Ein Ärgernis, ein Innehalten: Die SWR2-Stolpersteine

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Die Stolpersteine zum Hören von SWR2 sind der Versuch, die große Geschichte zu verbinden mit der kleinen eines einzelnen Menschen…

Von Elske Brault

Das Bemühen, die Aussagen von Zeitzeugen oder zumindest Nachfahren der Betroffenen einzubinden, bringt ein Erzählen in Gang, das wohl besser sofort nach 1945 hätte stattfinden sollen, aber tatsächlich häufig bis heute nicht stattfindet. Die Schuld der Täter, die Schmerzen der Opfer waren zu groß, als dass man miteinander hätte ins Gespräch kommen können. Und meistens, so zeigt sich in den kleinen Radiogeschichten, lebten Täter und Opfer Tür an Tür im selben Dorf, geht der Riss mitten durch eine Familie oder vermischen sich Täter- und Opferrolle in einem Menschen.

„Das war ein Tabuthema in der Familie“, sagt Silvia Haid über die Cousine ihrer Mutter, Maria Leins. Sie hat diese Maria nie kennengelernt – die junge Frau starb mit 23 Jahren im KZ Ravensbrück. Sie war bereits mit 18 Mutter eines unehelichen Kindes geworden, mit 21 küsste sie vor dem Gasthaus ihrer Eltern einen polnischen Zwangsarbeiter, wurde von einem Nachbarn denunziert und landete zunächst in einem Arbeitserziehungslager. Deutlich wird in der Erzählung von Silvia Haid, dass Marias Eltern an dem weiteren Schicksal ihrer Tochter nicht ganz unschuldig waren. Als angesehene arische Gasthausbesitzer in der kleinen Gemeinde Horb hatten sie Repressalien kaum zu fürchten, sie hätten sich wohl für eine rasche Freilassung Marias einsetzen können, bevor diese in den Mühlen der NS-Verwaltung weiter nach unten wanderte ins Frauen-KZ. Wir können nur spekulieren, warum sie es nicht taten.

Silvia Haids Begründung, quasi die offizielle Familienlegende, lautet, man habe Angst gehabt um Marias jüngere Schwester. Wahrscheinlicher ist, dass die Eltern keine rechte Vorstellung von den Verhältnissen im Lager hatten und glaubten, dort würden der sinnen- und lebensfrohen Maria mal richtig die Leviten gelesen. Angst um die jüngere Tochter mag zusätzlich eine Rolle gespielt haben, aber wohl eher dergestalt, dass man Marias entehrenden Einfluss auf das Mädchen fürchtete. Es entbehrt nicht einer bitteren Ironie, dass eine Lagergenossin aus Ravensbrück nach Kriegsende Marias Familie aufsuchte und andeutete, die 23-Jährige habe sterben müssen, weil sie sich dem Lagerbordell verweigert hatte. Die offizielle Todesursache lautet „Lungentuberkulose“: am 27. Februar 1945, also zwei Monate, bevor Ravensbrück aufgelöst wurde.

Rückblickend erscheint uns heute der Tod unmittelbar vor Kriegsende besonders „ungerecht“ oder widersinnig. Die französischen Kriegsgefangenen René Billet, Albert Lafoy und Marcel Couasnard werden im Weinort Fellbach am 3. April 1945 vom örtlichen Volkssturm erschossen. Sie hatten bei Familien in Fellbach gewohnt: Billét half beim Weinanbau, Couasnard arbeitete in seinem gelernten Beruf als Schuhmacher und spielte nebenbei Saxofon in einer Unterhaltungskapelle. Sie waren voll integrierte Bürger der Gemeinde, und viele in dieser Gemeinde warteten sehnsüchtig auf die Ankunft der amerikanischen Truppen. Couasnard beging den Fehler, beim abendlichen Treffen mit seinen Heimatgenossen in der Dorfkneipe etwas zu laut zu äußern, der Volkssturmführer werde wohl als erstes am Kirchturm baumeln, wenn die Amerikaner endlich kämen. Bloß: Noch waren sie nicht da. Volkssturmführer Hermann Weissbarth ließ die drei Franzosen standrechtlich erschießen und auf dem Auffüllplatz verscharren. Dafür verurteilte die französische Militärregierung ihn 1945 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe, doch Weissbarth wurde bereits nach sechs Jahren begnadigt und lebte ab 1952 wieder am angestammten Ort, in Fellbach-Schmiden. Bedenkt man, dass dies nur ein Beispiel unter tausenden ist, bekommt der Wolfgang-Staudte-Filmtitel „Die Mörder sind unter uns“ eine ganz neue Bedeutung.

„Ist ja klar, konnte doch gar nicht anders sein, ist doch selbstverständlich“, mag jetzt mancher ausrufen. Aber es macht einen großen Unterschied, ob die personelle Kontinuität in deutschen Behörden und zahlreichen Führungspositionen nach 1945 als historische Tatsache bloß zur Kenntnis genommen oder anhand eines einzelnen Schicksals fühlbar wird. Im besten Falle, und dieses Optimum streben die Autorinnen und Autoren an, sind die Geschichten so erzählt, dass deutlich wird: Auch in der Vernichtungsmaschinerie der Nazis entschieden konkrete Handlungen Einzelner über Tod oder Leben. Ob einer rechtzeitig vor der bevorstehenden Festnahme gewarnt wurde. Ob der leitende Arzt einer Pflegeeinrichtung Patienten mit leichterer Behinderung nach Hause entließ, weil er vom Euthanasieprogramm wusste. Ob es den Verwandten in den USA gelang, das Geld für die Ausreise zusammenzukratzen. Der Denunziant lebte nach 1945 friedlich weiter, der Arzt blieb Arzt, die Verwandten in den USA machten sich schreckliche Vorwürfe, dass sie das ferne Familienmitglied nicht vor der Ermordung gerettet hatten.

Die kurz vor Kriegsende gestorbenen Opfer der NS-Diktatur, Menschen wie Maria Leins oder Marcel Couasnard konnten nicht ahnen, wie nah der Systemwechsel bevorstand. Was heute für uns Geschichte ist, war für sie Gegenwart. Wahrscheinlich hat Marcel in seinen letzten Lebensminuten sehr bedauert, nicht leiser gesprochen zu haben. Vielleicht hat Maria überlegt, dass sie mit ihrem Roman immer noch zusammen sein könnte, wenn sie ihn nicht auf der Straße vor der Wirtshaustür geküsst hätte. Auch wir machen uns täglich solche Gedanken. Mit einem entscheidenden Unterschied: Wenn wir etwas Unpassendes sagen, verlieren wir schlimmstenfalls unseren Job, wenn wir öffentlich den Falschen küssen, unseren guten Ruf.

Für die meisten Deutschen war der 8. Mai 1945 schlicht eine Veränderung der politischen Vorzeichen, ohne dass dies auf ihre moralische Haltung großen Einfluss genommen hätte. Einige besonders brave baden-württembergische Finanzbeamte versuchten noch in den 50er Jahren, von zurückgekehrten Emigranten die vor 1945 angefallene „Reichsfluchtsteuer“ einzutreiben. Mit Enteignung hatte die Verfolgung der Juden 1933 begonnen, nach 1945 hielten deutsche Beamte das Vermögen fest zusammen, auch wenn das Deutsche Reich nun Bundesrepublik hieß.

Ein Beispiel dafür ist der Dentist Max Ruf: Er prozessiert vergeblich für eine Rückgabe seines Hauses in der Freiburger Innenstadt. Die mit dem Verfahren befasste Badische Restitutionskammer stellt zwar fest, dass Max Ruf als Jude gefoltert, denunziert und verfolgt wurde, die Gründe für den Verkauf des Hauses weit unter Wert seien dann aber doch wieder andere gewesen. „Es ist so, dass es einen erstaunt, mit welcher Akribie die Wiedergutmachungsbehörden in den 50er Jahren und auch noch in den 60er Jahren gearbeitet haben, wie mit aller Kraft und aller juristischen Kompetenz versucht worden ist, die Ansprüche dieser Opfer, dieser überlebenden Opfer abzuwehren“, sagt die ehemalige Bibliothekarin Silvia Böhm-Steinert. Sie ist eine jener zahllosen Regionalgeschichtsforscherinnen der Stolperstein-Initiativen, deren Arbeit die SWR2-Stolpersteine zum Hören ermöglicht haben.

Diese Stolperstein-Initiativen, der Samen, den der Künstler Gunter Demnig gesät hat, ist in einem Maße aufgegangen, dass Demnig nun mit dem Verlegen der Steine gar nicht mehr hinterherkommt. Er ist zu einem Sklaven seines eigenen Werkes geworden, in seiner Rolle als Identifikationsfigur für hunderte von engagierten Ortsgruppen erstarrt. Wenn Gunter Demnig sich jetzt wenig empfänglich zeigt für Kritik und kaum bereit zu Auseinandersetzungen, so sicherlich auch deswegen, weil sein Ruhm, seine gesellschaftliche Anerkennung sich seit 20 Jahren auf die Stolpersteine gründet und sein künstlerisches Ego sich somit auf keine anderen Erfolge stützen kann.

Solch nachvollziehbare menschliche Schwäche sollte jedoch nicht verdunkeln, dass Demnigs Idee nach wie vor brillant ist: Menschen erforschen den Alltag der NS-Zeit in ihrer alltäglichen Umgebung. Dort nämlich treffen die Erkenntnisse empfindliche Punkte bis heute: Der Mann, der die Fluchthelferin Gertrude Luckner verriet, wird von der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg nach wie vor als Ehrensenator geführt. Die Bäckerei, aus der die Familie Seligmann vertrieben wurde, ist auch heute noch eine Bäckerei in Heidelberg, im Besitz jener Familie, die von der Enteignung der jüdischen Vorbesitzer profitierte und dann selbst zu leiden hatte unter den schwierigen Bedingungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre.

Um die Bäckerei wurde konkret gestritten, die aus Uruguay zurückgekehrten Seligmanns glaubten in den sechziger Jahren, ein Anrecht auf die Rückgabe zu besitzen. Doch es ist eher die Ausnahme, dass betroffene Familien in direkten Kontakt miteinander getreten sind. Die 68er-Generation demonstrierte auf der Straße gegen die Kriegsgeneration, aber das persönliche Gespräch am Küchentisch, „Wo warst du, Mutter, Vater, als Hitler an der Macht war?“, dieses Gespräch fand nicht statt.

Der Stimme im Radio ist es anzuhören, welche Schmerzen das Schweigen bedeckt, wie heftig der unbewältigte Teil der Familienlegende in den Seelen der Menschen bohrt. Silvia Haid bricht die Stimme, als sie schildert, ihre Großmutter habe Maria Leins unmittelbar nach deren Festnahme in ihrer Zelle singen hören – dies sei das letzte Lebenszeichen von ihr gewesen.

Für manche Hörer, selbst für manche Redakteure von SWR2 ist so viel Emotion schwer erträglich. Bestimmt schalten einige wegen eines Stolpersteins aus oder um auf ein seichteres Programm. Und bestimmt gäbe es an dem einen oder anderen Beitrag, an der einen oder anderen Formulierung etwas auszusetzen. Die Stolperstein-Macher von SWR2 sind nicht perfekt, sie sind nur Menschen.

Die „SWR2 Stolpersteine“ bringen Menschen zusammen in dem aufrichtigen Bemühen, das Verständnis für- und den Respekt voreinander zu erhöhen. Wer die Geschichten, die wir erzählen, ernst nimmt, wird einen Menschen mit Behinderung, einen Obdachlosen, eine seltsam gekleidete oder seltsamen Ritualen folgende Person anders bewerten und behandeln. Einst wurden sie ausgegrenzt und ermordet, um Ordnung zu schaffen. Wie viel Unordnung, welche Vielfalt kann Deutschland im Jahr 2014 ertragen? Die ARD will Generationen miteinander ins Gespräch bringen, um ein Lernen aus Fehlern, um Weiterentwicklung zu ermöglichen. Und sie will zeigen, dass Geschichte nur begriffen werden kann im persönlichen Erleben: Das nächstes Projekt zum Thema wird „Auschwitz und ich“ heißen.

Elske Brault hat an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Neuere und Neueste Geschichte studiert (bis WS 1988/89). Sie war 1996–2002 Mitarbeiterin der Reportereinheit von NDR2, arbeitete für das Bremer Fernsehmagazin „Buten un Binnen“ und ist seit 1998 als Theaterkritikerin tätig. Bevor sie zu SWR2 wechselte, war sie Redakteurin für NDR Kultur in Hannover.

Im Radioprogramm SWR2 und auf der Internetseite SWR2.de/stolpersteine sind die Beiträge zu hören, Fotos und Dokumente ergänzen die Lebensgeschichten im Netz. Unter dem angegebenen Link kann man sich auch eine App herunterladen.