Sterbehilfe und Judentum

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Schacharit Jom  Kippur 5776 / 2015…

Von Rabbiner Dr. Tom Kučera

Ich frage mich, was uns am Jom Kippur mehr bewegt: die Worte des Machsor in unseren Händen oder die Melodien in unseren Ohren? Dahinter steht die Diskussion, ob wir mehr von unseren Gedanken oder Gefühlen bestimmt werden. Die Vernunft wurde seit der Aufklärung immer ins Zentrum geschoben. Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums wurde erst 1872 in Berlin begründet. Dennoch zeigt die moderne Hirnforschung, dass es keine puren Vernunftsentscheidungen ohne die kräftige Beteiligung unserer sogar unbewussten Gefühle gibt. Ein Beispiel dafür ist der Einfluss der Werbungen auf unser Verhalten. Auch wenn wir diesen vehement abstreiten, die statistische Auswertung der klugen Experimente spricht für sich. Wie für vieles in unserem Leben entspricht auch dieses Ratio-emotio-Dilemma der alten talmudischen Weisheit elu we´elu diwrej Elohim chajim, diese und auch diese sind die Worte der Wahrheit des Lebens. Unser Eindruck von Jom Kippur besteht aus Worten, deren Wirkung die Melodien vertiefen, möglicherweise bewirken. Darum ist die Anwesenheit unseres Chores bei den Hohen Feiertagen ein Muss. Darum sind wir unserem Kantor und Pianisten für ihre musikalische Prägung dankbar.

Kantor Nikola David hat die CD Kol simra herausgegeben, die Sie alle im Büro von Beth Shalom bestellen können. Das erste Lied gehört zu den Sselichot-Gebeten am Jom Kippur. In der rührenden Melodie von Louis Lewandowski werden die Psalm-Worte Al taschlichenu gesungen, wirf uns nicht weg. Wir haben sie vor einem Augenblick gehört. Die zweite Zeile ist in der Mehrzahl, im Psalm-Original jedoch in der Einzahl (Ps 71:9): Al taschlicheni le´et sikna, wirf mich nicht weg zur Zeit des Alters, kichlot kochi al ta´asweni, wenn meine Kraft schwindet, verlasse mich nicht.” Gibt es rührendere Worte als diese, die nicht nur unser Alterwerden, sondern auch die möglichen Krankheiten ansprechen, wenn unsere Kraft, koach, schwindet? Dabei denke ich auch an David Gall, sichrono liwracha, an dessen ersten Jahrzeit wir uns vor einigen Monaten erinnerten.

Wenn irgendjemand von Chasal, unseren Weisen spricht, meint er die Rabbiner des Talmud, des grundlegenden Werkes des jüdischen Denkens in 63 Traktaten aus dem Jahre 500 n.d.Z. Der Talmud liefert uns einige Geschichten, die uns zeigen, was kichlot kochenu bedeuten mag, wenn unsere Kräfte schwinden. Einmal erzählte ich schon die Geschichte von Rabbi Jochanan, der den Räuber Resch Lakisch zum gelehrten Rabbiner machte, ihm seine Tochter gab, ihn in einem Streit verbal so tief verletzte, dass Resch Lakisch vor Kummer starb. Rabbi Jochanan schrie so lange nach dem Verstorbenen, bis er seinen Verstand verlor. Aber jetzt kommt der entscheidende Satz: „Da flehten seine Schüler um rachamim, Erbarmen, und er starb.” (BM 84a) Die Schüler hatten Mitleid mit der unerträglichen Situation ihres Lehrers und beteten, dass er stirbt, was auch geschah. Gleich fragen wir uns: Hat Rabbi Jochanan auch körperlich gelitten, oder konnten die anderen seinem Verlust der kognitiven Fähigkeiten nicht mehr zusehen? Ab welcher Krankheitsstufe darf man um den Tod der (aus unserer Sicht) Leidenden bitten? Natürlich haben die Schüler bis auf das Gebet gar nichts Physisches unternommen. Reicht aber das Gebet, um den Körper zu beeinflussen? Es gibt zwei Geschichten unserer Weisen, die es belegen, dabei jedoch auf die umkehrte Situation hinweisen, auf die Abwesenheit des Gebetes, um den Tod zu erreichen.

In der ersten Geschichte kommt zu Rabbi Jossi Chalafta eine Frau und sagte: „Rabbi, ich bin sehr alt geworden. Das Leben ist mir zuwider. Ich finde keinen Geschmack mehr an Essen und Trinken. Ich würde gerne aus dieser Welt scheiden.” Rabbi Jossi sprach zu ihr: „Gehe an drei aufeinander folgenden Tagen nicht in die Synagoge.” Das tat sie, am dritten Tage wurde sie krank und starb. (Jalkut Schimon, Ekew 871). Gleich kommen unsere Fragen: Wie konnte der Rabbiner der Dame ein Mittel, obwohl ein abstraktes, zum Sterben verabreichen, wenn sie erst mal gar nicht krank, nur lebensmüde war? Diese Frage beantwortet der Talmud nicht.

Die Hauptfigur in der zweiten talmudischen Geschichte ist Rabbi Jehuda haNassi, der Autor der Mischna, des ersten rabbinischen Werkes in sechs Ordnungen vom 2. Jahrhundert n.d.Z.  Er war sehr krank und die Rabbanan ordneten ein Fasten an und flehten um rachamim, Erbarmen. Diesmal jedoch, damit er nicht stirbt. Das vermuten wir wegen des folgenden Satzes: „Die Rabbanan bestimmten: Wer da sagt, Rabbi Jehuda sei verschieden, werde mit einem Schwert niedergestochen.” Es ist eine radikale Sprache, die wir heute in einer anderen, obwohl auch radikalen Form finden, wenn von keduschat chajim gesprochen wird, der Heiligkeit des Lebens. Viele behaupten, sie setze persönliche Freiheit außer Kraft. Darum sollen wir nicht die Möglichkeit haben, unser Sterben zu beeinflussen. Was aber, wenn zu der Situation kommt, wo die Heiligkeit des Lebens schwer zu erblicken ist? Ein konkretes Beispiel ist der in Frankreich bekannte Name von Chantal Sébire, die an einer äußerst seltenen Tumorerkrankung litt, die ihren ganzen Kopf entstellte und bei der keine Schmerztherapie wirkte. Weil ihr keiner helfen wollte, half sie sich selbst im März 2008 mit Barbituraten. Oder der deutsche Schriftsteller Wolfgang Herrendorf, der Autor vom niedlichen Roman tschick. Gegen seinen aggressiven Hirntumor half auch keine Schmerztherapie mehr. Weil er sich gegen die terminale Sedierung entschieden und er keine andere Möglichkeit angeboten bekommen hatte, hat er sich selbst am Ufer des Berliner Hohenzollernkanals mit einer beschafften Pistole im August 2013 geholfen. Die große Frage dabei ist: Haben die beiden richtig gehandelt oder nicht?

Der Selbstmord ist im Judentum verboten und wird höchstens bedijawad, nach der Tat, posteriori, toleriert, jedoch nie lechatchila, von Anfang an, a priori, akzeptiert. Denken wir bloß an die Selbstmorde im Warschauer Getto oder viel früher in Massada, die immer erzählt, aber nie moralisch verurteilt werden. In Massada finden sogar die Militärschwüre statt. Warum wird dann die Gewalt historischer Umstände nicht mit der Gewalt unheilbarer Krankheiten der Gegenwart verglichen? Nach wie vor bleibt unsere Empathie mit dem Leiden und den Leidenden. In der erwähnten Geschichte von Rabbi Jehuda, für dessen Genesung die Rabbanan beten und keinen Gedanken an seinen Tod zulassen, taucht das Dienstmädchen von Rabbi Jehuda auf. Sie ist zunächst auf der Seite der Rabbanan. Je mehr sie aber sein Leiden sieht, desto mehr ändert sie ihre Einstellung, bis sie eines Tages handelt: Sie steigt auf das Dach und wirft einen Krug herunter. Der Krach des zerbrechenden Kruges störte die Rabbanan bei ihrem Gebet für die Genesung von Rabbi Jehuda. Sie hörten mit ihrem Gebet auf, und die Seele von Rabbi Jehuda kehrte zur ewigen Ruhe ein (Ket 104a). Was in dieser Geschichte extrem problematisch bleibt, ist, dass das Dienstmädchen niemanden fragt und ihre subjektive Überzeugung ohne jedes Feedback von außen verwirklicht. Wenn wir von diesem Problem absehen, können wir feststellen, dass die Magd das Hindernis des Todes entfernt hat. Wir können modern sagen, sie habe die passive Sterbehilfe durchgeführt. Allerdings hat sie dabei aktiv gehandelt. Weil dieses Adjektiv irreführend ist, wird die passive Sterbehilfe rechtlich als die Nichteinleitung oder Nichtfortsetzung lebenserhaltender Maßnahmen definiert.

Dies ist in Deutschland mit dem Patientenverfügungsgesetz seit September 2009 sichergestellt, auch wenn wir von Ärzten hören, die sich gegen dieses Gesetz sträuben und dessen Gültigkeit nicht wahrhaben wollen. Das Patientenverfügungsgesetz betont, dass der Wille des Patienten entscheidend ist und respektiert werden muss, wenn es um Verzicht auf zusätzliche Operationen und Therapien geht, um ein Ausschalten des Herzschrittmachers, der Atemmaske oder des Dialysegeräts oder um Verzicht auf Essen und Trinken. Was sagt unsere Tradition dazu? Die klassische jüdische Vorstellung spricht sich gegen die Beschleunigung des Todes aus. Nach der Halacha, dem jüdischen Gesetz, darf nicht einmal ein Kopfkissen entfernt werden, wenn es zum Tod führen sollte (YD 339:1). Das käme dem Blutvergießen gleich. Dennoch wird gleichzeitig die Erlaubnis gegeben, eine Sache (zum Beispiel Salz auf der Zunge) zu entfernen, die den Tod hinauszögert. Dies wird nicht mehr als aktive Handlung, sondern lediglich als eine Entfernung des Todeshindernisses angesehen (Rama zu YD 339:1). In diese Spannung hinein ist das Patientenverfügungsgesetz anzusetzen. Der Tod darf nicht direkt bewirkt werden. Aber die Ursache für das Hinauszögern des Todes darf entfernt werden. In diesem Sinne haben wir alle unabhängig vom Alter die Möglicheit, die Patientenverfügung auszufüllen. Das entsprechende Gesetz ist in Deutschland kein Thema mehr. Was jedoch zu diesen Tagen in Bundestag diskutiert wird, ist die Frage, ob etwas mehr erlaubt sein sollte. Was ist dieses mehr?

Ich empfehle Ihnen den deutschen Film „Hin und Weg”, der ziemlich unbeachtet neben den Hollywood-Reißern in den Kinos letztes Jahr lief. Der Hauptdarsteller ist der Münchener Florian David Fitz, der im Film als Hannes mit der Gruppe seiner Freunde wie jeden Sommer eine Fahrradtour organisiert. Diesmal soll es nach Belgien gehen. Am Vorabend der Reise erfahren alle Teilnehmer, auch seine Frau und sein Bruder, dass es für Hannes keine Hin-und-Rück-Reise sein wird, sondern eine Hin-und-Weg-Reise. Es wurde bei ihm die ALS-Krankheit diagnostiziert, bei der er langsam, aber sicher die Koordination und die Bewegungen, das Herunterschlucken und schließlich das Atmen verlieren wird. Weil er diesen klar vorbestimmten Weg nicht gehen will, wird ihn ein Arzt in Belgien vom Gehen dieses Weges mit einer Giftspritze abhalten. Im Film sehen wir die aufgeregten Gespräche mit seiner ratlosen Frau, jedes Detail des Abschiednehmens bis zu letztem Atem von Hannes. Ich war von diesem Film sehr bewegt, was mich wiederum erschreckt hat, weil ich empört sein müsste. Die aktive Sterbehilfe, wie sie in dem Film dargestellt wird, also das Töten auf Verlangen, ist nicht nur im Judentum verboten, sondern auch in den meisten europäischen Ländern, die Schweiz inklusive. Lediglich Holland und Belgien erlauben die aktive Sterbehilfe. Wie konnte mich also dieser Film bewegen? Es war eine ähnliche Überraschung über die eigenen Gefühle, als ich vor meinem Abitur die Schuld und Sühne von Dostojewski gelesen hatte und am Ende erschrocken darüber war, dass ich mental auf der Seite vom Täter Raskolnikow stand. Wie konnte ich ein positives Sentiment für den Film „Hin und Weg” haben? Die Antwort, die ich mir gebe, ist die Wahrnehmung der enormen Schmerzen, die endgültig zum Tod führen. Die Schmerzen sind im jüdischen Denken nie willkommen. Wir vernehmen gelegentlich Stimmen, die vom „Privileg der Schmerzen” sprechen, die einen läuternden Effekt haben sollen. Aber die meisten Halachisten sehen keine Akzeptanz der großen Schmerzen. Sogar diejenigen, die gegen jede Sterbehilfe sind, räumen ein, dass bei unerträglichen Schmerzen lebensverlängernde Maßnahmen vorenthalten werden können (David Bleich).

Der letzte Artikel von Ralph Giordano vor seinem natürlichen Tod letzten Dezember (2014) war sein Plädoyer für die aktive Sterbehilfe, die er bei seiner über alles geliebten Frau organisierte, die auf diese Weise 1984 mit Metastasen im Hirn starb: „Das Allerschlimmste, das Unschilderbare, das Sterben in der Schmerzapokalypse, für die es keine Worte gibt, war ihr erspart geblieben. Der ‚Helfer‘ hatte sich nach Recht und Gesetz schuldig gemacht. Ich habe es ‚Erlösung‘ genannt, für die es keine Alternative gab.” Auch wenn ich diese emphatischen Worte nachvollziehen kann, genauso wie den Ablauf des Filmes „Hin und Weg”, positioniere ich mich trotzdem gegen die aktive Sterbehilfe, weil ich eine Lösung extremer Fälle woanders erblicke: in dem assistiertem Suizid, also der Beihilfe zur Selbsttötung, bei der nicht der Arzt, sondern die Person selbst mit ärztlicher Hilfe tätig sein muss. Dies wird in der Schweiz praktiziert. Dieser Weg fordert natürlich eine genaue Diskussion über die Rahmenbedingungen und die Ablaufkriterien. Letztendlich spiegelt diese Lösung meine Wahrnehmung für den kantianischen Unterschied zwischen „an sich” und „für mich”. Es fällt leicht, „an sich” zu sagen, dass jede Sterbehilfe verboten ist, weil jedes Leben heilig ist. Aber „für mich”? Es ist meine ehrliche und bejahende Antwort auf die komplexe Frage: Wenn ich wüsste, dass ich eine terminale Krankheit hätte, bei der ich zusätzlich die Selbstkontrolle verlieren würde, wenn ich nicht mehr wüsste, wer ich bin und ohne jede Selbstbewusstheit dahinvegetieren müsste, würde ich nicht lieber im Voraus  „für mich” durch eine Tat dieses (aus meiner subjektiven Sicht) Nichtleben verhindern wollen? Ich bin mir dessen bewusst, dass ich in diesem Beispiel über das Argument der unerträglichen Schmerzen hinausgehe, in das Gebiet des schmerzlosen Von-Sich-Nicht-Bewusstwerdens.

Woody Allen sagte: „Ich habe keine Angst zu sterben, ich möchte nur nicht dabei sein, wenn es passiert.” Tatsächlich zeigen die Untersuchungen, dass die Menschen weniger Angst vor Sterben haben als vor Verlust der Selbstständigkeit (91%), der Würde (81%) und der Kontrolle (50%). Es sind die Ängste, dessen entgegengesetzes Ideal im jüdischen Denken im Begriff kawod habriot, die Ehre des Geschaffenen, zu finden wäre. Heute spricht man von der Menschenswürde. Oder bezelem Elohim, im Abbild Gottes wurde der Mensch geschaffen. Es ist eine enorme Spannung in den Überlegungen, ab wann ein Leben seine Würde, kawod, einbüßen könnte. Die Heiligkeit des Lebens, keduschat chajim, wird als ein Hammerargument gegen jede Sterbehilfe benutzt. Ich stelle mir persönlich die Frage: Könnte ich mir nicht vorstellen, dass ich unter unerträglichen Gesundheitsumständen und im Glauben an die keduschat chajim, Heiligkeit des Lebens, und im Glauben an bezelem Elohim, dass ich im göttlichen Abbild geschaffen wurde, sagen würde: „Lieber Gott, weil ich daran glaube, im tiefsten Vertrauen zu Dir und in der immer ausgeübten Dankbarkeit, gebe ich dir mein Leben zurück?” Mit dieser für mich offenen Frage möchte ich auch enden.

Am Donnerstag 24. September startete in allen deutschen Kinos bundesweit einer der erfolgreichsten israelischen Filme der letzten Zeit: Am Ende ein Fest (The Farewell party), auf Hebräisch Mita towa, ein guter Tod. Er handelt von einer Gruppe Senioren, die ihrem schwerkranken Freund das Sterben erleichtern helfen. Da ihn aber keiner töten möchte, bauen sie eine Maschine, mit der er sich selbst töten kann. „Bald schon ist diese Maschine in aller Munde, und Menschen aus ganz Jerusalem strömen zu dem Altersheim, um ihre Liebsten von ihren Leiden zu befreien.” Ich schlage vor, dass wir ihn bald im Kino sehen und dass wir uns zu einer Diskussion dieses Films und dieses kontroversen Themas treffen.