Strapaziertes Glück

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„Ungefähr in dem Abstand, in dem wir uns gerade gegenüber sitzen, saß ich Eichmann gegenüber. Am 8. April 1944 in Budapest” erzählt mir Robert Tomashov an einem späten Abend, wenige Wochen vor seinem 100. Geburtstag, als er darauf wartet, dass ihm die diensthabende Schwester seinen Daumen verbindet, den er sich beim Versuch Tee aufzukochen, verbrüht hat. Am 8. April 1944, so fährt er in einer Erzählung fort, habe er von Schergen der Gestapo Peitschenhiebe bekommen, dass er dachte sein Kopf falle herunter. Er habe Eichmann angefleht, ihn zu verschonen, doch der habe nur entgegnet: “Hinüber zu den anderen Banditen”, was bedeutete, dass er für den Transport nach Auschwitz bestimmt war…

Von Oliver Vrankovic
Kichererbsenblog v. 11. Januar 2016

Eigentlich, so sagt er, rede er nicht über diese Zeit, da es ihn jedes Mal auf ein Neues zwinge, die Vergangenheit noch einmal zu durchleben. Er sei dann immer zwei oder drei Tage aufgewühlt. Gleichzeitig ist es ihm ein Anliegen, dass seine Geschichte weitergetragen wird. In seiner Erinnerung sind die Details seiner unfassbaren Geschichte noch sehr präsent.

Die Geschichte von Robert (Avraham) Tomashov ist im Grunde unglaublich. Und doch ist sie wahr. Mehrmals hat Robert Tomashov versucht, dem Schicksal der europäischen Juden zu entkommen und jedes Mal sah es so aus, als ob es nicht gelingt. Und trotzdem ist es eine Geschichte über das grosse Glück dem Tod letztlich immer knapp entkommen zu sein.

Robert Tomashov ist 1915 in der slowakischen Stadt Dolny Kubin geboren. Seine Mutter, so sagt er, sei einer Bierbrauerdynastie entsprungen und seine Familie sei vermögend gewesen. Sie seien Zionisten gewesen, ist ihm wichtig zu betonen, und gottesfürchtig. Als er 1934 die Handelsschule in Budapest und dann in Bratislava abgeschlossen hatte, absolvierte er einen Hachshara Kurs, der ihn auf die Ausreise nach Palästina vorbereitete. Doch erst im März 1939 sollte Robert Tomashov ein Einreisezertifikat ausgestellt werden.

Er fuhr nach Prag, um das Dokument bei der Vertretung der Jewish Agency abzuholen. Dort wurde er gefragt, ob er verheiratet sei, was er verneinte. Also wurde er gebeten, sein Zertifikat einem Paar mit Kindern zu überlassen und selbst noch ein paar Wochen bis zur Ausstellung eines neuen Zertifikats für ihn zu warten. Als Ende März die Deutschen in die Tschechoslowakei einmarschierten, zerschlug sich seine Hoffnung auf ein Zertifikat und er kehrte nach Bratislava zurück. Dort hörte er von einem Zug, der aus der Slowakei nach Palästina fahren sollte, und davon, dass die Organisatoren einen Stapel Zertifikate hätten. Tomashov plante den Zug zu nehmen, der auch abfuhr und tatsächlich sein Ziel erreichte, aber in Bratislava nicht Halt machte. So war er weiterhin in der Slowakei gefangen.

Statt nach Palästina zu fahren, rekrutierte er sich für eine Arbeitsbrigade der slowakischen Armee. Er diente zwei Jahre lang, in denen er beim Ausbau des Donaukanals schuften musste. Im April 1941 desertierte er und suchte in einer kleinen slowakischen Stadt Zuflucht. Dort gelang es ihm, sich bis Oktober 1943 zu verstecken bevor er nach Bratislava zurückkehrte, wo er den gefälschten Personalausweis fand, den sein Bruder Julius benutzte, der mit dem ersten Transport nach Majdanek deportiert worden war. Mit dem gefälschten Ausweis überstand er einige Wochen, bevor er von einem ehemaligen Nachbarn erkannt wurde. Da Robert Tomashov richtig ahnte, dass der Nachbar ihn verraten würde, gelang es ihm, sich zu einem protestantischen Händler zu flüchten, der ihn einer Gruppe von jungen Leuten anschloss, die nach Budapest geschleust wurden. Im Zug bekam er einen gefälschten Ausweis auf den Namen Estefan Etsch und erreichte 1944 das Haus eines ungarischen Onkels in Budapest. Der Onkel erzählte ihm, dass das Eretz-Israelische Büro in Budapest alle zwei Monate einen Flug nach Palästina organisiere, dessen wenige Plätze unter den Funktionären der verschiedenen zionistischen Jugendbewegungen und wichtigen Gemeindemitgliedern aufgeteilt würden. Wie auch im berühmt gewordenen “Kasztner-Transport”, wo er als Funktionär der religiös-zionistischen Jugendbewegung Akiva einen Platz im Zug sicher gehabt hätte, hatte er für den Flug einen Platz sicher. Den “Kasztner-Transport” entschloss er sich, einem unguten Gefühl folgend, nicht zu besteigen. Und tatsächlich sollte der erste Stopp des Zuges das Konzentrationslager Bergen-Belsen sein.

Er wartete auf den Flug, der für den 19. März geplant war. Das Glück schien sich aber erneut gegen ihn zu wenden. Am gleichen Tag fielen die Deutschen in Ungarn ein. Tomashov saß bei Moshe Kraus, dem Leiter des Eretz-Israelischen Büros, als die Nachricht eintraf, dass die Deutschen die Passagiere auf dem Flugfeld festgenommen hätten. Kraus vermittelte Tomashov an die YMCA in Budapest, wo Christen und ein paar Juden mit falschen Papieren arbeiteten. Der YMCA war im Besitz einiger Transitgenehmigungen. Tomashov wurde dem YMCA als polnischer Christ Tomaschowski vorgestellt und bekam am 7. April eine der Transitgenehmigungen. Dem Papier fehlte nur noch der authentifizierende Stempel, den der Geschäftsführer am nächsten Tag erteilen sollte. Am Morgen des 8. April wurde Robert Tomashov auf dem Weg in die Büros der YMCA von der ungarischen Gendarmarie aufgegriffen, der sofort der fehlende Stempel auffiel. Er wurde der Gestapo übergeben, die ihn im Hotel Majestic, dem Hauptquartier von Eichmann, gewaltsam verhörte. Als zu Ende des Verhörs Eichmann kam und entschied, dass Robert Tomashov mit weiteren festgenommenen Juden am 12. April nach Auschwitz deportiert werden solle, schien das Ende gekommen. Er kam in ein Gefangenenlager, wo ca. 1000 Juden interniert waren, die für den Transport nach Auschwitz bestimmt waren. Als er dort auf dem Boden saß und sein bitteres Schicksal vor Augen hatte, ging ein ungarischer Gendarm durch das Lager und schrie, dass jemand gesucht würde, der vom Russischen iuns Ungarische übersetzen könne. Tomashov reagierte erst als der Gendarm sich wiederholte. Wohl wissend, dass er Tschechisch, Ungarisch, Deutsch und Polnisch beherrschte, aber nur ein paar wenige Brocken Russisch. Tomashov wurde in einen Raum mit einem Schreibtisch und einer Schreibmaschine gebracht, wo er Transportscheine für 60 festgenommene Ukrainer ausfüllen sollte, die ihm einer nach dem anderen vorgeführt wurden. Irgendwann entdeckte er in einer der Schubladen des Schreibtisches einen Bündel gestempelter Passierscheine. Passierscheine für den Ein- und Ausgang mit Begleitung und solche ohne Begleitung. Er nutzte einen kurzen Augenblick, in dem er unbeaufsichtigt war, um sich einen Passierschein für den Ein- und Ausgang ohne Begleitung aus der Schublade zu fischen. Die ungarischen Angestellten beendeten um fünf Uhr ihre Arbeit und trugen dem jungen Juden auf, die Transportscheine bis zum Morgen fertig zu machen. Aus ihren Gesprächen hörte Tomashov heraus, dass die Lagergebäude geschlossen würden. Er wartete den Moment ab, in dem die Wächter ihre Posten verließen, nahm den Stapel Transportscheine, die er ausgefüllt hatte und ging ins Erdgeschoss, wo er auf einen Wächter traf, dem er sagte, dass er seine Arbeit beendet habe und jemanden suche, dem er die Transportscheine übergeben könne. Der Wächter antwortete, dass er zunächst das Gebäude abschließen müsse und sich dann um ihn kümmern würde. Als er aus seinen Augen verschwunden war, beeilte sich Tomashov zum Lagertor zu gelangen, wo er den Wächtern seinen Passierschein zeigte. Einer der beiden Wächter zögerte, ließ sich aber von einem weiteren Wächter, der dazu kam, versichern, dass alles in Ordnung sei.

Mehr als 70 Jahre später wundert sich Robert Tomashov, woher er an diesem Tag die Kaltblütigkeit und die Kraft nahm, diesen waghalsigen Ausbruch zu unternehmen. Ohne zurückzuschauen verließ Tomashov das Lager. Zunächst fand er Unterschlupf bei einem Verwandten, dann bei einem Juden, der unter falscher Identität lebte. Dort bekam er auch mit, dass nach einem entkommenen Juden, der geheime Papiere gestohlen habe, gesucht würde. Ihm war klar, dass er Ungarn verlassen müsse.

Mit einigen anderen jungen Männern gelang es ihm, die ungarisch-rumänische Grenze zu überqueren und bei der jüdischen Gemeinde in Arad Zuflucht zu finden. Der Plan von Robert Tomashov war, nach Constanza zu gelangen, um dort ein Schiff nach Palästina zu nehmen. Als es ihm gelang, in den Zug nach Bukarest zu steigen, sah es so aus, als ob er den Deutschen endgültig entkommen würde. Ein Einreisezertifikat wartete auf seinen Namen ausgestellt in Constanza. Doch als eine der Bahnbrücken gesprengt wurde, musste der Zug kehrt machen. Und die Chance kam nicht wieder. Kurz darauf wurden auch in Arad die Juden zusammengetrieben. Robert und ein paar seiner Weggefährten wurden festgenommen und unter schwerer Bewachung mit dem Zug nach Curtici deportiert. Sie wussten nicht genau wohin es ging, doch ihre Befürchtungen wurden Gewissheit als am nächsten Tag 3 Waggons mit je 150 jungen Juden einem deutschen Militärzug angehängt wurden, der nach Ungarn fuhr. Dort, so war klar, würde es nur ein Ziel für sie geben: Auschwitz.

Einem jungen Polen war es gelungen, eine kleine Sichel zu stehlen und in den Waggon zu schmuggeln, womit die Insassen bald die Vergitterung des einzigen Oberfensters gelöst hatten. Zwei von ihnen gelang es, aus dem fahrenden Zug zu springen, bevor dies von den Wächtern entdeckt wurde und diese das Feuer eröffneten. Wenig später kam der Zug überraschend zum stehen. Stunden später fanden sie heraus, dass die Deutschen die Waggons mit den Juden abgehängt hatten und an an der Grenze zu Ungarn stehen ließen. Später kamen rumänische Sicherheitskräfte und brachten sie in das Lager Targu-Jiu. Tomashov entkam Auschwitz ein weiteres Mal. Nach einiger Zeit im Lager nahmen die Sowjets Bukarest ein und auch aus Targu-Jiu flohen die Deutschen und ihre rumänischen Helfer. Tomashov kam frei und wurde nach dem Krieg Generalsekretär der zionistischen Bewegung in Prag. 1948 wanderte er nach Israel aus. Die Erinnerungen begleiten ihn bis heute.

Robert TomashovDas Unglück, das Robert Tomashov ereilte, als er im Zug nach Bukarest auf dem Weg nach Constanza kehrt machen musste, wurde zum Glück einer Frau, die über den Emissär für die Aliya Bet in Rumänien, den berühmten Geheimagenten Shaike Dan, an ein Einreisezertifikat kam, das auf den Namen Robert Tomashov ausgestellt war. Als Roberta Tomashov bestieg sie am 3. August das Flüchtlingsschiff Bulbul in Constanza. Im Februar 2012 lernte sie Robert Tomashov kennen.

Robert feierte am 10. Januar seinen 100. Geburtstag.

Dieser Beitrag ist Teil einer Serie über Flucht- und Integrationsgeschichten, die dem Autor in den letzten Jahren während seiner Arbeit erzählt wurden. Er arbeitet in der Pflegestation eines Elternheims der Vereinigung der Israelis mitteleuropäischer Herkunft. Einst war das Heim exklusiv deutschen Juden vorbehalten, später wurden auch kulturdeutsche Juden aufgenommen und dann auch Juden aus Osturopa, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Alle Beiträge sind auf derkichererbsenblog.com nachzulesen.