Raues Klima in Calais

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Eine Reportage aus der Region, in der Marine Le Pen für die Regionalpräsidentschaft kandidierte…

Bernard Schmid, aus Calais
Eine Kurzfassung dieses Beitrags erschien in der Dienstags-Ausgabe der Tageszeitung ,Neues Deutschland’. Eine Wahlanalyse folgt.

Das Wetter am Ärmelkanal ist an diesem Wochenende einige Stunden lang besser als sein Ruf. Dies erlaubt es, den spröden Charme der französischen Nordküste zu schätzen. Politisch ist das Klima umso unangenehmer. Die Region Nord-Pas de Calais-Picardie wählte am Sonntag zuvor, beim ersten Durchgang der französischen Regionalparlamentswahlen, zu 40,6 Prozent die Liste von Marine Le Pen. Im zweiten Wahlgang an diesem Sonntag wurden es gut 42 Prozent. Aber der befürchtete Wahlsieg der extremen Rechten blieb aus. Unter anderem aufgrund einer gestiegenen Wahlbeteiligung und des Rückzugs der sozialdemokratischen Liste, die einen Stimmaufruf zugunsten der besser platzierten Konservativ-Wirtschaftsliberalen unter Xavier Bertrand abgab, um mit vereinten Kräften einen Durchmarsch des Front National zu verhindern.

Stärker noch als im regionalen Durchschnitt hatte der FN im ersten Durchgang in der Hafenstadt Calais gewonnen. Am Sonntag vor acht Tagen erhielt die Rassistenpartei hier 49,1 Prozent der Stimmen.

Calais ist jedoch noch aus anderen Gründen ein politisch interessantes Pflaster. Bis zu den vorletzten Kommunalwahlen im Jahr 2008 war Calais eine der letzten französische Großstädte mit über 100.000 Einwohner-inne-n – samt Eingemeindungen -, die durch die Französische Kommunistische Partei (den PCF) regiert wurde. Seitdem waltet und schaltet die Konservative Nathacha Bouchart von der Partei Les Républicains, der früheren UMP, im Rathaus. Eine resolute Dame, die im Herbst dieses Jahres bereits vorschlug, die Armee herbeizurufen, um dem Andrang von Migrantinnen und Migranten Herr zu werden. ((Vgl. http://www.lavoixdunord.fr/region/migrants-de-calais-l-appel-de-la-maire-a-une-aide-de-ia33b48581n3112337 und http://www.leparisien.fr/nord-pas-de-calais/migrants-a-calais-la-maire-natacha-bouchart-lr-demande-l-aide-de-l-armee-19-10-2015-5200003.php ))

Migration ist in Calais immer wieder ein zentrales Thema. Denn rund um die Stadt stauen sich unfreiwillig all die Menschen, die im Grunde nur eines wollen, nämlich auf die britischen Inseln überzusetzen. Menschen aus Syrien und dem Iraq, aus Afghanistan, aus dem Sudan, aus Eritrea, die von einem neuen Leben in England träumen. Auch in Frankreich wären sie selbst aus Sicht des herrschenden Rechtsverständnisses in aller Regel asylberechtigt. Doch aus verschiedenen Gründen sehen sie ihre Zukunft viel eher auf britischem Boden: Weil sie aus früheren britischen Kolonien kommen und Englisch sprechen, aufgrund der Präsenz von Familienmitgliedern dort, oder aufgrund eines relativ durchlässigen Arbeitsmarkts – auch wenn Lohnabhängige dort vergleichsweise rechtlos sind, schaffen auch „illegale“ Migranten es dort immerhin leichter, überhaupt einen Job zu bekommen. Auch die harte französische Anerkennungspraxis im Asylverfahren, die noch niedriger liegt als in Deutschland, schreckt viele von einem Antrag auf Anerkennung als Flüchtling in Frankreich ab. Die globale Anerkennungsquote des OFPRA, des Pendants zum deutschen Bundesamt für Migration, lag bis vor kurzem bei rund 18 Prozent, aufgrund der syrischen Flüchtlinge stieg sie um gut fünf Prozentpunkte.

Vor fünfzehn Jahren unterhielt das Rote Kreuz ein großes, fast 2.000 Menschen umfassendes Camp mit sanitären Einrichtungen in Sangatte, einige Kilometer westlich von Calais. ((Vgl. dazu http://jungle-world.com/artikel/2002/25/23745.html)) Damals war es auch noch relativ einfach möglich, sich in einen LKW oder auf eine Fähre zu schmuggeln und bis nach England mitgenommen zu werden. Die damaligen Innenminister auf französischer und britischer Seite, Nicolas Sarkozy und Jack Straw, ordneten im November 2002 die ersatzlose Schließung des Lagers an. Es ging darum, einen Autoritätsbeweis durchzuführen und Flüchtlingen zu signalisieren, dass unkontrollierte Durchreise nicht akzeptiert wird. Daraufhin bildeten sich als „Jungles“ bezeichnete, „illegale“ Camps in den Wäldern rund um Calais. In den letzten Jahren wurden auch sie nacheinander geräumt. Jetzt besteht ein vergleichsweise großes, zwischen 5.000 und 6.000 Menschen fassendes Slumviertel außerhalb der Stadt, auf der anderen Seite des mit dreifachen Stacheldrahtzäunen umgebenen Hafenbeckens. Die Zahl der Bewohner-innen wuchs deutlich an, weil es aufgrund der Kontrolltechnologien immer schwerer wird, nach England zu kommen.

Auf diese Weise wurde ein „Brennpunkt“ geschaffen, den es nur aufgrund der Politik der Grenzschließung gibt, bei der Frankreich ein vorgelagertes Grenzregime für Großbritannien übernimmt (ähnlich, wie Marokko oder Tunesien, früher auch Libyen es für die „Festung EU-Europa“ taten oder tun). Aber in der Stadt Calais schuf er einen magnetischen Anziehungspunkt für Fantasmen und Angstgefühle.

Beim Zeitungs- und Zigarettenladen lässt eine ältere Dame ihrem Hass freien Lauf. Erst geht es um Flüchtlinge, dann um Ausländer generell. „Im Krankenhaus werden DIE“ – den Artikel heftig betonend – „immer vorrangig behandelt. Ständig muss man wegen denen auf eine Warteliste. Sie fügen sich Verletzungen zu und besetzen dann die Krankenstationen, unsere Leute haben das Nachsehen. Viele von denen habe ich im Rollstuhl gesehen. Ich kann Ihnen sagen: Die haben sich nicht beim Arbeiten verletzt, nicht beim Arbeiten!“ Diesen Satz unterstreicht sie hörbar. Die Verkäuferin nickt bedeutungsschwer. Zwischenzeitlich steht seit längerem Ali, ein ungefähr sechzigjähriger Marokkaner, um Zigaretten an. Das Gespräch ist keine Sekunde lang verstummt, nachdem er eintrat.

Später meint Ali, solcherlei Aussprüche hätten sich derart normalisiert, dass niemand mehr vorsichtig sei. Das Klima habe sich rassistisch aufgeladen. Aber schon früher, meint Jean, ein Aktivist einer mit Flüchtlingen solidarischen Initiative, habe eine Abwehrhaltung gegenüber den als bedrohlich wahrgenommenen Migranten zur vermeintlichen Normalität gehört. Während die französische KP landesweit klar antirassistische und gegenüber Migranten solidarische Positionen einnahm, ging sie in ihrer Kommunalpolitik vor Ort anders damit um, meint Jean-Pierre. Ihr letzter Bürgermeister, Jacky Hénin, habe den Konservativen Sarkozy 2002 für seine Schließung von Sangatte öffentlich gelobt und ihn als „besten Innenminister seit Kriegsende“ bezeichnet. Heute bereue er dies. Als Oppositionspolitik empfängt er nun die linken No Borders-Aktivist-inn-en, die die Flüchtlinge unterstützen kommen, in seinen Räumlichkeiten.

Auch zu sozialen Themen, mit wirtschaftlichen Versprechungen machte Marine Le Pen hier Wahlkampf. In Calais lautet einer ihrer sichtbarsten Wahlkampfsprüche, der vielerorts prangt: „Les services publics avec Marine“ – Mit Marine für die Beibehaltung öffentlicher Dienstleistungen. Viele Einrichtungen im Gesundheitsbereich oder Postämter sind hier bedroht: Calais ist die fünft ärmste französische Großstadt. Tausende von Jobs gingen hier in den letzten anderthalb Jahrzehnten verloren. Eine große Demonstration fand im Frühjahr 2001 statt – der Verf. dieser Zielen war dabei -, als Danone sein Werk in Calais schloss, um seinen Börsenkurs zu stützen. // Vgl. http://jungle-world.com/artikel/2001/18/25860.html // In ganzen Stadtteilen machten alle Geschäfte während des Protestzugs aus Solidarität dicht. Es half nicht gegen die brutale Politik des Unternehmens. Seitdem haben viele Strukturen sozialer Solidarität wie Gewerkschaften und Linksparteien, auch Vereine an Verankerung eingebüßt.

Extreme Rechte geht in der Stichwahl zurück

Nicht alle lassen sich hängen. Véronique ist eine Dichterin, die in Schulen Vorträge hält und zur Unterstützung der Flüchtlinge aufruft. Zwar schlägt ihr Ablehnung gegenüber, aber sie meint, die Kinder und Jugendlichen würden ihren Eltern nachreden. Auf die Dauer bewege sie jedoch diese jungen Menschen zum Nachdenken. Virginie unterhält ein Projekt mit einer Schule in einer Nachbarstadt: Die Kinder im Flüchtlingslager malen Postkarten für die Schulkinder, diese senden Postkarten zurück. Ein kleiner Beitrag für Solidarität und Humanität vor Ort. Aber offensichtlich teilen doch noch viele Menschen solche Ideale.

An diesem Sonntag ging der Stimmanteil der extremen Rechten hier in der Stichwahl zurück, auf 44,9 Prozent, während er andernorts leicht anwuchs. Dies war ein Ergebnis stärkerer Mobilisierung des gegen den FN opponierenden Teils der Bevölkerung – die Wahlbeteiligung kletterte hier um überdurchschnittliche gut fünf Prozent. Viele Menschen wie der junge Kneipengänger Casimir hatten sich gesagt: Eine Hochburg des FN, nein, das wollen wir nicht werden. Casimir ging nur deswegen wählen, ohne vom konservativen Gegenkandidaten zu Marine Le Pen im geringsten überzeugt zu sein. Am Sonntag glaubte er noch, dass es zwar wichtig sei, sich so zu entscheiden, dass die extreme Rechte aber die Region dennoch gewinnen werde. Am Abend sah es anders aus.