiter nach Palästina, wo er 1932 in Tel Aviv verstarb.

An einem Erew-Pessach
Jugenderinnerungen

Ost und West Heft 4 (April) 1908

Es war am Rüsttage des Pessachfestes, um zehn Uhr morgens. Wir hatten soeben unser frugales Frühstück beendet; es bestand aus Brot, welches wir bei einer unserer Nachbarinnen entliehen, das in einen salzigen Saft, worin Gurkenscheiben schwammen, getunkt wurde. Ich muss gestehen, dass auch diese Tunke bei derselben Nachbarin geborgt war, die ihren Gurkenkrug bis auf den Grund geleert hatte, um nicht über die Feiettage Chomez zu bewahren. Am Erew-Pessach ohne Brot zu bleiben, das konnte auch einer wohlhabenden Familie passieren, und es war nichts Beschämendes darin, bei einer Nachbarin welches auszuleihen. Wir hatten unser Mahl im Hausflur verzehrt, wobei uns ein Brett als ein provisorischer Tisch diente, worauf man das ganze Jahr den Teig knetete. Jetzt kratzte meine kleine Schwester dieses Brett mit einem Messer ab, wobei sie alle Kräfte aufbot. Unfern bereitete die andere Schwester einen Brei aus gelbem Ton, womit der, natürlich ungedielte, Fussboden zu Ehren des hehren Gastes überzogen werden sollte; ich und mein kleinerer Bruder weilten jetzt auf dem hinter unserem Hause sich ausdehnenden Platz, wo nun allerlei Gerät, Krüge, Tische, Sessel u. dergl. mit siedendem Wasser gekaschert wurden. Unseres Amtes war es, die soeben gekascherten Gegenstände zu überwachen, bis sie die Sonne getrocknet. Einige Schritte weiter gräbt mein Vater eine kleine Höhlung, um das Chomez darin zu verbrennen, das an einem Holzlöffel mit einem weissen Leinenfetzen umwunden, daneben liegt.

Draussen weht ein starker Westwind, aber es ist gleichwohl nicht kalt. Leichte, weisse Wölkchen schweben am Himmel und verhüllen zuweilen die Sonne, sobald sie aber vorübergeflogen sind, sendet sie wieder ihre wundervollen Frühlingsstrahlen hernieder, die bis zu Herz und Seele wärmend eindringen. Besonders angenehm ist es hinter unserem Hause. Hier ist ein breiter und vor dem Winde geschützter Kaum, und die Sonne wärmt hier doppelt; während es ringsum feucht und sumpfig ist, ist hier der Boden bereits ganz trocken, auch Gräser und Blümchen blühen schon. Meine kleine Kinderseele überlässt sich ganz der doppelt freudigen Stimmung, die aus der Erwartung des herrlichen Festes und des herannahenden Frühlings fliesst. Ich bin darüber so glücklich, dass ich fast ganz einer anderen Freude vergesse, die mich heute erwartet und die seit langem keinen Augenblick aus meinen Sinnen gewichen ist. Sobald sich die Mutter wegwendet, beginne ich mein liebstes Spiel, nämlich auf einer der Stangen, die die Hinterwand des Hauses stützen, von oben herab zu Tal zu fahren. Dann klettere ich auf eben dieser Stange auf den Boden, stecke den Kopf durch eines der vielen Löcher im Dach und rufe laut eines meiner Geschwister beim Namen. Der Gerufene sieht sich nach allen Seiten um, ohne zu wissen, wer ihn ruft. Dann gebe ich mich zu erkennen und lasse mich ob meines Kunststückes weidlich bewundern.

Von dieser erhöhten Lage aus kann mein Auge die ganze Gegend umfassen. Dort in der Niederung dehnt sich eine weite Ebene von grünenden oder schwarzscholligen Feldern, die der Pflug soeben durchfurcht. Weiter am Rande eines tiefen Grabens erhebt sich eine alte, geschwärzte Windmühle, die gleich einem Riesenvogel ihre Flügel schwingt. Jeden Donnerstag gehe ich dorthin mit der Mutter, um Mehl für den Sabbat zu holen. Dieser Gang gehört zu meinen liebsten Beschäftigungen. Unweit von der Mühle steht ein einsamer Holzpfahl, das ist der Meilenzeiger, der auf meine Phantasie eine besondere Anziehungskraft ausübt. Ich habe die Empfindung, dass dort, jenseits des Meilenzeigers eine völlig neue Welt beginnt. Oftmals habe ich beschlossen, bis an die Gemarkung dieser unbekannten Region vorzudringen, aber es ist nie dazu gekommen. Jetzt erneuere ich diesen Beschluss, am Chol-hamoed die Reise unweigerlich auszuführen, und koste es, was es wolle. Hinter einem anmutigen Häuschen mit Garten fliesst ein Bach und ringsum erheben sich zahlreiche, ohne Ordnung hingestreute Lehmhütten mit abgeschälten Wänden und rissigen Dächern. Eine dieser Hütten, die sich an eine andere lehnt, welche aber gleichfalls dringend einer Stütze bedarf, ist jetzt Gegenstand meiner zärtlichsten Gedanken. In dieser Hütte wohnt nämlich Reb ltzig, der Schuster, ein Mann, der seit zehn Tagen all mein Sehnen und Wünschen, ob ich träume oder wach bin, an sich fesselt.

Zwar ist Reb ltzig stets ein liebenswerter Mensch gewesen, aber niemals zuvor hatte ich dies so sehr empfunden als jetzt, da er für mich . . . Stiefel fertigt. Ja so, Stiefel, und zwar neue Stiefel, ganz neue, von den Schäften bis zur Sohle. Noch eine oder zwei Stunden, und Reb ltzig bringt sie mir nach Hause. Wenn ich daran denke, will ich vor Freude hüpfen. Das sind ja die ersten Stiefel in meinem Leben — ja, noch mehr, diesmal bekomme ich überhaupt neue Garderobe. Früher, wenn ich jemals ein „neues“ Kleidungsstück bekam, so war es aus einem abgetragenen, von des Vaters Röcken oder Beinkleidern hergestellt. Meine Füsse bedeckten immer alte geflickte Schuhe, nur ausnahmsweise kaufte mir mein Vater einmal Sandalen, die einige Wochen anhielten, den grössten Teil des Jahres aber ging ich barfuss. Neue, ganz neue Fussbekleidung hatte ich niemals besessen. Nun wurde ich am 17. ljar dreizehn Jahre alt, also Bar-Mizwah, und diesem Umstande hatte ich es zu verdanken, dass mein Vater sich entschloss, einen tiefen Griff in die Tasche zu tun und eine solche Menge Geld auszuwerfen. Das war keine Kleinigkeit — zwei und einen halben Gulden! Einen vollen Monat schwankte mein Vater, und oftmals beriet er darüber mit meiner Mutter, meist, wenn alle Hausgenossen schliefen. Ich lauscchte immer, den Atem anhaltend, wenn eine solche Unterredung begann:

„Rachel, schläfst du?“

„Schlafen? Wie kann ich schlafen? Weh ist mir!“ Ein schwerer, langer Seufzer entringt sich der Brust meiner Mutter und ein harter trockener Husten schüttelt den ganzen Körper meines Vaters. Im Schornstein heult und klagt der Wind.

„Hast du das ganze Geld ausgegeben?“ hebt der Vater von neuem an.

„Es ist aus der Haut zu fahren, Beinisch, wenn man dich hört! Wie viel hast du mir gegeben? Dreiundvierzig Kreuzer. Und wann? Am Montag! Heute ist Donnerstag. Rechne nach: sieben Kreuzer war ich schuldig, für elf hab ich Stroh zum Heizen gekauft, für zwei Bohnen, für drei Hirse …

„Ich weiss, ich weiss,“ unterbricht sie der Vater, „du hast es nicht für Naschwaren ausgegeben. Sprechen wir von etwas anderem. Die Feiertage kommen, und man muss darüber beraten und nachdenken.“

„Ach, ich werde nicht müde, daran zu denken. Woher sollen wir auf die Feiertage nehmen? Weh ist mir!“

„Was ist zu tun? Gott wird helfen, wie er bisher geholfen.“

Und wieder kommt ein schwerer Seufzer aus der Brust der Mutter und ein harter, trockener Husten aus der Brust des Vaters. Der Wind heult und pfeift in allen Spalten und Rissen der Wände.

..Man muss für die Kinder etwas anfertigen lassen,“ unterbricht der Vater das Schweigen.

„Zuerst müssen wir Mazzoth besorgen und dann Kleider für die Kinder.“

„Ich hoffe, Arbeit zu bekommen. Der Postinspektor will mir einige Bücher zum Binden geben, auch der Geistliche bat etwas bereit, ausserdem hab ich gehört, dass Reb Pinchas ein Amsterdamer „Schass“ gekauft hat, welches er seinem künftigen Schwiegersohn als Pessachgabe schicken will. Vielleicht gibt ers mir zum Binden.“

„Vielleicht. Vielleicht gibt ers aber dem Feiwisch?“

„Und wenn auch. Feiwisch ist auch ein armer Jehudi, er braucht auch Arbeit.“

So weit ging der Altruismus meiner Mutter nicht.

„Bist du ein reicher Mann, dass du für andere sorgen willst ? Zuerst denke an dich und deine Kinder. Ich an deiner Stelle wäre schon zwanzigmal bei Reb Pinchas gewesen.“

„Wenn er mich rufen wird, werde ich gehen,“ erwidert der Vater gelassen

„Willst du vielleicht warten, bis Reb Pinchas um dich einen Wagen schickt? Du grosser Mann! Kleinigkeit, Beinisch Buchbinder! Passt es ihm, zu Reh Pinchas zu gehen, um Arbeit zu bitten? Ach, dein Stolz wird uns noch an den Bettelstab bringen.“

„Du kennst mich ja, Rachel, und weisst, dass ich nicht anders werde. Wozu dich aufregen und den Kindern den Schlaf stören?“

„Das ist ja eben das Unglück, dass man dich niemals umstimmen kann. Ich sage dir, gehorche deiner Frau und gehe morgen zu Reb Pinchas ins Geschäft.“

„Wenn er mich braucht, kann er um mich schicken, denn er hat Gottlob Diener genug. Wenn er die Arbeit dem Feiwisch geben will, dann mag er sie ihm geben. Ich will keinem, Gott behüte, sein Brot wegnehmen. Sprechen wir nicht mehr davon.“

„Was willst du denn kaufen, und für wen?“ „Zuerst, glaube ich, müsste man Stiefel für Leibele anschaffen. Er geht barfuss.“

„Um Gotteswillen, hör auf! Was dieser Mann im Kopfe hat! Die beiden älteren Mädchen haben Fetzen an, und nicht Kleider, und der kommt mir gar mit Stiefeln für Leibele. Wie kann ich da ruhig bleiben? Wenn ich die beiden armen Kinder ansehe, vergeht mir das Herz. Warum sollen sie schlimmer daran sein als andere. Solche fleissige, arbeitsame Kinder. Ach, du lieber Gott! …. Die jüngere klagt wenigstens zuweilen, macht sich Luft im Kummer, aber die ältere trägt schweigend ihr bitteres Los, nur im verborgenen vergiesst sie heisse Tränen …“

Ein leises Jammern unterbricht diese Rede. Der Vater hustet stürmisch, dass er keinen Atem holen kann. Der Wind tobt im Kamin, dass die Röhren erbeben und erklirren. Ich zitterte unter meiner leichten Decke und drückte mich an meinen kleinen Bruder, der mit mir das Lager teilt. Im Zimmer herrscht Schweigen.

Einige Tage später begegnete meinem Vater, der mit mir aus der Betstube kam, Reb Pinchas. Dieser war einer der wohlhabensten Männer unseres Städtchens und sehr gelehrt. Alle seine freie Zeit verbrachte er bei den heiligen Büchern.

„Guten Morgen, Reb Beinisch!“ grüsste Reb Pinchas.

„Guten Morgen, gut Jahr!“

„Wie gehts Euch?“

„Gott sei gedankt . . .“

„Habt Ihr genug Arbeit, Reb Beinisch?“

.Gottlob, kann mich nicht beklagen.“

„Ihr seid wahrlich ein guter Jehudi, Reb Reinisch, und klagt niemals; das ist gut getan, sehr gut.“

Mein Vater antwortete nicht und wollte weitergehen.

„Wartet doch ein wenig. Was eilt Ihr so? Es regnet ja nicht. Scheint, wir werden angenehmes Wetter zu Jomtow haben. Seht, wie schön der Tag ist.“

„Ja. sehr schön.“

„Wenn ihr nicht zu sehr beschäftigt wäret, möchte ich Euch etwas Arbeit geben. Aber Ihr könntet wohl keine annehmen.“

„Ich kann welche annehmen,“ versetzte mein Vater einfach.

„Ich werde es mir überlegen. Vielleicht gebe ich die Arbeit dem Feiwisch, wenn Ihr allzusehr beschäftigt seid,“ sagte Reb Pinchas und betrachtete meinen Vater aufmerksam.

Aber mein Vater wurde nicht verwirrt, und Reb Pinchas fuhr fort: „Nun denn, so kommt heute abend zu mir und wir werden die Sache besprechen.“

Reb Pinchas entfernte sich, und ich hatte gerne Lust, den Vater zu fragen, ob ich nun Stiefel bekommen werde, wagte es aber nicht. Es war seltsam. Meinen Vater liebte ich über alles in der Welt, es war meine grösste Wonne, sein breites Antlitz mit dem kurzen Bart zu betrachten, in dem ein tiefblaues, herzensgütiges Augenpaar leuchtete, über das sich die weisse, breite Stirn wölbte. Ich fühlte, dass auch er mich herzlich liebte und doch konnte ich mir niemals ein Herz fassen, etwas von ihm zu verlangen oder ihn mit Reden zu belästigen. Sein Handwerk verstand ich bereits aus dem Grunde und hatte dies auch bewiesen, indem ich mir das Chumesch, das ich zum Geschenke vom Vater bekam, selber eingebunden hatte. Doch ging ich noch in die Schule und durfte mich noch nicht mit Arbeiten beschäftigen.

Zu Hause erzählte der Vater, dass Reb Pinchas ihn für den Abend bestellt habe, um ihm die Arbeit zu übertragen.

„Siehst du, so wie du nur meinen Rat befolgt hast . . . Wenn du immer so wärest, das wäre unser Glück,“ sagte die Mutter triumphierend.

Die arme Mutter! Sie kannte den Wert des Vaters und wusste ihn zu schätzen. In seiner Abwesenheit wurde sie nicht müde, seine edlen Herzenseigenschaften, seine Güte und Selbstlosigkeit zu preisen. Sie hegte für ihn eine Verehrung, wie für ein höheres Wesen. Aber der drückende Mangel, das sorgenvolle Dasein, die stete Bangigkeit um den kommenden Tag drückten die arme Frau nieder und liessen sie zuweilen, wider ihren Willen, gegen den Vater bitter werden. Aber er wusste, wie ihre Seele an ihm hing, und zürnte ihr niemals.

Mein Vater war ein Mann von regen geistigen Interessen, ein Mann des Buchs, der nicht nur mit den Einbänden, sondern auch mit dem Inhalte der Bücher sich zu schaffen machte. Zuweilen fesselte irgendein hebräisches Buch, das er gerade in der Arbeit hatte, seine Aufmerksamkeit, dann konnte er auf Stunden alles ringsum vergessen und sich in die Lektüre vertiefen. Die geringfügigen Kleinigkeiten des praktischen Lebens waren seiner inneren Natur zuwider. Und dieser Idealismus, verbunden mit einem einfachen, unerschütterlichen Gottvertrauen, gab ihm die Kraft, der Not zu trotzen, seine Würde zu bewahren und sich niemals vor den Reichen zu demütigen.

Am Abende desselben Tages langten von Reb Pinchas zwölf mächtige Folianten an, und mit ihnen kehrte in unser Haus Licht und Hoffnung ein. In der Nacht unterhandelten Vater und Mutter abermals über meine Stiefel. Die Mutter willigte nicht ein und bewies, dass zunächst die beiden älteren Mädchen Kleider haben müssten, dann wolle man sehen. Der Vater gab nach. Eine Woche später wurde er zum Postinspektor gerufen, der ihm ebenfalls Arbeit gab. Die Stiefelfrage kam wieder aufs Tapet, aber nach allen Berechnungen stellte es sich heraus, dass die sämtlichen Hinnahmen kaum für Pessach ausreichen würden, die Kleider für die Mädchen nicht eingerechnet. Ich war wie von einem Pfeil getroffen. Aber zu meinem Glücke ereignete sich etwas, was keiner von uns gehofft. Seit zwei Jahren lagen auf unserem Boden etwa fünfzehn Bücher herum, die ein junger Mann, wahrscheinlich Lehrer in einer der deutschen Kolonien, zurückgelassen hatte. Mein Vater hatte bereits die Hoffnung aufgegeben, dass diese Bücher jemals behoben würden. Aber da erschien eines Tages ein hübscher, deutscher Wagen vor unserer Haustür, hielt an, und ihm entstieg ein elegant gekleideter Mann. Sofort versammelten sich ringsum eine Menge Weiber und Kinder, um die seltene Erscheinung zu bewundern. Ich wurde auf den Boden geschickt, um die Bücher herunterzuholen und abzustauben. Der Deutsche nahm die Bücher in Empfang und hinterliess an Arbeitslohn vier und einen halben Gulden. Das Geld kam uns rein wie vom Himmel heruntergefallen.

„Nun geh ich, um Stoffe für die Kleider zu kaufen!“ sagte die Mutter.

„Und Stiefel für Leibele? “ fragte der Vater.

„Gott im Himmel! Immer wieder mit diesen Stiefeln. Was ist das für eine neue Mode! Wollen wir nicht lieber ein Paar Sandalen kaufen, wie bisher?“

„So! Sandalen, die er zwei Wochen anhat, bis sie unheilbar zerfetzt und er dann wieder barfuss umherläuft. Du vergisst, dass der Knabe mit Gottes Hilfe, bald Bar-Mizwah wird. Passt es dir, dass er barfuss umherläuft? Willst du, dass er etwa barfuss zur Thora aufgerufen wird?“

Diesem Argumente konnte meine Mutter nicht mehr widerstehen.

„Ach, weh ist mir! Um Gotteswillen! Das hab ich ganz vergessen. Der Knabe wird Bar-Mizwah, und ich habe keinen Augenblick daran gedacht. Die Not und das Elend verwirren mir so den Sinn, dass ich mich selbst vergesse.“

Nach langer Unterhandlung wurde beschlossen, drei Gulden für Kleider meinen Schwestern zu widmen und den Rest für meine Stiefel. Zwar würde das Geld weder für das eine, noch für das andere ausreichen, aber man konnte wohl Reb Pinchas, in der Tuchhandlung, als auch Reb ltzig, dem Schuster, einen Teil schuldig bleiben.

Auf diesen Ausweg einigte sich der Familienrat. Aber am Abend erschien Reb Mendel Melamed, bei dem mein kleiner Bruder Unterricht nahm.

„Guten Abend, Reb Beinisch! Guten Abend, Rachel,“ sagte Reb Mendel, offenbar sehr gut gelaunt. Zu seinen Ohren war die Kunde von dem Deutschen, der vor unserer Haustür gehalten, in bedeutend vergrössertem Masstabe gedrungen.

„Guten Abend,“ erwiderte mein Vater, der die Presse mit den Büchern in der Hand hielt und die Ränder beschnitt. Die Mutter bot dem Gast einen Sessel an, und der Vater wandte sich an ihn, ohne die Arbeit zu unterbrechen.

„Was gibts Neues, Reb Mendel?“

„Neues? Was für Neues kann es vor den Feiertagen geben? Geld ist nötig . .

„Ihr wünscht also Geld? Ich habe nur anderthalb Gulden bei mir, die könnt ihr bekommen, den Rest zahl ich auch, mit Gottes Hilfe, nach den Feiertagen.“

Kaum hatte sich Reb Mendel entfernt, als meine Mutter ihrer Empörung in stürmischer Weise Luft machte.

„Du bist also der Meinung, dass ich ihm nicht bezahlen soll, umsonst soll er deinem Kinde Unterricht erteilen ?“

„Er hätte können bis nach den Feiertagen warten . . .“

„Er ist aber auch ein armer Mann und braucht auch auf Pessach.“

Die Mutter schwieg, und ich gab ihr im Herzen recht. Nun war meine Hoffnung zu Wasser geworden. Ich war sehr niedergeschlagen und weinte bitterlich. Mein Abendbrot blieb unverzehrt. Spät am Abend, als sich bereits alle zur Ruhe begeben batten, trat mein Vater an mich heran, legte die Hand auf meinen Kopf und sagte: „Gräme dich nicht, Leibele, du wirst Stiefel bekommen.“

Ich erhob meine vor Freude leuchtenden Augen und blickte durch die Tränen zu meinem Vater empor. Sein liebes Antlitz strahlte von Herzensgute, aber auch ein Ausdruck von Müdigkeit und Erschöpfung lag darauf.

Am nächsten Morgen begleitete ich den Vater zu Reb Itzig, dem Schuhmacher. Wir kamen durch einen finsteren Korridor in eine mittelgrosse Stube, in der ein grosser Ofen den dritten Teil des Raumes einnahm. Das äusserst bescheiden und ebenso sauber eingerichtete Zimmer fasste ausser den gewöhnlichen Geräten den Arbeitstisch Reb Itzigs und einen Schemel davor. Die ganze Häuslichkeit atmete Frieden.

Reb ltzig war ein stiller, bescheidener Mann, der fünfzehn Stunden täglich seinem Handwerk oblag und ausser dem Arbeitstisch nur noch das Bethaus kannte, wohin er mit strenger Pünktlichkeit früh und abends zum Gottesdienst kam. Er betete sehr andächtig, indem er jedesmal in die jüdisch-deutsche Uebersetzung blickte, um sich den Sinn der Worte zu vergegenwärtigen. Jeden, der dies nicht nötig hatte, überhaupt jeden in der Thora Kundigen betrachtete er für einen höher stehenden Menschen und zollte ihm aufrichtige Verehrung. Mit seiner Frau Chinka lebte er in musterhafter Eintracht und holte in allen Angelegenheiten zuerst ihre Meinung ein. Chinka liebte ihren Mann abgöttisch und war ausserdem eine biedere, geschickte Hausfrau, die strenges Regiment führte, aber dabei von grosser Herzensgüte war. Kinder hatten sie nicht, und das war ein grosser Schmerz ihres Lebens. Aber als sie zur Ueberzeugung kamen, dass sich daran nichts werde ändern lassen, dass dies offenbar ein unabänderlicher Beschluss des Himmels sei, der sie des Kindersegens ihrer Sünden wegen nicht würdige, ertrugen sie es mit Ergebung und suchten Trost in anderen Idealen, die ihnen das Leben ausfüllten.

Sie widmeten ihre Liebe und all die zärtlichsten Regungen ihres Herzens dem Gotteshause, das sie für die Lücke in ihrem Leben tröstete und ihnen Hoffnung für die Zukunft gewährte. Bald stifteten sie eine Ner-Thamid-Lampe, bald widmeten sie alle Ersparnisse zum Ankauf eines Vorhanges für die heilige Lade oder einer Samtdecke für den Almemortisch. Ihr grösstes Ideal war, einmal so viel Geld beisammen zu haben, um eine Sefer-Thora schreiben lassen zu können und sie dann im Jubel und mit Musikbegleitung in die Synagoge zu bringen, wo man daraus in alle Ewigkeit an Sabbat- und Festtagen vorlesen würde. Diesem Ziele strebten sie mit aller Kraft zu; Reb Itzig verdoppelte seine Anstrengungen bei Tag und bei Nacht, gönnte sich keinen Augenblick Ruhe und träumte nur von jener grossen Stunde, da er seine Hoffnung verwirklicht sehen würde. „Wenn wir nicht wert waren, unser Kind unter die Chuppah zu führen, so werden wir, mit Gottes Hilfe, seine heilige Thora unter der Chuppah in sein Haus bringen,“ pflegte Reb Itzig öfter zu seiner Chinka zu sagen, die dabei heisse Tränen vergoss.

Als wir hinkamen, sassen Reb Itzig und Chinka gerade beim Frühstück. Man hiess uns sehr freundlich willkommen. Chinka holte etwas Branntwein und Kuchen hervor und bewirtete uns. Dann begann die übliche Unterhaltung über die schweren Zeiten, über die Vorbereitungen zum Fest, wobei Chinka das Gespräch führte, während Reb Itzig meist nur durch Kopfnicken seine Zustimmung bekundete. Endlich kamen die Stiefel an die Reihe. Der Meister nannte den letzten Preis: drei Gulden. Mein Vater erschrak bei dieser grossen Summe.

„Dann muss ich auf die Stiefel verzichten,“ sagte er. Ich fühlte, dass mein Herz still stand. Reb Itzig riet dem Vater, ein Paar alte Schäfte zu finden, dann könnte er’s um zwei Gulden machen. Mein Vater stand auf und sagte im Weggehen, dass er die Sache sich überlegen wolle und dass er keine alten Schäfte habe. Ich fühlte mich höchst unglücklich.

„Mach ihm die Stiefel für zweieinhalb Gulden,“ sagte Cbinka mit sanfter Stimme. Sie verstand ersichtlich mein Herzleid und hatte Erbarmen mit mir, denn sie sah mich mit ihren schönen Augen an. die mir in diesem Moment wie die Augen eines Engels erschienen.

„Wenn es dir recht ist, ist es mir gewiss recht,“ antwortete Reb Itzig in seiner stillen Art.

„Aber ich sag euch im voraus, dass ich vor Jomtow nur anderthalb Gulden bezahlen kann, den Rest zahle ich, so Gott will, nachher,“ bemerkte mein Vater.

„Auch recht,“ sagte Chinka. Reb Itzig begann das Tischgebet, nachher setzte er mich auf eine Bank, zog meine durchnässten und zerrissenen Sandalen aus und nahm mir das Mass.

„Die Stiefel werden am Erew Pessach zu Mittag fertig sein,“ sagte Reb Itzig, sich erhebend.

Das war die Entstehungsgeschichte meiner ersten Stiefel im Leben. Es war kein Wunder, dass mich beim Gedanken an dieselben ein wonniger Schauer überlief. Jeden Morgen erwachte ich mit der glücklichen Empfindung, dass mich etwas sehr angenehmes erwartet. Ich liebte diese Stiefel, bevor ich sie noch gesehen. Doch nein — ich sah sie vom ersten Augenblick ihres Werdens und Wachsens und überwachte jedes Stadium ihres Entstehens. Kaum hatte ich einen freien Moment, flugs war ich bei Reb Itzig und weidete mich an dem langsamen Fortschreiten meiner künftigen Stiefel, und da wir seit einer Woche Ferien hatten, verbrachte ich ganze Tage bei Reb Itzig. Nicht nur die Stiefel fesselten mich, auch die Ruhe und die angenehme Wärme bei Reb Itzig zog mich an. Gestern war ich dort bis spät am Abend geblieben, wofür mich die Mutter tüchtig ausschalt. Als ich wegging, fehlten an den Stiefeln noch die Hacken und der Meister stellte sie beiseite, um ein anderes Paar vorzunehmen. Das betrübte mich sehr, doch Reb Itzig beruhigte mich mit der Versicherung, dass sie heute, also am Erew Pessach bestimmt fertig würden. Und doch liessen mich unruhige Gedanken und vage Befürchtungen lange nicht einschlafen; in meinem kindlichen Egoismus zitterte ich, Reb Itzig könnte plötzlich krank werden und meine Stiefel blieben ein Torso . . . Jetzt, wie ich auf dem Boden sass und durch das Loch im Dache zu Reb Itzigs Wohnung hinübersah, sann ich nach, wie ich trotz des Verbots der Mutter mich hinwegschleichen und meinen werdenden Schuhen einen Besuch abstatten könnte.

„Leibele, Leibele, wo bist Du?“ hörte ich plötzlich die Stimme meiner Mutter.

Ich sprang eiligst von dem Balken herab, verwundete mir leicht den Fuss an den herumliegenden Scherben und gelangte etwas hinkend bei meiner Mutter an.

Hier erwartete mich der Auftrag, Jawdocha, die Wasserträgerin, zum Brunnen zu begleiten. Jedes Jahr erfüllte mich dieses Amt eines Aufsehers über das Kaschrut des Pessach-Wassers, das Jawdocha am Brunnen holte, mit grossem Stolz. Aber jetzt, da ich sehnsüchtig der Ankunft Reb Itzig’s mit meinen Schuhen harrte, gehorchte ich nur widerwillig. Zehnmal ging ich hinter den funkelnd weissen Kannen Jawdochas zum Brunnen und jedesmal erwartete ich mit Bestimmtheit die Stiefel. Schon von der Ferne lugte ich aus, um Reb Itzig zu erblicken, fragte jeden in unserem Hause, der zufällig vor der Türe stand, und jedesmal vergebens.

Die zweite Nachmittagsstunde war vorüber. Unsere Behausung hatte mit einemmal ein verändertes Aussehen und stand wie umgewandelt da. Die Wände waren frisch gekalkt, der Fussboden mit gelblichem Lehm gestrichen und darüber Sand gestreut. Alle Hausgeräte, frisch gescheuert, blinkten weiss. Der Vater sass am Tisch, in die Lektüre des „Sohar“ versunken. Auch er war auf einmal wie umgetauscht, als hätte das erhabene Fest, das Fest der Freiheit, seine Zauberstrahlen vorausgesandt und ihn mit seinem Lichte überflutet, dem Lichte jener Sonne, die einst, vor mehr als dreitausend Jahren, Israel aufgegangen war, als es der Allmächtige mit erhobener Hand aus der Sklaverei in das Land der Verheissung führte.

Ich stellte mich ans Fenster und spähte aus, ob Reb Itzig sich zeigen würde. Was konnte sein Zögern bedeuten? Ich weinte vor Bangigkeit und Gram. Schon sah ich Reb Nachum Melamed aus dem Bade nach Hause gehen, der seinen kleinen Sohn an der Hand führte. Feiwisch und unser Nachbar Wolf gingen vorüber und trugen Weinflaschen für den Sederabend. Mein Schulkollege Gedaliah schritt, schon festlich angezogen, vorbei und trug etwas, in einem Tuche eingewickelt in der Hand — sicherlich die Mazzah schemurah, die der Rabbiner seinem Vater schickt. Da zeigte sich von der Ferne eine Gestalt auf dem Wege von Reb Itzigs Haus. Mein Herz pochte hörbar …

Ach es war blos eine alte Bäuerin, die die Gänse vor sich einherjagte.

„Vater, ich möchte zu Reb Itzig hinüberlaufen“ — aber ich musste meine Bitte zweimal wiederholen, da der Vater in die Lektüre vertieft war.

„Lauf, wenn du willst.“

In diesem Angenblick stürmte mein kleiner Bruder ins Zimmer; man hatte ihn ausgeschickt, um einiges ausstehendes Geld für gelieferte Arbeit einzukassieren, womit meine Schuhe bezahlt werden sollten.

„Leib!“ schrie er laut, „Reb Itzig kommt, er bringt deine Schuhe.“ „Hast du Geld?“

„Nein, sie sagten, sie würden nach Jomtow bezahlen.“

Noch bevor meine Mutter ihrer Empörung Luft machen konnte, öffnete sich die Türe und herein trat Reb Itzig. Er zog langsam von unter dem Rock die Stiefel hervor, die ich ihm sogleich aus der Hand riss. Ich war ganz taumelig vor Freude, hörte und verstand nichts von dem, was man zu mir sprach. Ich besah die Stiefel von allen Seiten und traute meinen Augen nicht. Stiefel! Und was für Stiefel! Solche hat gewiss niemand gesehen! Wie sie glänzen! Rotes Futter, gewichste Hacken. Und diese Ohren, die in bunter Farbenpracht aufrecht stehen, wie die Ohren eines stolzen Renners. Ich war überglücklich und konnte mich nicht satt sehen an dem Meisterwerk der Schuhmacherkunst!

Endlich wurde ich auf eine Bank gesetzt. Die Mutter trocknete mir die nassen Füsse, wand um sie saubere Fetzen, und ich zog dann mit grosser Mühe die Stiefel an. Mein kleiner Bruder blickte mich mit Hochachtung und Neid an. Die Stiefel sassen prachtvoll. Ich schritt einigemale im Zimmer auf und ab. Mir schien, dass ich mit einemmale gewachsen, dass mit mir in diesen wenigen Augenblicken eine grosse Veränderung vorgegangen sei. Nur der Vater freute sich nicht, sondern sah schweigend vor sich hin, als ginge ihn das alles gar nicht an, während die Mutter meine Stiefel von allen Seiten betastete.

Die Probe war zu Ende.

„Reb Itzig,“ sagte mein Vater verwirrt, „ich bin gezwungen, in Ihren Augen wie ein Lügner zu erscheinen. Gott weiss, dass es nicht meine Schuld ist. Ich besitze nur siebzig Kreuzer. Den Rest werde ich mit Gottes Hilfe nach den Feiertagen bezahlen.“

„Macht nichts, Reb Beinisch; ich kenne Euch ja, Ihr werdet mich ein andersmal bezahlen. Wenn nur meine Chinka nichts dagegen hätte,“ antwortete Itzig mit seiner leisen bescheidenen Stimme.

Der Vater bückte sich über den grossen Kasten und holte einzelweise Kupfermünzen hervor. Aber es fanden sich nur fünfzig Kreuzer; Reb Itzig musste sich damit zufrieden gehen. Er wand das Geld in sein rotes Tuch ein, wünschte uns fröhliche Feiertage und entfernte sich.

„Nun, Rachel, gib uns schnell Wäsche, es ist Zeit, ins Bad zu gehen, bald wird es zu spät sein,“ sagte mein Vater, als sich Reb Itzig entfernt batte. Die Mutter bückte sich nun über den grossen Kasten und langte für uns saubere, aber stark geflickte Wäsche hervor.

Jetzt kam eine wichtige Frage zur Sprache, ob ich nämlich barfuss oder in den Stiefeln ins Bad gehen soll. Nach gründlichen Verhandlungen wurde beschlossen, dass ich auf dem Hinweg die Stiefel in der Hand tragen und sie erst auf dem Heimweg anziehen darf. Wir gingen.

Im Bad angelangt, fanden wir die erste Stube bis zur Hälfte voll von trockenem Holz und Sträuchern zum Heizen. An der Oeffnung des grossen, schwarzen Ofens sass Aleksa, eine in unserer Stadt allgemein bekannte Persönlichkeit. Ausser dem Dienst am städischen Bade als Heizer, Holzhauer und Wasserträger verrichtete Aleksa noch allerhand Arbeiten in den Judenhäusern, wie am Sabbat den Ofen zu heizen, die Lichter zu putzen, die Stuben zu fegen und dergleichen. Es war ein kleiner, magerer Mensch von unbestimmbaren Alter, mit einer grossen, breiten Glatze am Kopf, welche von rötlichen, stets wirren und zerzausten Haaren umgeben war. Sein Gesicht war aufgedunsen, ohne ausgesprochene Hautfarbe, in der Mitte befand sich eine grosse, dicke Nase mit unzähligen, schwarzen Pünktchen, die mit einem welken Rettig grosse Aehnlichkeit hatte. Seine rotbraunen trüben Augen, das wirre, harte und stachlige Backen-und Barthaar verlieh seinem Gesicht einen düsteren, traurigen Ausdruck. Sommer und Winter war er mit einem dicken, kurzen Rock von rötlicher Farbe bekleidet, der von unzähligen verschiedenfarbigen Flicken bedeckt war und den ein Ledergürtel zusammenhielt. Kein Mensch hatte ihn jemals in einem anderen Kostüm gesehen, obwohl man ihn seit zwanzig Jahren kannte, es schien, als wäre er in dieser seiner Kleidung zur „Welt gekommen. Er war stumm wie ein Fisch, nur zuweilen brachte er, wie knurrend, einen ganzen Satz über die Lippen. Sonst antwortete er immer auf eine Frage mit halben Wörtern. Bekannte und Freunde hatte er nicht und war immer einsam. Selbst in der Schänke, wo er alle freie Zeit zubrachte, knüpfte er mit niemandem ein Gespräch an. Sobald er sich betrank, setzte er sich in einen Winkel auf die Erde, wiegte den Kopf hin und her und brummte leise irgendein Volksliedchen vor sich bin. Seinen Lohn für seine Dienstleistungen zog er vor, in Naturalien, das heisst Alkohol oder Speisen, statt in Geld zu erhalten.

Im allgemeinen war er ein stiller Mensch, der nie jemanden wehe tat. Aber einen Fehler hatte er; sobald er etwas erblickte, das nicht genügend versteckt war, konnte er sich nicht enthalten, es in die Tasche zu stecken, einerlei, ob es gross oder klein, wertvoll oder wertlos war; ein Pferdezaum, ein Sack Getreide, ein Wäschebündel, ein Leuchter, alles galt ihm gleichwertig. Sobald er den Diebstahl ausgeführt hatte, verschwand er unauffindbar, als hätte ihn die Erde verschlungen. Dann war jedes Suchen nach seiner Spur vergeblich. Nach einigen Wochen fand man ihn gewöhnlich im Korridor des Badehauses. wo er den ruhigen, gesunden Schlaf eines Kindes schlief. Jedes Forschen und Fragen war vergeblich, er antwortete keinen Laut, als verstände er nicht, was man zu ihm sprach. Kleinigkeiten, die er stahl, gab er in einer der ausserhalb der Stadt gelegenen Schenken für einige Glas Schnaps hin. Bei den Juden glückte es ihm immer, diese Streiche auszuführen, ohne hart bestraft zu werden. Wenn ihn aber ein Bauer bei einem Diebstahl abfasste, züchtigte er ihn grausam. Oft wurde er in einem solchem Fall windelweich geschlagen, so dass er blutend an allen Gliedern, voll Wunden und Striemen, tagelang das Lager hüten musste. Sobald er aber wieder heil war und sich ihm eine Gelegenheit darbot, tat er wieder wie früher.

So war Aleksa beschaffen, der jetzt am grossen Ofen sass und ihn mit Sträuchern und trockenem Holz füllte. Wir liessen unsere Kleider im zweiten Zimmer zurück und traten endlich in die Badestube. Der Raum, der für das Wannen- und Schwitzbad gemeinsam war, fasste ausserdem auch noch die Mikweh, zu der man auf einer gewundenen, schmalen Treppe hinunterstieg. Die Stube, an deren Hinterwand sich Sitzbänke eine über die andere erhoben, war angefüllt von einem dichten Dampf, so dass ich im ersten Augenblick nichts unterscheiden konnte. Wirre Menschenstimmen hallten durcheinander, der dichte Knäuel der Badenden wimmelte an den Bänken und in den Wannen herum. An dem Eingang zur Mikweh herrschte ein förmliches Gedränge.

Wir warteten an der Türe, bis sich die Menge etwas lichtete. Aeltere oder angesehene Leute hatten hier ordnungsmässig den Vorrang. Für mich, da ich zum Schwitzen noch zu klein war, fand der Vater eine Wanne. Ich versenkte mich bis an den Hals ins warme Wasser und überliess mich dem wonnigen Gefühl, das sich über mich ergoss und mich fast schläfrig machte. Allmählich legte sich der Lärm, die Menge nahm ab.

Inzwischen wurde die Dunkelheit in der Badestube immer grösser. Die schrägen Strahlen der untergehenden Sonne drangen durch die trüben Scheiben und durchwoben den Wasserdampf, der den Raum ausfüllte, mit bunt schillernden Fäden; durch die ganze Länge erhoben sich hübsche, in allen Farben schimmernde Scheidewände.

In der Badestube wurde es immer leerer.

Einer der Nachzügler trat ein, Berzje, der Fuhrmann, den sein schweres Handwerk so lange zurückhielt. Er war ein hochgewachsener starker Mann und führte einen kleinen Knaben an der Hand.

„Das nenne ich rechtzeitig kommen,“ begrüsste ihn jemand lachend. Berzje suchte sich schweigend ein Plätzchen.

„Spät, spät, Ihr lieben Leute,“ rief der alte Reb Selig hüstelnd, „schon Zeit, zur Synagoge zu gehen!“ ermahnte er zur Eile.

Alle sputeten sich und eilten hinaus.

Mein Vater, der bisher auf seinem Platze sass und sich ganz dem Vergnügen des Schwitzens überliess, erhob sich plötzlich und trat zu mir heran.

„Bleib noch ein wenig, Leibele, ich will nur einen Augenblick in die Mikweh hinabsteigen.“

Damit näherte er sich dem dunklen Eingang.

Ich wollte aber nicht warten und stieg hinaus, um noch unsere Kleider im Vorzimmer herauszusuchen.

Dort waren nur noch fünf, sechs Personen zurückgeblieben, die sich schweigend ankleideten, um rasch nachhause zu eilen. Bevor ich noch zu unsern Kleidern gelangt, war mein Vater zurückgekehrt.

Er begann hurtig unter den Kleidungsstücken zu suchen. Doch plötzlich hielt er inne.

„Hast du deine Stiefel schon hervorgeholt?“ fragte er mich mit sorgenvoller Stimme.

„Nein,“ antwortete ich ruhig und langte nach dem Bündel, das meine Garderobe enthielt.
„Wo sind sie denn? Hier sind sie nicht!“ rief mein Vater sehr aufgeregt.

Ich verstand diese Aufregung nicht recht, aber im Herzen fühlte ich plötzlich einen groben Schmerz. In Verwirrung begannen wir zu suchen. Alle Anwesenden umringten uns und halfen uns suchen.

„Seht mal rasch nach, wo ist Aleksa?“ sagte jemand.

„Aleksa?“ antwortete der Inhaber des Bades, der gerade aus dem Korridor hereinkam. „Aleksa? Der ist vor einen halben Stunde verschwunden, als hätte ihn die Erde verschlungen. Ist das ein Schurke! Jetzt begreif’ ich’s. Bisher pflegte er wenigstens hier nichts zu berühren.“

Jetzt erst begriff ich ganz, welches Unglück mich ereilt hatte. Ich brach in krampfhaftes, unstillbares Weinen aus und konnte mich nicht beruhigen.

„Ich will schnell laufen, vielleicht find’ ich ihn noch irgendwo,“ bot Berzje, der Fuhrmann, seine Dienste an. Mein Leid ging ihm offenbar sehr zu Herzen. „Pass’ indessen auf meinen Knaben auf,“ sagte er zu meinem Vater und rannte hinaus.

Das ganze Bad wurde mehreremale durchstöhert; man suchte überall, sogar im Kessel und im Ofen. Man schüttelte alles dürre Gesträuch und Holz durch, das in den Vorstuben herumlag, einige Leute stiegen nochmals in die Mikweh hinunter, alles war vergebens. Endlich kam Berzje zurück. Er war ganz schaumbedeckt und atmete schwer. Aber er hatte leere Hände. Ich wollte nicht mehr heimgehen, sondern wankte jammernd von einem Winkel in den anderen.

Mein Vater stand reglos, leichenblass da und betrachtete mich mit schmerzerfüllten Augen.

Der Abend war schon herabgesunken, als wir das leer und unheimlich gewordene Bad verliessen. Draussen herrschte eine liebliche, sanfte Ruhe, obgleich die Luft kühl war. Mehr noch, als der Schmerz über meinen Verlust, peinigte mich ein stechendes Gefühl der Beschämung. Ich schluchzte leise, während ich mit meinen nackten Füssen, die erst aus dem warmen Bad kamen, über die feuchtkalte Erde schritt, und zitterte vor Kälte am ganzen Körper. Mein Vater nahm mich auf die Arme, drückte mich ans Herz und suchte mich zu beruhigen.

„Weine nicht, mein armes Kind, weine nicht. Es war Gottes Wille. Du hast dich zu sehr gefreut. Man darf sich nicht allzuviel der Freude hingeben.“

Ringsum leuchteten in allen Häusern die festlichen Lichter. Aus dem Rande des hellblauen Himmels zog stolz und majestätisch der volle Mond empor.

Mein Vater schritt leise daher, versunken in traurige Gedanken, die sich auf seinem sanften, müden Gesicht malten.

Ich klammerte mich an seinen Hals und jammerte still vor mich hin …