Das vergessene jüdische Waisenhaus

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Eine Aschauer Arbeitersiedlung verwandelte sich vor 70 Jahren in ein Heim für junge Überlebende der Shoa…

Von Jim G. Tobias

Leon und Bernhard Milch vor der Unterkunft in Aschau, Repro: nurinst-archiv
Leon und Bernhard Milch, Repro: nurinst-archiv

„Nach der Auflösung des Ghettos versteckten wir uns über ein Jahr lang in einem Kellerloch“, erzählt Leon Milch viele Jahrzehnte später nicht ohne Emotion. Im Juni 1943 war das Ghetto Podhajce im Bezirk Tarnopol liquidiert und über zweitausend Menschen waren von den Deutschen ermordet worden. Nur mit viel Glück erlebten der damals 11-Jährige und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Bernhard die Befreiung, als sowjetische Truppen die Region um Tarnopol im Frühjahr 1944 einnahmen. Nach einer langen Odyssee strandeten die beiden gebürtigen Polen mit einer Gruppe von Waisenkindern im Frühjahr 1946 im oberbayerischen Aschau (Landkreis Mühldorf).

Solche von zionistischen Aktivisten zusammengestellten und gelenkten Gruppen erreichten Deutschland bereits als gut organisierte Jugendkollektive, deren Mitglieder von einem freien und selbstbestimmten Leben im Kibbuz träumten. Sie gehörten zu den ersten jüdischen Bewohnern der ehemaligen Arbeitersiedlung der Dynamit Nobel AG. Die Jungen und Mädchen waren auf dem Weg das „Todeshaus Europa“ zu verlassen, um in Palästina ein neues Leben zu beginnen. Für sie gab es keine Zukunft in der alten Heimat mehr. „Einige von uns haben Auschwitz überlebt“, erinnert sich Yola Schneider ,die sich nach der Liquidierung des Warschauer-Ghettos als Elfjährige mit falschen Papieren retten konnte.

Die amerikanische Militärregierung quartierte die Shoa-Überlebenden im Aschauer Ortsteil Waldwinkel ein. Nach dem Krieg wurden überall in Bayern jüdische Lager, Camps für Displaced Persons (DPs), eingerichtet, wie sie auch in Föhrenwald, Pocking oder Landsberg nachweisbar sind – in denen Tausende von jüdischen Bewohnern lebten. Aschau unterschied sich jedoch von diesen Massenlagern: Hier entstand ein sogenanntes Children’s Center, ein Heim für elternlose Kinder. Die Mehrheit der Ankömmlinge stammte aus Polen, aber auch Ungarn oder Rumänen befanden sich unter ihnen.

Unmittelbar nach ihrer Ankunft in Aschau wurde begonnen, das Alltagsleben zu organisieren. Unterstützung erfuhr man dabei von der UN-Flüchtlingsbehörde UNRRA sowie von verschiedenen jüdischen Hilfsorganisationen, die neben den nötigen Sachleistungen auch die Lebensmittel lieferten. Schon bald wurden die täglichen Mahlzeiten von den Betreuern und zeitweise angestellten deutschen Hilfskräften in der Lagerküche zubereitet. Da die im selben Gebäude untergebrachte Kantine zu klein war, mussten die Kinder ihr Frühstück, Mittag- und Abendessen jedoch in zwei Schichten einnehmen. Im Speisesaal fanden aber auch kulturelle, religiöse und politische Veranstaltungen der Selbstverwaltungsgremien statt.

Durchschnittlich lebten 400 jüdische Jungen und Mädchen mit ihren Betreuern in der Siedlung, die aus 22 kleinen Wohnhäuschen sowie 14 Verwaltungs- und Versorgungsgebäuden bestand. Die Kinder und Jugendlichen gehörten mehrheitlich entweder der linkszionistischen Jugendorganisationen Dror oder der religiös-zionistischen Vereinigung Bnei Akiba an und sollten bis zur endgültigen Ansiedlung in Erez Israel zusammenbleiben. Da jedoch eine offizielle Emigration nach Palästina kaum möglich war – die englische Mandatsmacht verwehrte den Juden die Einreise – nutzte man die Wartezeit sinnvoll: Zeitweise besuchten 275 Kinder die lagereigene jüdische Volksschule und lernten neben Schreiben, Rechnen und Lesen begeistert ihre neue „Muttersprache“ Hebräisch; die noch nicht schulpflichtigen Jungen und Mädchen gingen in den Kindergarten, während bis zu 130 Jugendliche verschiedene Lehrgänge für handwerkliche Berufe belegen konnten.

Das Kinderzentrum verfügte über eine eigene Lagerbibliothek mit rund 700 Bänden, darunter Bücher von Goethe, Tolstoi oder Kleist, aber auch ostjüdische Klassiker wie etwa „Tewje der Milchmann“ von Scholem Alejchem. Zur Zerstreuung wurden zudem öfters Filme gezeigt. Im Sommer 1946 lief etwa der jiddischsprachige Streifen „Mirele Efros“ nach der Romanvorlage von Jacob Gordin sowie die Verfilmung des Bühnenstücks „Grine Felder“ von Peretz Hirschbein. Die Jungen und Mädchen waren begeisterte Kinogänger und fuhren daher manchmal sogar in die benachbarte Ortschaft Kraiburg, um sich im dortigen Lichtspielhaus die neuesten Filme anzuschauen. Außerdem existierte eine eigene Fußballmannschaft. Im April 1946 reiste das Team von Kadima (Vorwärts) Aschau sogar zu einem Freundschaftsspiel gegen Makabi Bamberg ins Fränkische. Ende Dezember 1946 fand ein besonderes Sportereignis in Aschau statt: Die regionalen „Jidiszen Ping-Pong Majsterszaftn“. Vom 24. bis 26. Dezember spielten Mannschaften aus den oberbayerischen DP-Camps in Aschau die jüdische Tischtennismeisterschaft aus.

Yola (2. v. l. stehend) im Kreise ihrer Freunde, Repro: nurinst-archiv
Yola (2. v. l. stehend) im Kreise ihrer Freunde vor der Unterkunft in Aschau, Repro: nurinst-archiv

Sporadisch verließen immer wieder kleine oder größere Gruppen den „Wartesaal“ und machten sich illegal auf die Reise ins Gelobte Land. Einige erreichten Palästina; viele wurden jedoch zurückgeschickt und in englische Internierungslager auf der Insel Zypern eingesperrt. Nur Wenige erhielten Visa der englischen Mandatsmacht. Im Herbst 1946 sollte eine Gruppe die begehrten Einreisepapiere erhalten. Doch die Verantwortlichen entschieden sich kurzfristig anders: „Kinder aus einem anderen Lager erhielten die Visa, nicht wir in Aschau“, erinnert sich Yola Schneider, die es, wie auch Leon und Barry, letztlich nach Australien verschlug.

Die Mehrheit der Aschauer Kinder wanderte aber – die letzten nach Proklamation des Staates Israel im Mai 1948 – ins Gelobte Land ein. Zu dieser Zeit schloss auch das Children’s Center seine Pforten und verwandelte sich für knapp zwei Jahre in ein Berufsausbildungs- und Rehabilitationszentrum für Überlebende der Shoa. 1950 übernahm die katholische Ordensgemeinschaft der „Salesianer Don Bosco“ das Gelände und errichtete dort das Berufsbildungswerk Waldwinkel, eine Ausbildungsstätte für Jugendliche mit körperlicher, sozialer oder psychischer Behinderung.

Foto oben: Die Jungen und Mädchen aus dem Aschauer Kinderlager fordern: „Vorwärts: Freie Einwanderung – Hebräischer Staat“!, Repro: nurinst-archiv